Brexit-Referendum: Die Demagogen und Vereinfacher hatten ihren „field day“

Die Brexit-Kampagne hat vor allem eines gezeigt: Volksentscheide sind die Stunde der großen Vereinfacher und geschickten Demagogen. Boris Johnson, der den Brexit benutzte, um den Exit seines ewigen Rivalen David Cameron aus Downing Street Number 10 zu bewerkstelligen, scheute vor nichts zurück.

© Christopher Furlong/Getty Images

Die Briten haben sich entschieden: Eine knappe, aber eindeutige Mehrheit will Europa den Rücken kehren. Das Abstimmungsergebnis von 52:48 für „leave“ scheint dies zu signalisieren. Tatsächlich hat das Ergebnis, wie die Untersuchungen britischer Meinungsforscher zeigen, keineswegs nur mit der EU zu tun. Vielmehr nutzten viele Briten die Volksabstimmung als Ventil, ihren Vorurteilen gegen „die da oben“, gegen „die Reichen“ oder gegen „die Ausländer“ freien Lauf zu lassen.

Wer das parlamentarische System gegenüber einer direkten Demokratie für überlegen hält, wurde am Donnerstag auf der Insel bestätigt. Aus Nachwahl-Befragungen wurde deutlich, dass sehr viele Wähler keine Vorstellung davon haben, wie es eigentlich mit der britischen Wirtschaft weitergehen soll, wenn das Land plötzlich nicht mehr an den 23 Freihandelsabkommen der EU mit 62 Nicht-EU-Staaten beteiligt sein wird, wenn London seine Stellung als wichtigstes Finanzzentrum Europas verliert und ausländische Investoren die Insel nicht mehr als idealen Standort mit einem flexiblen Arbeitsmarkt bei gleichzeitigem Zugang zum EU-Binnenmarkt betrachten.

Die Brexit-Kampagne hat vor allem eines gezeigt: Volksentscheide sind die Stunde der großen Vereinfacher und geschickten Demagogen. Boris Johnson, der den Brexit benutzte, um den Exit seines ewigen Rivalen David Cameron aus Downing Street Number 10 zu bewerkstelligen, scheute vor nichts zurück: Er behauptete, London zahle jede Woche 350 Millionen Pfund nach Brüssel, obwohl er genau wusste, dass dies eine Lüge war. Er verglich die EU mit Hitlers Reich, weil er wusste, dass auch dieser historische Nonsens bei einem Teil des Publikums ankommt. Und er schürte in schlimmster rechtspopulistischer Manier die Ängste vor Zuwanderung, als ob alle die Inder, Pakistani und Menschen aus Bangladesch dank der EU-Freizügigkeit nach Großbritannien gekommen wären und nicht wegen der Zugehörigkeit ihrer Länder zum „Commonwealth of Nations.“

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Wie immer bei Volksentscheiden ging es in der vergangenen Woche nur bedingt um ein sachliches Ja oder Nein zu einem bestimmten Thema. Vielmehr schlossen sich den „Brexiteers“ Menschen aus höchst unterschiedlichen Gründen an: Commonwealth-Nostalgiker ebenso wie Gegner jeglicher Zuwanderung, wirtschaftliche Absteiger wie Menschen, die es den politischen und wirtschaftlichen Eliten einmal zeigen wollten. Dass viele Brexit-Befürworter unter den Folgen des Ergebnisses mehr leiden werden als ihr steinreiches Idol Johnson, dürfte ihnen erst noch schmerzlich bewusst werden.

Wie wenig das Ergebnis mit der eigentlichen Fragestellung zu tun hat, zeigen die Zahl des britischen Meinungsforschers Lord Ashcroft, der am Donnerstag 12.369 Briten nach der Stimmabgabe befragt hat. So stimmten 67 Prozent Briten asiatischer Abstimmung, 70 Prozent muslimischer Briten und 73 Prozent schwarzer Briten für “remain”. Was Hautfarbe und Religion direkt mit der Einstellung zur EU zu tun haben, hat bisher noch niemand erklären können.

Auch bei den Brexit-Befürwortern gab es Motive, die sich nur schwer mit den vermeintlichen Vorzügen oder Nachteilen der EU begründen lassen:

  • 80 Prozent derer, die gegen jede Einwanderung sind, stimmten für „leave“ – als hätte es in Großbritannien in den Zeiten ohne EU-Freizügigkeit keine Einwanderung gegeben.
  • 78 Prozent derer, die „Feminismus“ ablehnen, stimmten für „leave“ – als wäre die britische Frauenbewegung in Brüssel erfunden worden.
  • 71 Prozent derer, die Globalisierung ablehnen, stimmten für „leave“ – als ließen sich Welthandel und weltweite Arbeitsteilung per Stimmzettel ausschalten.
  • 51 Prozent der Kapitalismus-Gegner stimmten mit „leave“ – als wäre Großbritannien nicht viel kapitalistischer als andere EU-Mitglieder.
  • 51 Prozent derer, die das Internet „für ein Übel“ halten, stimmten für „leave“ – als hätte die EU den Briten das „net“ aufgezwungen.

Niemand weiß, welche politischen und wirtschaftlichen Folgen die Brexit-Entscheidung haben wird. Die wirtschaftlichen Schäden dürften für die Briten am größten sein, aber unter der wirtschaftlichen wie politischen Schwächung der Europäischen Union werden alle 28 Staaten zu leiden haben. Vielleicht hat das britische Referendum wenigstens einen Kollateral-Nutzen für die Volksentscheidungs-Debatte in Deutschland: Direkte Demokratie führt allzu oft direkt zu mehr Irrationalität. Interessant: Die penetrant nach Volksentscheiden auf Bundesebene rufenden Grünen waren nach diesem Brexit-Votum in dieser Hinsicht bemerkenswert still.

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