Das Leben ist kein Ponyhof

Bundestagspräsident Wolfgang Schäuble hat völlig recht, wenn er feststellt, dass auch der Schutz des Lebens Abwägungen zugänglich ist.

© Johannes Eisele/AFP/Getty Images

„Aber wenn ich höre, alles andere habe vor dem Schutz von Leben zurückzutreten, dann muss ich sagen: Das ist in dieser Absolutheit nicht richtig. Grundrechte beschränken sich gegenseitig. Wenn es überhaupt einen absoluten Wert in unserem Grundgesetz gibt, dann ist das die Würde des Menschen. Die ist unantastbar. Aber sie schließt nicht aus, dass wir sterben müssen.“

An dieser Passage – entnommen einem Interview, das Bundestagspräsident Wolfang Schäuble dem Tagesspiegel gab – ist alles richtig und folglich nichts falsch. Dass dieses Zitat dennoch für Unmut und Empörung sorgt, hat im Wesentlichen zwei Gründe: frühere Äußerungen seines Urhebers und verfassungsrechtliche Unkenntnis.

Frühere Äußerungen Schäubles

Man kann den Kritikern des an sich nicht zu beanstandenden Schäuble-Zitates zu Gute halten, dass der heutige Bundestagspräsident im Laufe seiner politischen Laufbahn mehrfach als unsicherer Kantonist in Fragen des Lebensschutzes in Erscheinung trat. So etwa beim Entwurf eines Luftsicherheitsgesetzes, das der Bundestag am 11. Januar 2005 beschloss und welches das Bundesverfassungsgericht mit seinem Grundsatzurteil vom 15. Februar 2006 wieder kassierte. Oder auch als er sich in der Stammzelldebatte in einem Zeitungsbeitrag zu der Aussage verstieg: „Mensch ist, wer von einer Frau geboren wurde.“ (FAZ v. 21.5.2001). Einige Wortmeldungen zeigen, dass Schäubles Position beim Streit um das Luftsicherheitsgesetz als Folie betrachtet wird, auf der seine aktuellen Äußerungen interpretiert werden müssten. Das ist falsch. Nicht nur, weil jeder Mensch dazu lernen und folglich frühere Positionen revidieren kann, sondern auch, weil es hier nichts zu interpretieren gibt.

Verfassungsrechtliche Unkenntnis

Menschenwürde und das Recht auf Leben sind nicht identisch. Der juristische Laie kann das bereits daran erkennen, dass der Schutz der Menschenwürde in Artikel 1 Absatz 1, das Recht auf Leben aber in Artikel 2 Absatz 2 Grundgesetz behandelt wird. Richtig ist, dass es zwischen beiden Rechtsgütern Überlappungsbereiche gibt. Dies hat in vielen, aber keineswegs allen Fällen zur Folge, dass derjenige, der das eine Rechtsgut verletzt, auch das andere in Mitleidenschaft zieht.

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Wer in Kenntnis dessen Menschenwürde und Recht auf Leben dennoch in eins setzt, tut dies meist, um für den Schutz des Lebens auch Artikel 1, Absatz 1, Satz 2 in Stellung bringen, wo es mit Bezug auf die Menschwürde heißt: „Sie zu achten und zu schützen ist Verpflichtung aller staatlichen Gewalt.“ Das mag man clever finden, ist aber verkehrt.

Denn der Staat ist nicht verpflichtet, das Leben seiner Bürger mit allen ihm zu Verfügung stehenden Mitteln zu schützen. Wäre es anderes, müsste jeder Bürger – auch ohne Corona – sein Dasein in staatlich zertifizierten Gummizellen zubringen. Das Recht auf Leben beschränkt sich vielmehr auf das Recht eines jeden Bürgers, nicht von einem anderen getötet zu werden, sowie sich darauf verlassen zu können, dass der Staat dort, wo dieses Recht (im Erfolgs- wie im Versuchsfalle) dennoch missachtet wird, nach den Tätern fahndet, um sie vor Gericht zu stellen.

Jedes Leben endet tödlich

Das bedeutet wiederum nicht, dass der Staat nun gar nichts zum Schutz besonders vulnerabler Personen unternehmen bräuchte. Aber er ist weder verpflichtet noch berechtigt, zu ihrem Schutz die Grundrechte aller anderen zu suspendieren. Er darf und muss hier abwägen. Mehr hat Schäuble nicht gesagt. Mit Sozialdarwinismus hat das nichts zu tun. Wohl aber mit der Anerkennung des schlichten Faktums, das jedes Leben tödlich endet. Auch wenn in unserer wohlstandsverfetteten, risikoarmen Vollkaskogesellschaft es manche gerne anders hätten: Das Leben ist kein Ponyhof.

