Ein verschwiegener Rebell – Zum 100. Geburtstag von Stanisław Lem

Der polnische Romancier Stanislaw Lem zählte zu den meistgelesenen Autoren der Gegenwartsliteratur, galt zudem als brillanter Essayist und Philosoph. Dennoch wird die Bedeutung seiner Werke bisweilen noch heute unterschätzt.

IMAGO / Eastnews

Mit großartigen Neuerscheinungen starteten die polnischen Verlage in das Lem-Jubiläumsjahr. Zum 100. Geburtstag des bekannten Schriftstellers wurden bereits unzählige Reden gehalten, Interviews geführt, Artikel verfasst. Beinahe könnte man den Eindruck gewinnen, dass dessen Werk erst jetzt als unerschöpfliche Quelle der Inspiration erkannt wurde. Dabei zählte Stanisław Lem schon zu seinen Lebzeiten keineswegs zu jenen Autoren, deren Namen dem Vergessen anheimgefallen oder nur noch wenigen Eingeweihten geläufig waren. Neben „literarischen Schwergewichten“ wie Witold Gombrowicz und Czesław Miłosz gehörte er zu den meistgelesenen polnischen Romanciers seiner Zeit. Lems Sterntagebücher sind nach wie vor hochaktuell und werden im Westen als eine Gipfelleistung der Science-Fiction-Literatur angesehen. Seine Texte sind weder verstaubt noch allzu verschlüsselt, im Gegenteil.

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Stanisław Lem kam am 12. September 1921 in Lwów zur Welt. Die heute zur Ukraine gehörende Stadt galt damals als eines der kulturellen Zentren der Zweiten Republik Polen, die günstige Bedingungen für die Entfaltung einer zeitgemäßen, lebendigen und den europäischen Einflüssen gegenüber aufgeschlossenen Literatur bot. In den Texten der Lemberger Autoren dominierten häufig universelle, philosophische und naturwissenschaftliche Motive, die den Medizinstudenten Lem gewiss nicht unbeeindruckt ließen. Außerdem war er durch den Einfluss der Familie politisch und kulturell sehr aufgeweckt. Der antikommunistische Lyriker Marian Hemar war sein Cousin. Der Einmarsch der Roten Armee (1939) sowie die spätere Besetzung Lembergs durch deutsche Truppen (1941) behinderten Lem an der Fortsetzung der akademischen Ausbildung. Einige seiner Verwandten wurden in Konzentrationslagern ermordet.

Nach dem Krieg lebte Lem in Krakau, wo er sich zunächst weiterhin der medizinischen Forschung verschrieb. Dem hochintelligenten Wissenschaftler wurde zu dieser Zeit allerdings auch schon literarisches Talent bescheinigt. Seine ersten Prosastücke errangen Achtungserfolge, wurden aber wegen der Zeitumstände lediglich am Rande wahrgenommen bzw. in ihrer Bedeutung unterschätzt. Schwierige Erfahrungen mit den Stalinisten durchzogen fortan die Biografie eines heranreifenden Autors, der zwar in der Volksrepublik zu bleiben gedachte, sich jedoch für die „innere Emigration“ entschied. Auch war Lem im Gegensatz zu anderen Schriftstellerkollegen nicht darauf erpicht, seine Erlebnisse und Leiden im Zweiten Weltkrieg schriftlich zu fixieren. Zumindest nicht unmittelbar.

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Ausgezeichnete Kenntnisse in Physik, Chemie und Philosophie ließen Science-Fiction zu der von ihm bevorzugten Literaturgattung werden. In seinem ersten Roman Die Astronauten (1951) stellt Lem in einem souveränen auktorialen Spiel mit seinen Helden grundlegende philosophische Fragen, die das Problem der Konfrontation des Verstands mit der Welt der Materie umkreisen. Schon zu dieser Zeit interessiert er sich für die teilweise dehumanisierenden Folgen des technischen Fortschritts und entpuppt sich als einfallsreicher Visionär. In dem Erzählband Kyberiade (1961) sowie dem Roman Die Stimme des Herrn (1968) warnt Lem in vielen anspielungsreichen Passagen vor einem uneingeschränkten Vertrauen auf die Entwicklung einer virtuellen Realität und vor Phänomenen, die wir heute vermutlich als „hybride Bedrohungen“ bezeichnen würden. Sein mehrfach verfilmter Roman Solaris (1961) untersucht die moralische Verantwortung des Menschen im Weltall. Das hauptsächliche Thema seines wohl bekanntesten Werks ist jedoch weniger die Begegnung des Protagonisten mit einer unbegreiflichen Lebensform, denn eine Auseinandersetzung mit sich selbst, eine qualvolle Annahme des Unvermeidlichen.

