Boris Johnson kündigt ein Feintuning der Maßnahmen an

Nach drei Wochen krankheitsbedingter Abwesenheit ist Boris Johnson zurück in Downing Street. Seine Regierung kam unterdessen von vielen Seiten in die Kritik: Der Lockdown soll gemildert werden. Darin sind sich Wirtschaft, Labour und nun sogar Teile der Wissenschaft einig. Wie weit deren Rolle in der britischen Politik künftig gehen soll, wird dabei auch zum Thema.

imago Images/Zuma Wire

Nach drei Wochen krankheitsbedingter Abwesenheit ist Boris Johnson zurück in Downing Street. Seine Regierung kam unterdessen von vielen Seiten in die Kritik: Der Lockdown soll gemildert werden. Darin sind sich Wirtschaft, Labour und nun sogar Teile der Wissenschaft einig. Wie weit deren Rolle in der britischen Politik künftig gehen soll, wird dabei auch zum Thema.

In Großbritannien ist wieder einmal verkehrte Welt. Während der neue Labour-Führer Keir Starmer von der Regierung verlangt, eine »erwachsene« Diskussion über das Ende des landesweiten Shutdowns zu führen, muss Premier Boris Johnson seine spät und widerwillig getroffenen Maßnahmen nun verteidigen. Wie die Regierenden hierzulande minimiert er so sein Risiko. Denn jeder Anstieg der Krankenhauseinlieferungen oder der Todesfälle würde ihm zur Last gelegt. Der sozialdemokratische Oppositionsführer kann also derzeit als mutiger Retter der verlassenen Wirtschaft auftreten, der üblicherweise risikofreudige Konservative muss seine Schäfchen zunächst ins sichere Trockene bringen. So weit kann auch ein Virus die politischen Lager durcheinander bringen.

Stimmen aus dem Volk, aber auch aus dem Parlament, erwarten dabei ein baldiges Ende des Lockdowns – und das allein schon aufgrund der Ungeduld vieler. Schon jetzt halten sich die Briten nicht mehr mit der gleichen Sorgfalt an die Regeln, laut denen sie etwa nur die allerwichtigsten Güter einkaufen und Fahrten mit dem Auto minimieren sollen. Johnson rief seine konservativen Abgeordneten dazu auf, ihre Ungeduld zu bezähmen, und kündigte die zweite Phase des Lockdowns an, in dem Großbritannien schrittweise wieder zur Normalität zurückkehren solle. Dabei will er angeblich, einer Anregung des Oppositionsführers folgend, in einen Dialog mit dem britischen Volk eintreten.

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Keir Starmer hatte beklagt, die Briten würden von der Politik derzeit »wie Kinder« behandelt, und mahnte folgerichtig einen »erwachsenen« Dialog von Regierenden und Regierten an. In Großbritannien scheint damit ein Konsens über die Lager hinweg zu wachsen. Auch Industrie und Einzelhandel fordern einen nationalen Plan für den Ausstieg aus dem Lockdown. Wenn man sich nicht etwas beeile, falle man – so Starmer – wirtschaftlich hinter andere Länder zurück. Allerdings forderte Starmer die Regierung zugleich auf, ihre Entscheidungen diesmal umsichtig vorzubereiten.

Dagegen steht die schottische Regierungschefin Nicola Sturgeon – auch sie Exekutive – eher auf der Bremse. Anscheinend hat sie eine Schließung der schottischen Grenze für den Fall erwogen, dass der Lockdown »verfrüht« enden sollte. Ihre Gesundheitsministerin bemühte sich, diese Ankündigung dahingehend umzudeuten, dass Sturgeon die internationalen Grenzen des Vereinigten Königreichs gemeint habe. Sturgeon selbst gab zu, nicht die Befugnisse für eine Grenzschließung zu England zu besitzen.

Boris Johnson ist – nach einwöchigem Krankenhausaufenthalt und zwei Wochen Genesungsurlaub auf dem Landsitz Chequers – am Montag nach Downing Street zurückgekehrt. In einer kurzen Ansprache in der Downing Street rief er zunächst dazu auf, die erzielten Erfolge nicht geringzuschätzen. Einige Kommentatoren meinten Spuren seiner Krankheit an dem Premier zu erkennen. War er schmaler geworden, klang die Stimme noch etwas flach? Dass er ganz gesundet sei, konnte auch ein Sprecher nicht versichern. Wenn Johnson nun vom Virus als einem hinterhältigen »Straßenräuber« sprach, den man gemeinsam niederringen müsse, dann war da sicher auch eigene Erfahrung mit im Spiel. Und vielleicht sollte der kämpferische Akzent zugleich die Ungeduldigen ansprechen und ins Boot holen.

