Warum Atatürk-Anhänger in Deutschland Erdoğan wählen

Von den Erdoğan-Wählern wollen viele lieber ihre Ausweichheimat vor dem bewahren, was hier in Deutschland gang und gäbe ist – und wofür Kılıçdaroğlu steht, nicht Erdoğan.

IMAGO / dts Nachrichtenagentur
Erdogan-Anhänger in Berlin-Kreuzberg am 28. Mai 2023

Was sagt man dazu? Was ist da los? Warum wählen vor allem hier im „westlichen, demokratischen, säkularisierten Deutschland” so viele Türkischstämmige Erdoğan? Sind die nie hier in Deutschland angekommen?!

So anschaulich stellte ntv die Ergebnisse des ersten Wahlgangs der Türkei-Wahl in Deutschland dar.

Screenprint: ntv

Schaut man sich die sechs deutschen Städte an, in denen Erdoğan die meisten Stimmen erhalten hat (Essen, Münster, Kassel, Düsseldorf, Stuttgart, Regensburg), ergeben sich folgende durchschnittliche Prozentzahlen für die beiden Kandidaten der Stichwahl:

  • für Recep Tayyip Erdoğan: (77,6 + 73,0 + 71,3 + 71,1 + 69,7 + 69,6) / 6 = 71,76 Prozent
  • für Kemal Kılıçdaroğlu: (20,7 + 25,5 + 26,8 + 26,9 + 28,3 + 28,4) / 6 = 26,43 Prozent

Es ist wichtig anzumerken, dass diese Ergebnisse nicht repräsentativ sind für das gesamte Wahlergebnis in Deutschland oder in der Türkei. Sie spiegeln jedoch die Tendenzen in den genannten Städten wider. Sie geben einen Einblick in die politische Präferenz und Unterstützung von Wählern mit türkischem Hintergrund in verschiedenen deutschen Städten und zeichnen ein für mich sehr interessantes Bild.

Sie fragen sich vielleicht auch: Was ist da los? Warum wählen vor allem hier im „westlichen, demokratischen, säkularisierten Deutschland“ so viele Türkischstämmige Erdoğan – den kontrovers diskutierten Autokraten, dem man autoritäres Vorgehen, Einschränkung der Meinungsfreiheit, Verletzung der Menschenrechte und Einflussnahme auf demokratische Institutionen vorwirft? Vieles davon mag sogar stimmen.

Oder sie fragen sich, warum wählen nur so wenige Kılıçdaroğlu, der für eine sozialdemokratische politische Ausrichtung steht? Der mit seiner Partei CHP für demokratische Prinzipien, die Wahrung der Menschenrechte, Meinungsfreiheit, Rechtsstaatlichkeit und soziale Gerechtigkeit auftritt. Sich auch für eine stärkere Trennung von Religion und Politik einsetzt und eine säkulare politische Position vertritt. Was ist da los? Sind die nie hier in Deutschland angekommen?! Dann sollen sie doch alle wieder rüber. So der Tenor. Aber so einfach ist es nicht.

Sind die nie hier in Deutschland angekommen?

Versuchen wir ein kleines Experiment. Stellen sie sich vor, sie leben in Deutschland. Stellen sie sich vor, sie haben neben ihrer Heimat Deutschland noch eine weitere Ausweichmöglichkeit zum Leben, falls Deutschland nicht mehr ihren persönlichen Lebensentwürfen entspricht. Oder sie vielleicht sogar zerstört hat. Dafür kann es viele Gründe geben. Zum Beispiel die letzten Jahre unter dem Corona-Regime, in dem jeder schnell erkennen konnte, dass Menschenrechte auch hier im demokratischen Deutschland offenbar so wie in der Türkei auch nur eine Erwägungssache und nicht in Stein gemeißelt sind wie zuvor behauptet.

