Brexit: Nicht das Vereinigte Königreich – die Briten steigen aus

Nicht „das Vereinigte Königreich“ hat sich verabschiedet, sondern das alte Britannien. Die politische Nachkriegsgeneration dokumentiert derzeit in allen Ländern Europas ihr Versagen, ihre Zeit ist nicht nur im Königreich ein für allemal vorbei. Eine Generation junger, innovativer Europäer muss das Ruder in die Hand nehmen.

© Chris Jackson/Getty Images

Das war es also. Entgegen der Hoffnungen der etablierten Politik, entgegen den Erwartungen der Finanzmärkte und entgegen der letzten Prognosen hat sich das Vereinigte Königreich aus der Europäischen Union verabschiedet. Oder?

Der Blick auf die Abstimmungsergebnisse der einzelnen Provinzen lässt diese Feststellung schlicht nicht zu. Nicht „das Vereinigte Königreich“ hat sich verabschiedet – es ist das alte Britannien, dass dem Kontinent Goodbye gesagt hat. Das ist in vielerlei Hinsicht bemerkenswert. Denn hier setzt sich eine bis tief in die Antike reichende Geschichte mit umgekehrten Kennzeichen fort.

Das Vereinigte Königreich – das ist heute der Rest eines noch vor 100 Jahren weltumspannenden Imperiums. Doch es war „vereinigt“ nur auf dem Papier. Tatsächlich war das Vereinigte Königreich immer ein Englisches Königreich.

Die Übernahme von Wales

Wales, das alte Cymru der Kelten, wurde bereits im ersten nachchristlichen Jahrhundert von den römischen Invasoren überrannt – und im Sinne der antiken europäischen Weltmacht zivilisiert. Das spätere England und Wales bildeten jenes römische Britannia, das sich im Norden mit einem Limes gegen die Barbaren zu schützen suchte und sich am Ende gegen die Seefahrer aus Nordeuropa nicht schützen konnte.

Für die Briten waren die römischen Jahrhunderte eine Zeit der Blüte, die erst endete, als im vierten und fünften Jahrhundert von den norddeutschen und dänischen Nordseeküsten die Angeln und Sachsen auf die Insel strebten und dort das Mittelalter einläuteten. Auch wenn sich in Wales die römisch-britische Kultur länger halten konnte als im Osten Britannias, so setzte sich doch der keltische Einfluss wieder durch. Diese keltischen Traditionen verhinderten gleichwohl, dass sich staatenähnliche Strukturen bildeten. Und so konnten die Normannen, die 1066 begonnen hatten, die nun britischen Angelsachsen zu unterwerfen, bis zum Beginn das 15. Jahrhunderts das keltische Wales erneut mit dem nun normannisch-englischen Britannien vereinen und Wales zu einem Teil Englands machen.

Der Freiheitswille Schottland

Das Land der Pikten, das sich erfolgreich der Zivilisierung durch Rom widersetzt und die Pikten, die sich bis zum neunten Jahrhundert mit den in den vorangegangenen Jahrhunderten aus Irland eingewanderten, keltischen Scoten zum Volk der Schotten vereint hatten, wurden von den normannisch-englischen Königen seit dem 11. Jahrhundert massiv bedrängt. Rund siebenhundert Jahre sollte der englische Krieg gegen die Schotten dauern, bis die freien Völker im Norden der Insel endgültig unterworfen waren. Jahrhunderte, die sich im Bewusstsein der Schotten ebenso tief eingebrannt haben wie die englischen Massaker an schottischen Freiheitskämpfern.

Der Konfessionskrieg Nordirlands

Das keltische Irland, seit dem 5. Jahrhundert von britisch-römischen Flüchtlingen christianisiert und zu einer eigenen Blüte gekommen, wurde ab den 11. Jahrhundert wie auch die Angeln und die Sachsen auf der Nachbarinsel von den eindringenden Normannen bedrängt und zur englischen Kolonie gemacht. Erst 1922 gelang es den Iren, ihre Unabhängigkeit zu erkämpfen – wobei sie auf die Nordost-Provinzen verzichten mussten, in denen die englischen Könige mit der Ansiedlung protestantischer Kolonialisten gegen die katholisch-irische Bevölkerung einen dauerhaften, konfessionellen Konflikt verursacht hatten.