Diese zum Teil komplexen metaphysischen Fragen und universellen ontologischen Dilemmata waren für den ehrgeizigen Schriftsteller Fluch und Segen zugleich. Daheim von der sozialistisch geprägten Wissenschaft missachtet, von patriotischen Exilanten wiederum als „zu passiv“ verunglimpft, schmückten Lems Bücher in Paris, London und New York die Vitrinen unzähliger Buchhandlungen. Dabei waren seine Märchenallegorien und philosophischen Kurzgeschichten alles andere als unpolitisch. Stanisław Lem wählte bewusst eine Gattung, die zwar offiziell keinen politischen Strömungen ausgesetzt war, an der die Zensoren in Warschau aber dennoch verzweifelten. Konzessionen mussten in Polen nicht unweigerlich mit Kapitulationen einhergehen, zumal der Intelligenzunterschied zwischen den Machthabern und dem begnadeten Autor aus Krakau oft eklatant war. Darüber hinaus haben sich während des polnischen „Tauwetters“ bereits literarische Gegenbewegungen abgezeichnet, die der stalinistischen Kulturpolitik ablehnend gegenüberstanden. In den 1960er Jahren kam es folgerichtig zunächst zu zaghaften und getarnten, später auch offenen und stürmischen Revolten gegen die Marionetten von Moskaus Gnaden.

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Das Science-Fiction-Genre bot in diesem Zusammenhang eine Vielzahl an kreativen Möglichkeiten, politische Botschaften derart zu verschlüsseln oder allgemein zu formulieren, dass die Zensur keinen Einspruch erhob. Es entstand so etwas wie ein „geheimer Bund“ zwischen Lem und seinem heimischen Publikum, das auf eine Lektüre „zwischen den Zeilen“ angewiesen war. In einem Land, dessen Literatur zumeist mehr Pflichten als Freiheiten hatte, hatte dies bereits jahrhundertlange Tradition. Andererseits konnten die polnischen Zensoren – um den Wortschatz Klaus Kinskis zu bemühen – kaum allesamt eine „Bande von Idioten“ sein. Unter ihnen fanden sich nicht wenige enttäuschte und gescheiterte Literaten, die sehr wohl die Absicht des Autors fehlerlos errieten, jedoch gleichzeitig wussten, dass die Partei auf bekannte Schriftsteller angewiesen war. Nicht selten waren sie auch verkappte Regimekritiker, die insgeheim antitotalitaristische Tendenzen tolerierten. Wenn die Texte für die Zensoren allzu verschlüsselt gewesen wären, hätten sie übrigens auch nicht von der breiten Leserschaft begriffen werden können.

Wie dem auch sei: So paradox es klingt, das Ausweichen auf fantastisch-wissenschaftliche Themenbereiche hat den Karriereverlauf von Stanisław Lem im Westen zweifellos begünstigt. Zum einen vermittelten seine Prosastücke und Essays die verheerenden Folgen der kommunistischen Propaganda und zum anderen das Schicksal eines Individuums, das sich zu ihrem Werkzeug degradieren lässt. In Polen diente Science-Fiction ohnedies nur selten ausschließlich der Popularisierung von „Außerirdischen“ und „Unbekannten Flugobjekten“, sondern war vielmehr ein intellektueller Zufluchtsort für konservative Denker, die aus moralischem Protest gegen einen Unrechtsstaat zur Feder griffen. „Nur wenige von Lems Epigonen, unter ihnen Andrzej Sapkowski mit seinen ‚The Witcher‘-Romanen, gelangten später als Fantasy-Autoren zu Weltruhm. Die meisten von uns wurden allenfalls zu Verfechtern des konservativen Gedankens“, scherzt der polnische Journalist Piotr Gociek.

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Mögen einige Romane, Erzählungen oder Essays von Stanisław Lem noch als etwas rätselhaft oder unzugänglich erscheinen, so sollten sie möglicherweise auch unter den genannten historischen Gesichtspunkten gelesen, wahrgenommen und inszeniert werden. In den zuweilen abstrakten Handlungsabläufen lassen sich stets verschachtelte Erinnerungsskizzen und Zeitzeugenberichte eines von zwei grausamen Totalitarismen gezeichneten Autors finden. Wobei natürlich deren prophetische Dimension keineswegs außer Acht gelassen werden sollte. Lems Vision von einer Verbreitung multimedialer Information über ein weltweites Netz hatte den Literaturkritikern im Jahr 1956 noch ein müdes Lächeln abgerungen. Heute wissen wir: Die Entfaltung einer solchen Kunst verlangte damals nicht nur präzise Kenntnisse im Bereich der noch jungen Kybernetik, sondern gleichermaßen Scharfsinn und Intuition, ebenso wie ein Gespür für raffinierte optische Metaphern. In Zeiten der heutigen Informations- und Reizüberflutung (auch dies hatte Lem vorhergesagt) sollten wir einigen Trost aus dem Bewusstsein beziehen, dass es nie zu spät ist, Lerndefizite aufzuarbeiten. Das runde Geburtstagsjubiläum wäre ein guter Anlass, um damit anzufangen.