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Die Repressalien, die man über sich ergehen lassen musste, beispielsweise das Vorzeigen eines Passes, um einkaufen gehen zu dürfen; die Spaltung der Gesellschaft in Gute und Böse; der Ukraine-Krieg, in dem Deutschland ganz inbrünstig und voller Elan für den Frieden Waffen schickt; die darauffolgende Inflation. Die Milliarden, die für andere Länder locker gemacht wurden und werden, aber kein Geld für Medikamente, Krankenhäuser und Personal da ist, geschweige denn für Schulen, Lehrer, Erzieher; die inhärente deutsche Kinderfeindlichkeit in der Politik; die Renten, die auf Hartz-IV-Niveau sind, und so weiter … – Die Liste ist gefühlt endlos.

Rapsöl – den muss ich doch noch raushauen: Rapsöl für sieben, acht Euro. Nicht mal billiges, schlechtes Essen konnte man sich hier noch leisten. Und selbst wenn man es sich leisten konnte, war es ausverkauft: Klopapier – da wurde wohl dem Letzten in diesem Land bewusst, dass hier irgendwas richtig im A**** ist, um beim Bild zu bleiben. Die selbstgemachte Explosion von Strom- und Gaspreisen, um grün zu werden – ach nee, sorry, um gegen Putin zu frieren, die Welt zu retten vor dem Bösen. Erst mit Radikalität gegen ein Virus, dann mit der selben Radikalität gegen die „Ungeimpften“ vorzugehen, genauso, wie sich auf eine Straße zu kleben statt direkt auf Gleise. Erst die Welt zerstören, bevor die Welt gerettet werden kann? Grüner Egoismus allenthalben.

Genauso wie es ein egoistischer Akt ist, von Deutschland aus Erdoğan zu wählen, denn ich reise auch gern mit meinen Euros in die Türkei. Auch wenn sie hier täglich aufs Neue aufgefressen werden durch Inflation, sind sie dort immer noch viel wert. Mit den paar gesparten Euros hier können viele dort in der Türkei immer noch Immobilien kaufen. Und das tun auch viele – dank Inflation. Was dem einen Leid, ist dem anderen Freud. Könnte man sagen. So sehe ich es.

Aber das sehen knapp 72 Prozent der Türkei-Wähler in Deutschland anders. Doch so einfach ist es nicht. Den deutschen Erdoğan-Wählern einfach zu unterstellen, von schlechter Politik zu profitieren, haut nicht hin. Das ist zu kurz gedacht, denn die Wähler hier aus Deutschland wählen Kılıçdaroğlu ja auch nicht, weil sie nur hoffen, dass er das hinbekommt. Im Gegenteil, die wenigsten der CHP-Wähler sind überzeugt, das Kılıçdaroğlu den Schlamassel von Erdoğan wieder gut machen würde. Sie hoffen auf ganz andere Dinge. Es geht nicht um Geld, sie wissen um die Inflation, aber Geld ist eben nicht alles. Nicht mal in der Politik. Es geht um etwas viel Tieferes als um gescheiterten Kapitalismus, es geht um gescheiterte westliche Werte, um den Glauben an diese, oder besser gesagt: um die verlorene Hoffnung an sie.

Was ist Ideologie und was Realität?

Das erleben die Türken hier in Deutschland am eigenen Leib – genauso wie die Deutschen. Unter Erdoğans Wählern sind nicht alle religiös oder gar religiöse Extremisten. Es sind viele aus der sogenannten Mitte: Liberal-Konservative, aber eben muslimisch Konservative – auch ohne Kopftücher. Mir sind beide Seiten zuwider. Aber ganz ohne inneren Kompass geht es nun mal nicht. Ich gehöre hier definitiv zu den anderen 26 Prozent, aber unter den knapp 72 Prozent sind viele, die mal für Mustafa Kemal Atatürk brannten, es eigentlich noch tun, aber längst desillusioniert sind durch die heutige unwestliche Politik, für die heute in der Türkei Kemal Kılıçdaroğlu steht.