In der Osterzeit darf sicher auch daran erinnert werden: Christen glauben nicht nur an ein Weiterleben der unsterblichen Seele nach dem Tod, sondern auch an die Auferstehung des dann verklärten Leibes aus diesem. In der Präfation der Totenmesse heißt es deshalb: „Deinen Gläubigen, oh Herr, wird das Leben gewandelt, nicht genommen. Und wenn die Herberge der irdischen Pilgerschaft zerfällt, ist uns im Himmel eine ewige Wohnung bereitet.“


Dieser Beitrag von Stefan Rehder erschien zuerst in Die Tagespost. Katholische Wochenzeitung für Politik, Gesellschaft und Kultur, der wir für die freundliche Genehmigung zur Übernahme danken.

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Kommentare ( 53 )

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Michael M.
3 Jahre her

Sehr geehrter Herr Häberle,
niemand ist gezwungen Kirchensteuer zu bezahlen, wußten Sie das etwa nicht?!

EURO fighter
3 Jahre her

Wieso fordern Sie die Abschaffung der Kirchensteuer? Ich zahle schon seit 3 Jahren nicht mehr, jeder kann es genauso halten.

Peer Munk
3 Jahre her

Geradezu faszinierend: Viele Leser sind offenbar nicht damit einverstanden, dass man die Meinung von Schäuble teilt, weil der ja mal von Inzucht schwadronierte und die unkontrollierte Massenimigration befürwortete.
Georg Restle von Monitor schloss sich Schäubles Meinung an. Dafür bezog er nun wiederum Prügel von linksgrünen Gutmenschen, ebenso jene Kommentatoren, die sich Schäuble anschlossen. Man warf ihnen u.a. vor, dass sie ja die Meinung von Gauland, Boris Johnson u.ä. rechts-verdächtigen Personen teilen würden.

Franz O
3 Jahre her
Antworten an  Peer Munk

„und die unkontrollierte Massenimigration befürwortete.“

Warum das Präteritum? Hat Schäuble mittlerweile seine genialen eugenischen Erkenntnisse revidiert? Jenes wäre mir neu.

„Georg Restle von Monitor schloss sich Schäubles Meinung an. Dafür bezog er nun wiederum Prügel von linksgrünen Gutmenschen, ebenso jene Kommentatoren, die sich Schäuble anschlossen.“

Freut mich zu hören.

Wolodja P.
3 Jahre her
Antworten an  Franz O

Praeteritum – das alte Wort für Imperfekt – benutzte zu meiner 70 Jahre zurückliegenden Zeit als Sextaner nur noch mein damaliger Deutschlehrer, dem ich neben der Einübung in die deutschen Kurrentschrift vor allem die unauslöschliche, fundierte Kenntnis der Syntax, Grammatik und Interpunktion verdanke. Unauslöschlich übrigens deswegen, weil wir bis zum Überdruss mit der deutschen Sprachlehre von Rahn und Pfleiderer traktiert wurden. Inzwischen sehe ich längst bestätigt, dass uns, auf die deutsche Sprache bezogen, Besseres gar nicht widerfahren konnte: Erlangte Immunität gegen Neusprech jeder Art.

Michael_M
3 Jahre her

„Das Recht auf Leben beschränkt sich vielmehr auf das Recht eines jeden Bürgers, nicht von einem anderen getötet zu werden, sowie sich darauf verlassen zu können, dass der Staat dort, wo dieses Recht (im Erfolgs- wie im Versuchsfalle) dennoch missachtet wird, nach den Tätern fahndet, um sie vor Gericht zu stellen.“ das ist falsch! grund-, wie auch menschenrechte sind abwehrrechte gegenüber dem staat, nicht gegenüber anderen menschen. das recht auf leben führt eben NICHT dazu, das ich ein (allgemeines und umfassendes) recht darauf habe, von einem anderen bürger nicht getötet zu werden. damit wäre sofort jedwede notwehr mit todesfolge strafbar.… Mehr

daldner
3 Jahre her

Hilfe, noch so ein von Altersweisheit befallener Berufszyniker, der im Spätherbst seines Lebens noch ein paar Sätze für die Ewigkeit raushauen will.

peer stevens
3 Jahre her

……dass die Aussage des Herrn Schaeuble in diesem Falle einmal zutrifft ist bemerkenswert. …ich gehe davon aus, dass sie ihm von seinen bezahlten „Zuschreibern oder Zufluesterer“ , in diesem historischen Moment als opportun, „gesteckt wurde“. …die Aussage verliert an Bedeutung , wenn ich mich erinnere welch‘ Geistes Kind sich hier zu Wort meldet …dieser Mann gehoert seit Jahrzehnten zu den wichtigsten und damit schlimmsten Personen und ist /war in den verschiedenen hohen Positionen im Berliner Chaosbetrieb taetig. Bisher stets den Herrschenden devot dienend ist er mitverantwortlich fuer die katastrophale Situation, in der sich unser Land seit mehr als einem Jahrzehnt… Mehr

Sagen was ist
3 Jahre her

Ist es doch:

Das Leben – sogar ein ewiger Ponyhof für die „Unberührbaren“

Wer über 40 Jahre MdB und damit zum Inventar des BT geworden ist, sich
als Geldbote Kohls für das zweithöchste Staatsamt profiliert hat und die
Verfassung gerne mal mit tatkräftiger Unterstützung seiner Parteifamilien-
clanmitglieder unter die Räder nimmt, für den ist das Leben auf
Steuerzahlerskosten ein ewiger Ponyhof.