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Kommentare ( 8 )

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Melante
3 Jahre her

Danke für diesen Artikel! Als DDR- Kind habe ich Lems Bücher verschlungen, wahrscheinlich nur einen Bruchteil verstanden, aber Vieles begriffen ohne es zu verstehen. Wie angesprochen: Scifi- Literatur war damals eine Art Ausweg, etwas sagen zu können, was anders nicht möglich war. Erst vor wenigen Jahren erstand ich eines meiner liebsten Bücher wieder in einem Antiquariat, die Sammlung: „Aus dem Tagebebuch einer Ameise“. Mancher „Ossi“ kennt es vielleicht und erinnert sich an die Dekaber? Die brutal waren und ausgerottet worden sind, um die sanften Schäfchen zu erhalten- ohne zu sehen, dass das Männchen und Weibchen waren und mit der Ausrottung… Mehr

Trurl
3 Jahre her

Lem, Bradbury, die Strugatzkis … habe sie in meiner Jugend verschlungen und freue mich heute noch, wenn ich etwas neues von ihnen zum lesen entdecke.

P. Pauquet
3 Jahre her

Oh Ja, einer DER Autoren meiner Jugend. Mit den Einsteigern wie Solaris, Pirx und Tichy begann die Faszination für Lem. Verfilmungen u.a. im Besonderen von Tarkowsky rundeten das Interesse und das Verstehen, hinter den Spiegel gucken, ab. In diesem Rahmen möchte ich die Tarkowsky ( 2. Solaris Verfilmung ) Verfilmung “Stalker“ der Strugatzky Brüder erwähnen, die durchaus mithalten kann. – Für mich waren diese Literaten lange Zeit die Autoren des Mytischen der Phantasy- und SF-Literatur. Danke post hum.

horrex
3 Jahre her

Seit den späten 70ern schon hat Lem bei mir einen guten halben Meter im Regal. Direkte Nachbarn sind 1984 und Die schöne neue Welt. –
Das nur scheinbar Verrückte/Unmögliche zu denken samt allen seinen Implikationen, das macht für mich Stanislav Lem aus. –

Talleyrand
3 Jahre her

Ich habe seit meiner Jugend und bis heute immer wieder kolossale Lust und zum x-ten Male in seine Gedankenwelten einzutauchen. Ich glaube in meiner Bibliothek steht alles, was mir von dem, was er geschrieben hat zugänglich war. Trurl und Klapauzius, wie auch Ion Tichy (nicht zu verwechseln mit dem Zeitgenossen gleichen Nachnamens) sind unnachahmlich gezeichnete „Typen“ und die Rechenmaschine, einen ganzen Mond umfassend, die, übertölpelt, herausgefordert von Unlösbarem sich zum Beweis der Unschlagbarkeit von sich selber subtrahiert hat, bis sie unbemerkt an den point of no return kam und die Selbstvernichtung nicht mehr aufhalten konnte, erinnert mich stark an unsere… Mehr

Fulbert
3 Jahre her

„So paradox es klingt, das Ausweichen auf fantastisch-wissenschaftliche Themenbereiche hat den Karriereverlauf von Stanisław Lem im Westen zweifellos begünstigt.“ Das mag für andere westliche Länder gelten, für die Bundesrepublik gewiss nicht. Hier hatte Science Fiction – früher noch mehr als heute – ebenso wie die Genres Kriminalroman und unheimliche Literatur stets den Ruch des Trivialen, da konnten die Autoren noch so renommiert sein. Angestrengte Beschäftigung mit den gesellschaftlichen Verhältnissen und quälerische Vergangenheitsbewältigung galten und gelten als Gipfel literarischen Schaffens, selbst wenn die entsprechenden literarischen Erzeugnisse bestenfalls zweiklassig sind und außerhalb Deutschlands niemanden interessieren. In anderen Ländern war es dagegen nie… Mehr

Julius
3 Jahre her

Danke Herr Osiński. Leider ist der Suhrkamp Verlag viel zu links und hochnäsig für Herrn Lem, da kommt nichts, nicht einmal Neuauflagen, geschweige gesammelte Werke.

IJ
3 Jahre her

Danke für den wertvollen Hinweis. Das beeindruckende Bildungsniveau und der weitsichtige Kulturpessimismus kombiniert mit dem feinen polnisch-jüdischen Humor sind genau meine Wellenlänge. Stanislaw Lem kommt ganz oben auf die Liste von Autoren, deren Bücher ich demnächst lesen werde.