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Von den 71,76 Prozent wollen viele lieber ihre Ausweichheimat vor dem bewahren, was hier in Deutschland gang und gäbe ist, und widerwillig dafür lieber Erdoğan wählen. Inflation in der Türkei ist dabei fast schon ein Randthema, viel wichtiger ist für sie die Inflation hier. Deutschland ist im Grunde für sie das Kontrastbild von dem, was die Türkei niemals werden darf und soll. Kurz: Kılıçdaroğlu steht für die hier lebenden Türken in der Türkei für das, was in Deutschland gescheitert ist.

Die restlichen 26 Prozent sind diejenigen voller Ideale und Hoffnungen, getrieben von einer Idee, die einst ihr Führer Atatürk in ihr Land trug und sie selbst weg aus ihrem Land. Es waren tolle Ideen und Werte, für die es sich lohnte zu kämpfen und zu sterben. Aber Erdoğan gibt Antworten auf die Fragen, wofür es sich lohnt zu leben. Da ist Geld schon längst nicht mehr die Antwort, und Freiheit nach dem westlichen Prinzip erst recht nicht mehr. Und jetzt stellen sie sich mal Klimakleber auf den Straßen von Istanbul vor … Genau. Wen würden sie wählen?
 Sie sehen es in diesen Tagen.

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Kommentare ( 58 )

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H. Priess
9 Monate her

Vielleicht sind auch viele desillusioniert von unserer westlichen“Werten“. Jedenfalls auf einen Teil davon? „Und jetzt stellen sie sich mal Klimakleber auf den Straßen von Istanbul vor … Genau“. Ja, genau, die wären schnell entfernt wenn nicht schlimmeres denn ein Staat der sich auf der Nase rumtanzen läßt ist keiner. Gerade die zweite und dritte Generation den Türkischstämmigen lehnen das was aus DL geworden ist ab. Deren Eltern konnten mit harter Arbeit ein wenig Wohlstand erreichen aber das gilt nicht mehr. Die Zeiten haben sich geändert früher ließ man die Türken in Ruhe, hat sie eher abgesondert, unter sich gelassen dann… Mehr

wackerd
9 Monate her

Jetzt fällt den Kommunisten in der Ampel die doppelte Staatsbürgerschaft der Zugereisten auf die Füße. Was für ein Drama: „Der Türke“, dieser undankbare Geist, nun wählt er türkisch „den Erdogan“ und deutsch demnächst? Na wen wohl! Sicher nicht die blöden rot-grünen. Fazit: Richtig schei**e gelaufen.

Jens Frisch
9 Monate her

„Sind die nie hier in Deutschland angekommen?! Dann sollen sie doch alle wieder rüber. So der Tenor. Aber so einfach ist es nicht.“

Es ist noch viel schlimmer. Darf ich an den Mord in Bochum erinnern, wo ein Türke einen Deutschen hinrichtete, aus blankem Hass gegen uns Deutsche?
Aber wir sollten uns immer vor Augen halten, wie Erdogan tickt:
„Unsere Moscheen sind unsere Kasernen
Ihre Minarette unsere Bajonette
Ihre Kuppeln unsere Helme uns
Ihre Gläubigen unsere Soldaten.“
Alle DiTiB Soldaten gehören wegen Mitgliedschaft in einer fremden Armee deportiert – ohne Wenn und Aber.

Ralf Poehling
9 Monate her
Antworten an  Jens Frisch

Das klingt hart, ist aber richtig. Die DITIB ist der geheimdienstlich gesteuerte Arm eines fremden Landes auf unserem Territorium. Eines fremden Landes, was uns offenkundig feindlich gesinnt ist.

Kassandra
9 Monate her
Antworten an  Jens Frisch

„Hass gegen uns Deutsche“ wird sich nicht als das ganze Ausmaß erweisen – man kann zudem nicht wissen, wie der Dolmetscher übersetzte und das in diese Richtung umgebogen hat. Denn sie müssen!! alle in ihren Augen „Ungläubigen“ hassen und in den Schwertversen steht, wie sie mit uns umzugehen haben. Und „ungläubig“ zu nennen sind alle, die nicht in den Islam hinein geboren sind oder sich ihm zugewandt und unterworfen haben. Ein Schlachtfeld ohnegleichen! Zumal, wenn man noch die „Kampfbefehle des Islam“ mit bedenkt. Heute in der Stadt wallte es von vielen langen Gewändern und am Kopf bedeckten Frauen ganz besonders.… Mehr