Eine Befriedung dieses blutigen Konflikts wurde erst im Rahmen der Möglichkeiten der zusammenwachsenden Europäischen Union möglich: Die ehedem massiv befestigte Grenze des englischen Nordirlands zur Republik, die nun wieder zur EU-Außengrenze wird, fiel. Ein sorgsam austariertes politisches Gleichgewicht schien den konfessionellen Konflikt überwunden zu haben.

Der Rückfall

Mit dem Brexit-Votum sind die britisch-irischen Inseln zurückgefallen in den Konflikt zwischen normannisch-englischen Briten und den von diesen unterworfenen Völkern.

Jene 51,9 Prozent Brexit-Befürworter sind Engländer. Sie dokumentieren die englische Dominanz überall dort, wo die englische Identität entweder seit eh bestand oder die ursprüngliche ersetzt hat. England und Wales sind faktisch gespalten. Und sie zeigen zusätzlich eine Spaltung zwischen alten und jungen Briten.

Im dünn besiedelten Wales überstimmten 854.572 Wähler für den Brexit 792.347 EU-Anhänger: 52,5 % zu 47,5 %.

In England selbst sprachen sich sogar 15.188.406 Wähler für den Brexit und 13.266.996 Wähler gegen den Brexit aus. 53,4 zu 46,6 %.

Eindeutig stimmte Schottland. Hier wollen 1.583.109 Bürger in der EU bleiben und überstimmten mit ihrem 62,2 %-Anteil jene nur 962.515 englischen Schotten, die die EU verlassen möchten.

Nordirland wiederum ist trotz eindeutigem Votum gespalten: Nur 352.442 die EU verlassen, während 440.437 in der EU bleiben möchten. Doch anders als in dem gegen die Engländer geeinten Schottland geht in Nordirland der koloniale Riss einmal mehr quer durch die Bevölkerung. Während die irisch-katholischen Provinzen und Stadtbezirke mit Anteilen bis zu 78 % für den Verbleib in der EU – und damit für die enge Bindung an die irische Republik – stimmten, klammern sich die protestantischen Oranjer an ihre englische Schutzmacht. Bis zu 62 % beträgt ihr Anteil in den protestantisch dominierten Provinzen.

Die Zahlen zeigen: Beim Brexit haben die Engländer mit ihrer Übermacht die von ihnen kolonialisierten Völker überstimmt. Schotten und Iren werden einmal mehr von den Engländern zu etwas gezwungen, das sie selbst nicht wollen.

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Die Brexit-Abstimmung in 5-Prozent-Schritten. Beige stimmte für den Ausstieg, grün dagegen. Je kräftiger die Farbe, desto deutlicher die jeweilige Mehrheit. © FoGEP

Vom Vereinigten Königreich zu Klein-Britannien

Was wird nun geschehen? Die Schotten, das scheint unausweichlich, werden erneut ein Austritts-Referendum ansetzen. Anders als vor zwei Jahren wird die Loslösung von den Engländern auf breite Zustimmung stoßen. Und anders als vor zwei Jahren werden die Engländer nicht mehr einen Beitritt der Schotten zur EU verhindern können. Schotten und EU wären daher gut beraten, die entsprechenden Schritte nicht nur einzuleiten, sondern abzuwickeln, bevor die Engländer die EU abschließend verlassen haben. Im optimalen Falle sollte hier auch die Entflechtung zwischen England und Schottland vergleichbar jener Trennung der Tschechen und Slovaken einvernehmlich erfolgen.

Dabei gilt, vor allem die bestehenden Verknüpfungen nicht erst vernichten zu lassen, um sie dann erneut aufbauen zu müssen. Ein unabhängiges Schottland kann als EU-Mitglied seit 1973 unmittelbar unter dem gemeinsamen Dach bleiben – mit dem Austritt Englands steht dem nichts mehr im Weg. So hat die schottische Ministerpräsidentin Sturgeon bereits verkündet, genau diesen Weg parallel zu den englischen Austrittsverhandlungen beschreiten zu wollen.