Strangulierte Wirtschaft

Trotz – oder vielleicht gerade wegen – der verschiedenen Auffassungen steht Johnson unter Druck. Der Lockdown droht eine ganze Wirtschaft zu strangulieren. Mit warnenden Worten hat sich vor allem der Einzelhandel gemeldet, der – nicht anders als hierzulande auch – praktisch seinen gesamten Umsatz eingebüßt hat. Völlig offen ist das Überleben von Gastronomie und Kneipen. Auch nach der erhofften Öffnung müssten die Lokale mit weitgehenden Abstandsregeln rechnen, die ihr Geschäftsmodell empfindlich stören würde – wiederum bis hin zur Insolvenz. Die Londoner Sandwich-Kette »Pret a Manger« hat schon wieder geöffnet, allerdings ist auch dort nur Abholung möglich (in Deutschland darf das wohl jedes Restaurant). Plexiglas trennt Kunden und Angestellte; vom einstigen Angebot werden nur noch 15% angeboten, um das Küchenpersonal klein zu halten.

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In den kommenden Tagen will Johnson die Regierungsmaßnahmen zum »social distancing« neu ausbalancieren. Vermutlich wird es dabei vor allem um die Öffnung von Geschäften gehen, die keine essentiellen Waren anbieten. Auch eine bekannte Fastfood-Kette könnte wieder aufmachen und die nationale Fußball-Liga den Betrieb (immer ohne Publikum) wieder aufnehmen. Außerdem soll es erlaubt werden, einen Kreis enger Freunde zu treffen – im Sinne einer erweiterten Familie. Daneben scheinen aber auch einzelne Verschärfungen im Gespräch zu sein. So könnte für Einreisende bald eine vierzehntägige Quarantäne gelten. Die Schulen sollen dagegen bis Juni geschlossen bleiben. Sie gelten den Experten als zentraler Übertragungsweg.

Damit wären wir an der zweiten Front, die die Kritiker des Lockdown aufmachen. Denn auch wenn sich das Regierungshandeln durchweg als »wissenschaftlich« begründet geriert, sind viele nicht mehr bereit, dies als Verkündigung anzuerkennen. So entspinnt sich eine Diskussion darüber, ob die Regierung immer gut daran tat, dem Rat ihrer wissenschaftlicher Berater zu folgen, zumal was den Shutdown des Landes angeht, den Boris Johnson am 23. März – im europäischen Vergleich: spät – verkündete.

Wissenschaftler verlangen mehr »common sense«

Tatsächlich klingt es so einfach: »Wir folgen dem Rat der Wissenschaft.« Doch was diese angeblich einhellige und einfache Auffassung der Wissenschaft ist, lässt sich bei näherem Hinschauen nicht so leicht feststellen. Und das hat einen einfachen Grund: »Die eine« Wissenschaft gibt es gar nicht, jedenfalls nicht, wenn man damit einen festgefügten Vorrat an Erkenntnissen meint, die – umsichtig befolgt – unfehlbaren Erfolg versprechen. Vielmehr ist jede akademische Disziplin für sich, wie das politische Leben auch, ein Feld ewigen Streites.

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Die anhaltenden Behauptungen der Regierenden, auch Johnsons, man folge »der besten Wissenschaft und Evidenz«, sorgen inzwischen bei den Wissenschaftlern selbst für Zweifel und Widerrede. So meinte der Epidemiologe Prof. Mark Woolhouse, die Regierung dürfe sich nicht ausschließlich am Rat seiner Fachkollegen ausrichten. Wichtig für das gute Regieren seien auch die wirtschaftlichen, sozialen und psychologischen Kosten der verschiedenen Maßnahmen. Prof. Sheila Bird, Medizinerin in Cambridge, sekundierte etwas kritischer in Richtung des Regierungsapparats: Weder kenne man die genaue Zusammensetzung des wissenschaftlichen Beirates des Regierung für Notfälle (SAGE) noch die Papiere, die diesem zugeleitet werden.

Konkrete Kritik richtet sich weiter vor allem auf die mangelhafte Versorgung mit Schutzkleidung. Zweifelhaft scheint den Forschern daneben, ob sich die Älteren und Gefährdeten überhaupt – wie ursprünglich von der Regierung geplant – konsequent isolieren lassen. Die Seuchenzüge in den britischen Pflegeheimen sprechen eine andere Sprache, ebenso unklar ist, wie alleine oder mit ihren Kindern zusammenlebende Alte von der Gesellschaft abgeschirmt werden sollen. Das ist vermutlich ein Ding der Unmöglichkeit. Man könnte dem Diktat der Wissenschaft – auch der virologischen und epidemiologischen – also den gesunden Menschenverstand gegenüberstellen.