Markus Gerle
9 Monate her

Es gibt auch rationale Gründe, für Erdogan zu votieren, sofern man als Türke in Deutschland lebt und einigermaßen gut verdient. Unter Erdogan kommt die Türkei garantiert nicht in die EU. EVP-Chef Weber hat dies ja gerade noch mal bestätigt. Auf den entsprechenden Artikel wird im Beitrag ja verwiesen. Angenommen, ich wäre gut situierter Türke, lebte in Deutschland, hätte aber auch noch Vermögenswerte in der Türkei. Nun denn, dann hätte ich auch nicht Interesse an einer EU-Mitgliedschaft der Türkei. Und hätte ich als Selbständiger einen Doppelpass und würde meine Rechnungen aus der Türkei heraus verschicken (nein, dazu muss man nicht vor… Mehr

Conradp
9 Monate her

Die westlichen Werte sind nicht eigentlich gescheitert, sondern sie werden nicht in Ehren gehalten und stattdessen zugunsten eines grünen Sozialismus für die Profitinteressen einzelner Finanziers im Hintergrund verramscht.

Deutscher
9 Monate her

Ist es nicht schön, wenn „Deutsche“ so ausgelassen auf den Straßen feiern?

Last edited 9 Monate her by Deutscher
fatherted
9 Monate her

Der Herr Özdemir bekommt langsam Angst….denn….ratet mal wen die Türken wählen würden, hätten sie die Bevölkerungs-Mehrheit in Deutschland….na….bestimmt nicht Grün.

ktgund
9 Monate her

Der CHP so etwas wie Nähe zu Demokratie, Menschenrechten oder Liberlismus anzudichten, während man dies der AKP gleichzeitig abspricht, ist eine ziemlich groteske Tatsachenverdrehung. Nun ist die Verdrehung von Tatsachen und die Projektion einer seltsam realitätsentrückten Ideologie das Wesensmerkmal der sogenannten „westlichen Werte“, doch sollte man zumindest festhalten, dass Religionsfreiheit, good governance und Demokratie zumindest auf dem Papier die Grundlagen der europäischen Grundrechtecharta darstellen. Keinen dieser Punkte konnte die CHP je erfüllen und das wissen die Türken in der Diaspora noch sehr gut, denn sie sind nicht wegen Erdogan, sondern den Kemalisten nach Deutschland ausgewandert. Nicht, dass Erdogan eine Lichtgestalt… Mehr

Mugge
9 Monate her

Ich glaube nicht , dass der erwähnte „innere Kompass“ , den ich im Zusammenhang mit den beiden vorangegangenen Sätzen als Euphemismus für Islam betrachte , den gerade scheiternden westlichen Werten in irgendeiner Weise nützlich sein könnte. Ganz im Gegenteil, verhindert er doch eher eine Rückbesinnung auf diese, zumal sie auf jüdisch-christlichem Fundament stehen.
Hätten Sie diese Apologie auch verfasst , würde es sich um AfD Wähler handeln ?

Kassandra
9 Monate her

Man hat das gewusst. Helmut Schmidt hat den Islam als extrem integrationsunfähig immer genannt. Und Merkel hat die Tür dennoch, obwohl das Kind schon im Brunnen lag, für das in das überhebliche Konstrukt hineingeborene Prekariat aus aller Welt geöffnet – und Scholz schließt sie nicht. Integration ist eine Schimäre. Bestenfalls passen sich Menschen so an, dass sie weniger bis nicht auffallen. Das dürfen solche mit moslemischem Hintergrund aber nicht, denn der Koran verbietet ihnen, so zu werden wie wir. Sie sind aufgerufen, gegen die „Ungläubigen“ zu kämpfen. Bill Warners kritische Betrachtung auf 39 Seiten sind grundlegend für alle, die mehr… Mehr