Nordirland hingegen könnte den Weg zurück gehen in den Konflikt des vergangenen Jahrhunderts. Sinn Fein hat bereits angedeutet, dass ein Referendum über den Beitritt zur EU-Republik Irland für sie der logische, nächstfolgende Schritt sein könnte. Das aber ist ein Schritt, den die Protestanten kaum bereit sein werden , mitzugehen.  Es sei denn, es könnte gelingen, auch diese von den Vorteilen zu überzeugen und ihre weitgehende Autonomie und die historische Bindung an England vertraglich zu sichern. Ob dieses gelingen kann, ist angesichts der nach wie vor tiefgreifenden Diskrepanzen jedoch mehr als fraglich – und so könnte es geschehen, dass eine entsprechende Abstimmung in Nordirland mit den Protestanten das macht, was die englische Mehrheit bei der Brexit-Abstimmung mit den Schotten und den irischen Katholiken tat: Sie vergewaltigen und dadurch in einen langwierigen Konflikt zur Zentralregierung in Dublin zwingen.

Und bevor wir das vergessen: Da ist ja auch noch Gibraltar, dieser kleine Felsenzipfel, von dem aus die Seemacht Britannia seit 1704 den Zugang zum Mittelmeer beherrschte. Nur 21.145 Menschen beteiligten sich an der Abstimmung. 19.322 davon stimmten für die EU. Das sind 95,9 Prozent. Da muss wohl nur noch geklärt werden, ob die Gibralter künftig ähnlich Luxemburg und Malta als Kleinstrepublik zur EU gehören – oder als autonome Region Spaniens in dieser verbleiben. Und die 823 Engländer stehen im Zweifel vor der Entscheidung, ob sie das Mittelmeer gegen Nordseeklima tauschen wollen – oder als englische Gibralter ebenso wie all die anderen Engländer in der EU bleiben, die dort schon seit vielen Jahren außerhalb des Königreichs leben.

Englands dramatisches Schicksal

Welche Wege auch immer die einzelnen Länder des noch Vereinigten Königreichs nun gehen werden – einmal mehr haben englische Politiker das genaue Gegenteil von dem erreicht, was sie sich selbst als Ziel gesetzt hatten.

Winston Churchill, das victorianische Kind  des weltumspannenden britischen Empires, kämpfte sein Leben lang dafür, die englische Weltmacht rund um den Globus zu erhalten. Doch das Ergebnis seiner Politik war es, das Empire auf das Vereinigte Königreich in der Nordsee geschrumpft zu haben.

Farage und Johnson, die mit ihrer idealisierten Vorstellung eines immer noch imperialen, unabhängigen Königreichs die Mehrheit ihrer Engländer überzeugen konnten, werden als Totengräber des verbliebenen Vereinigten Königreichs ihren Platz in der britischen Geschichte finden. Der 23. Juni 2016 wird für die Insel nicht der “Tag der Unabhängigkeit“ sein, wie es Farage in seiner Hybris verkündete – es wird der Tag des finalen Untergangs dieses einstmals größten und mächtigsten Imperiums der Erde sein.

Zumindest Johnson, dessen Auftritt nach dem Ergebnis ebenso wie der des Farage deutlich machten, dass beide mit diesem Brexit nicht wirklich gerechnet hatten und keinerlei Plan für das haben, was nun auf das Vereinigte Königreich zukommt, scheint dieses zu ahnen, wenn er den Rücktritt Camerons bedauert und in seinen nun völlig emotionslos vorgetragenen Worten durchblicken zu lassen scheint, dass das mit dem Austritt doch nicht ganz so ernst gemeint war und er eigentlich nur ein besseres, gemeinsames Europa wollte.