Quod licet iovi geziemt nicht dem Stimmvieh.

bfwied
3 Jahre her

Die wollen keinen Staat. Die wollen keinen wirklich sinnvoll fürsorglichen Staat, die wollen ihre Ideologie durchbringen, zu ihrem Wohl und auf Teufel-komm-raus. Das Volk interessiert sie nur als zu melkende Kuh, sie achten die Bürger nicht, am wenigsten tun das diejenigen, die noch nie gearbeitet haben und nicht einmal eine Ausbildung vorweisen können. Die wollen nur, aber sie sorgen nicht, dass die Kuh noch lange Milch geben kann – dazu sind sie zu intelligenzbefreit und zu dümmlich ideologisiert. Sie wollen Macht, auch um den Preis der ihrer Ideologie nach sinnvollen Deindustrialisierung. Sie sind die neuen Kommunisten und Faschisten. Zurück zum… Mehr

bfwied
3 Jahre her

Nein, man kann nicht jedes Leben in allen Situationen schützen, aber man muss es versuchen. Es hat im Übrigen noch niemand nachgewiesen, ob, und wenn ja, wie viele Tote zu beklagen sind, weil sie sich wegen coronabedingten persönlichen Desasters umbrachten oder aus Armut gestorben sind. Ein einfaches schnippisches Beiseiteschieben der Lebensrechte, weil man ja sowieso mal stürbe, ist primitiv und zeugt von Grausamkeit. Natürlich muss die Wirtschaft laufen, natürlich stirbt man irgendwann. Aber es handelt sich darum, sowohl das eine zu tun als auch das andere bzw. das eine nicht über das andere zu stellen. Es ist für eine gewisse… Mehr

Hannibal ante portas
3 Jahre her
Antworten an  bfwied

„Es hat im Übrigen noch niemand nachgewiesen, ob, und wenn ja, wie viele Tote zu beklagen sind, weil sie sich wegen coronabedingten persönlichen Desasters umbrachten oder aus Armut gestorben sind.“ Glauben Sie ernsthaft, dass es noch keine Todesopfer auf der anderen Seite der Gleichung gegeben hat? Ob zum Beispiel die beiden Suizide im hessischen Finanzministerium durch oder mit dem Shutdown zu beklagen sind, wird wohl nicht zu klären sein. Vielleicht hätten sie sich ein paar Monate später sowieso umgebracht (könnte man natürlich auch denken). Glauben Sie die jetzt um Monate verschobenen Operationen in der Krankenhäuser haben keine Todesopfer zur Folge,… Mehr

Michael_M
3 Jahre her
Antworten an  bfwied

„Ein einfaches schnippisches Beiseiteschieben der Lebensrechte, weil man ja sowieso mal stürbe, ist primitiv und zeugt von Grausamkeit.“

es gibt kein allgemeingültiges und umfassendes recht auf leben.

oder wollen sie das sterben verbieten?

grundrechte sind abwehrrechte gegenüber dem staat.

bilden sie sich!

leonaphta
3 Jahre her

Vielleicht könnte Herr Dr. Schäuble (den Dr. wollte er ja schon mal aus dem Personalausweis entfernen) mal konkretisieren, wie es mit der Menschenwürde der gequälten und vergewaltigten Deutschen seit 2015 aussieht, ich meine z.B. den Fall des Rentners in Offenburg, der kürzlich nach Monaten des Leidens, künstlicher Ernährung gestorben ist, hier: https://m.focus.de/panorama/welt/taeter-in-psychiatrie-eingewiesen-wurde-zum-pflegefall-gepruegelt-rentner-76-stirbt-nach-monatelangem-kampf_id_11901145.html Die Menschenwürde des Täters, eines Somaliers, wird jetzt in der Psychiatrie geschützt, im Unterschied zum Rentner. Oder möge Herr Dr. Schäuble doch erklären, wie es mit der Menschenwürde von Pflegebedürftien ausschaut, die dutzendweise gestorben sind, in den Pflegeheimen, in denen man sie – mit radikalen kostspieligen Maßnahmen hätte… Mehr