Wissenschaft als streitiger Dialog

Sogar der linke Guardian griff so die Kritik auf, die Regierung folge zu sehr dem Rat der Wissenschaftler, verstecke sich gleichsam hinter deren Autorität, um nicht selbst in die Kritik zu geraten wegen ihrer Entscheidungen. Dabei war es ja zuletzt die Spezialität der linken Klimaretter, »die« Wissenschaft – ohne verschiedene Meinungen, ohne Diskussionen – als alleinseligmachende Richtschnur unseres Handelns zu proklamieren.

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Aus dem wissenschaftlichen Beirat der Regierung berichtete nun ein Kabinettsmitglied, dass dessen akademische Mitglieder durchaus über verschiedene Themen im Streit liegen. Wie solle man also »der« Wissenschaft folgen, wo sie nicht eine, sondern »mindestens sieben« Meinungen vertrete. Die Wissenschaft kann – als selbst streitiger Dialog der Auffassungen und Hypothesen – nicht die politischen Entscheidungen treffen, die Volk, Parlamente und Regierungen zu fällen haben.

Das Online-Magazin Spiked sieht den Hauptfehler der Regierung in der Covid-19-Krise denn auch in der Abtretung ihres Urteils an die wissenschaftliche Gemeinde und daneben an die mutmaßliche öffentliche Meinung beziehungsweise deren Avatar, die veröffentlichte Meinung. Gibt es in einer Zeit, in der keine öffentlichen Versammlungen stattfinden dürfen, überhaupt noch eine »öffentliche« Meinung? Ist sie nicht wesentlich durch das Sich-Versammeln und den menschlichen Austausch mitbedingt?

Die Gefährdeten

Die Frage ist, was die vermutlich kommende Lockerung der Maßnahmen mit dem Land machen wird. Öffentliche Gesundheit, Demokratie und Wirtschaftsleben sind zu kleinen Quadraten an einem gewaltigen Rubik’s-Würfel geworden. Schon jetzt hat die Situation in britischen Pflegeheimen für herbe Kritik gesorgt. Betreiber sehen sich praktisch auf sich selbst gestellt. Krankenhäuser haben die Aufnahme von Heimbewohnern verweigert.

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Ein Abgrund tut sich auf, wo Bewohner von Mitarbeitern des nationalen Gesundheitssystems NHS zur Unterzeichnung von Patientenverfügungen gedrängt werden. Sie sollen sich so frühzeitig gegen die eigene Wiederbelebung entscheiden; zugleich wird ihnen gesagt, dass sie im Erkrankungsfall nur auf eine palliative, schmerzlindernde Behandlung hoffen dürfen. Patienten über 65 Jahren werden vom NHS nach Alter, Vorerkrankungen und »Gebrechlichkeitsgrad« in einem Punktesystem bewertet. Wird eine Gesamtpunktzahl von acht überschritten, dann soll der Patient keine Intensivbehandlung mehr erhalten, wie die Financial Times berichtete.

So bekommen 71- bis 75-Jährige für ihr Alter vier Punkte und häufig drei weitere aufgrund von Gebrechlichkeit. Durch hohen Blutdruck oder kürzlich überstandene Herz- oder Lungenkrankheiten stiege diese Punktzahl weiter. Die letztgültige Entscheidung würde, so ein Sprecher des NHS, immer im Einzelfall getroffen. Aber übermäßiges Vertrauen erweckt das nicht. Angesichts der Fragilität des britischen Gesundheitssystems steht Johnson nicht eben vor leichten Entscheidungen. Da scheint Ausgleichen Pflicht, und einige Kommentatoren machen schon den gereiften Staatsmann im genesenen Johnson aus. In jedem Fall sollte es wohl mit dem Teufel zugehen, wenn die Aufwertung des lange vernachlässigten NHS nicht zu einem zentralen Thema für den Premier würde.

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Kommentare ( 2 )

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Donostia
3 Jahre her

Man könnte ja auch mal eine Volksabstimmung machen mit mehreren Szenarien. Nach der ersten Abstimmung, sofern keine 50% Zustimmung für einen Vorschlag erzielt wurde, eine zweite Wahl bei dem die zwei favorisierten Vorschläge zur Wahl stehen. Das Szenario, dass gewinnt wird dann umgesetzt. Oder träume ich zu sehr von Demokratie?

Fulbert
3 Jahre her

Ein interessanter Bericht. Offensichtlich beschränken sich Wissenschaftsglaeubigkeit und politische Inkompetenz nicht auf Deutschland. Andererseits gibt es in GB wohl eine offene Debatte und eine ernstzunehmende Opposition.