Out is out …

Doch, liebe Engländer – es war ernst gemeint. Out ist out. Ihr werdet nun damit leben müssen, ein einstmals großes Reich final beerdigt zu haben. Die EU wird nicht nachtreten – aber sie wird auch keine Privilegien mehr verteilen können. Klein-Britannien steht in der Reihe anderer, die gern mit der EU verbandelt sein möchten. Das mag man bedauerlich finden – aber es war Eure englische Entscheidung. Und die ist ebenso zu respektieren wie der Wille der Schotten, Iren und Gibralter, die EU nicht verlassen zu wollen.

.. es sei denn, der Joker sticht

Es sei denn, dass – ja, wenn was?

Das Vereinigte Königreich ist immer noch ein Königreich. Wenn auch laut Verfassung ein konstitutionelles. Ob ein Klein-Britannien noch als solches zu bezeichnen und durch die Queen so verstanden würde – das darf durchaus angezweifelt werden.

Und da könnte dann am Ende vielleicht noch jemand einen Joker zücken, mit dem niemand mehr gerechnet hat.

Das monarchische Recht kennt das sogenannte Prärogativrecht. John Locke, jener große britische Vordenker aus den Grenzregionen zwischen England und Wales, hatte dieses Recht in einem seiner Werke als „die Macht, ohne Vorschrift des Gesetzes, zuweilen sogar gegen das Gesetz, nach eigener Entscheidung für das öffentliche Wohl zu sorgen“ beschrieben.

Die englische Verfassung selbst schreibt bis heute nicht dem Volk, sondern dem Parlament formal als „King/Queen in Parliament“ die Oberste Staatgewalt zu. Diese Oberste Staatsgewalt besteht aus drei Verfassungsinstanzen: Dem „House of Lords“ (Oberhaus), dem „House of Commons“ (Unterhaus) und dem/der „King/Queen“.

Nicht auszuschließen, dass das seit 1911 auf ein suspensives (aufschiebendes) Vetorecht beschränkte Oberhaus im Geleit mit der Queen, deren Vorgänger seit 1707 jedem Parlamentsbeschluss zugestimmt hatten,  nun doch in einem gemeinsamen Kraftakt als Oberste Staatsgewalt gemäß Locke „für das öffentliche Wohl“ sorgen und den Austritt des Vereinigten Königreichs aus der Europäischen Union verhindern werden.

Denn der dann durch eine falsche Politik des Premierministers und die gezielte, propagandistische Irreleitung einer alten, rückwärtsgewandten, knappen Mehrheit der Engländer verursachte Zusammenbruch des Kingdom könnte beide, das traditionsreiche House of Lords und die Queen, dazu bewegen, ein vielleicht letztes Mal von ihren im Mittelalter verbrieften Rechten Gebrauch zu machen, um ihr Land vor der Selbstzerstörung zu bewahren.

Vielleicht wird nicht nur eine Mehrheit des Unterhauses, sondern selbst der in die Irre gelaufene Boris Johnson in absehbarer Zeit heilfroh sein, dass dieses Königreich mit Elizabeth eine Königin hat, der das Wohl ihres Königsreichs immer über dem eigenen stand. Und die als großmütterliche Königin der Union der Engländer, Waliser, Schotten und Nordiren bereit sein könnte, bis zum Äußersten zu gehen, um ihr Volk in Einheit und Gemeinsamkeit vor dem Zerfall zu bewahren. Verkündet als ihr Vermächtnis für die junge Generation, die sich in allen Ländern ihres Königreichs für die Union mit den Kontinentaleuropäern ausgesprochen hat, könnte sie Ihr einmaliges Machtwort mit der eigenen Abdankung verbinden und ihren Enkelsohn Prince William Arthur Philip Louis, Duke of Cambridge, mit der Königswürde betrauen.

Es wäre dieses ein wahrlich königlicher Abgang, einer großen Königin als letzter Einsatz für ihr Land würdig. Und es wäre gleichzeitig ein unübersehbares, demonstratives Signal, dass die Zeiten der Nachkriegsgeneration, die derzeit in allen Ländern Europas ihr Versagen dokumentiert, nicht nur im Königreich ein für allemal vorbei sind und eine Generation junger, innovativer Europäer das Ruder in die Hand nehmen muss.

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