Liebe Leser

Tomas Spahn antwortet Lesern auf ihre Kommentare zu seinem - wahrlich nicht leichten Stoff - im Beitrag „Die Figur des Jesus im Koran“.

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Manch einer mag sich gewundert haben über den Text „Die Figur des Jesus im Koran“. Es war ein Experiment zu sehen, wie weit die Leserschaft hier bei TE bereit ist, in die Tiefen religions-historischer Fragestellungen einzusteigen. In Themen, die scheinbar derart weit weg sind, dass sie für unsere Gegenwart keine Relevanz mehr zu haben scheinen. Tatsächlich fiel der Text dann auch aus dem üblichen Rahmen von TE – ob Blog oder Print. Denn wir sind selbstverständlich dem Aktuellen verpflichtet – dem, was uns unmittelbar angeht.

Gottessohn oder „nur“ ein Prophet
Die Figur des Jesus im Koran
Doch damit sind wir schon fast beim Kern. Ich nutzte das Zitat des evangelischen Religionsphilosophen Paul Tillich bereits in der „Panik-Reihe“. Tillich beschreibt Glauben als „das Ergriffensein von dem, was uns unbedingt angeht“. Ich räume ein, dass ich mit dieser Definition anfangs wenig anzufangen wusste. Für mich ist „Glaube die Wahrheitsannahme einer unbeweisbaren Wahrheitsvermutung und Religion der Wahrheitsanspruch einer Wahrheitsannahme einer unbeweisbaren Wahrheitsvermutung.“ So schrieb ich es 2015 in meinem Text „Von der Richtigkeit der Wahrheit der Wirklichkeit“ [in „Wahrheit – Religion –Wirklichkeit“, ISBN 978-3-943726-69-5].

Die Dimensionen von Glauben und Wissenschaft

Für den Theologen Tillich manifestiert sich in diesen beiden Positionen der Konflikt zwischen „der Wahrheit des Glaubens und der Wahrheit der Wissenschaft“ – was ihn zu der zutreffenden Feststellung führt, dass es sich dabei „nicht um einen Konflikt zwischen Glaube und Wissenschaft, sondern zwischen einem Glauben und einer Wissenschaft (handelt), die vergessen haben, zu welcher Dimension sie gehören“. Tillichs Überlegungen decken sich insoweit mit den meinen, als ich seinerzeit im Vorwort zum „Biblikon-Projekt“ (ISBN 978-3-943726-01-5) bereits darauf hinwies, dass die im Sinne Kantischer Welterklärungsversuche unternommene, wissenschaftliche Befassung mit Religion tatsächlich nichts mit der theologischen Selbsterklärung von Religion zu tun hat. Eine Diskrepanz allerdings bleibt bestehen und ist auch nicht zu überwinden: Für mich sind „Religion“ und „Wahrheit“ zwei Begriffe, die nicht miteinander vereinbar sind. Ich formulierte dieses seinerzeit wie folgt: „Religionen beruhen niemals auf ‚der Wahrheit‘, sind jedoch immer prägend für das, was wir als Wirklichkeit zu konstatieren haben.“ Mein aktueller Text bei TE ist insofern auch kein theologischer gewesen.

Damit nun sind wir dennoch an einem Punkt, auf den manche der Kommentatoren unmittelbar ansprangen. Und der dennoch schnell geeignet ist, uns auf eine falsche Fährte zu führen.

Tatsächlich ist es für den „Glaubenden“ irrelevant, ob es Personen wie Mose, Jesus oder Mohamed tatsächlich als real existierende Personen gegeben hat. Für den Glaubenden steht dieses jenseits jeglicher wissenschaftlicher Nachweisbarkeit außer Frage – es ist ihre „Wahrheit“ im Sinne Tillichs. Wie sehr diese gedachte „Wahrheit“ dann aber doch tatsächliche Relevanz entwickelt – davon zeugen die in den römischen Arenen ermordeten Christen, die im Namen Christi ermordeten und versklavten Bevölkerungen vor allem Amerikas, die Millionen von Christen und „Ungläubigen“, die im Namen des Islam ermordet wurden und werden. Deswegen, „Rainer Franzolet“, ist es in der Auseinandersetzung mit dem „Gläubigen“ letztlich auch unbedeutend, ob Mohamed eine Phantasiefigur gewesen ist oder nicht. In der geschichtswissenschaftlichen Betrachtung mag diese Frage überaus spannend sein – da sind Zweifel an der islamischen Legende und die Suche nach den Quellen, der sich „Hanna Jüngling“ widmet, durchaus angebracht. In der Auseinandersetzung zwischen den Religionen und den aktuellen Debatten in unserer Gesellschaft  jedoch verliert sie jedwede Relevanz.

Damit aber hat nun auch im nicht-theologischen Sinne Tillich dann recht, wenn wir das „Ergriffensein“ als „Betroffensein“ verstehen und dieses auf jenes „was uns unbedingt angeht“ beziehen. Denn wie sehr uns die imaginäre „Wahrheit“ von Religionen angeht, das erleben wir mittlerweile hautnah alltäglich vor unserer Haustür. Wir erleben es, wenn uns „Gläubige“ Bekleidungs- und Verhaltensvorschriften aufdrängen wollen, unsere Kinder in Kindergarten und Schule wegen ihres Mettwurstbrotes angefeindet werden, Weihnachtsmärkte in „Wintermärkte“ und „Weihnachtsfeiern“ in irgendwelche „Lichterfeste“ umfunktioniert werden sollen. Da sollte selbst der überzeugte Atheist begreifen: Hier geht es um nichts anderes als einen akuten Krieg der Religionen, der sich gegen eine aus Glaubenstradition gewachsene und deshalb vorgeblich zu überwindende Kultur richtet.

Die Substanz von Religion

Blicken wir deshalb nun auf Kommentator „Keno tom Brok“. Er schreibt zum Ende eines langen Textes „Nehmen Sie es mir bitte nicht übel, wenn ich daher Ihren informativen Artikel nicht entsprechend goutieren, bzw. würdigen kann. Aber momentan habe ich wirklich andere Sorgen.“

Vorab: Selbstverständlich nehme ich es ihm nicht übel, denn jeder Text ist immer nur ein Angebot. Niemand ist gezwungen, ihn zu lesen – niemand ist gezwungen, die dargestellte Auffassung zu seiner eigenen zu machen. Und dennoch ist gerade der Kommentar von Keno tem Brok sehr spannend, denn in seiner Ablehnung des Religiösen an sich beschäftigt er sich recht intensiv mit der alltäglichen Gegenwart genau dieser religiösen Komponente. Er erinnert dabei an den überzeugten Atheisten, der nicht nur in Web-Foren sich ellenlang darüber ereifert, wie unsinnig jegliche Beschäftigung mit einem Gott sei, denn man müsse keinen einzigen Gedanken an etwas verschwenden, das es nicht gäbe – und der dennoch genau dieses tut in dem glaubensgleichen, missionarischen Eifer, den Gläubigen überzeugen zu müssen, dass dieser auf dem Holzweg sei. Es ist so, wie Tillich sagt: Die Frage nach Gott ist etwas, was beide gleichermaßen angeht: Den Theisten wie den Atheisten, den Religiösen wie den Anti-Religiösen.

Führen wir Religion auf ihre eigentliche, ihre ursprüngliche Substanz zurück, dann finden wir darin die ewige Suche des Menschen nach Erklärungen für das ihm Unerklärliche. Weshalb den Christen ihr Gott mit jeder neuen Erkenntnis der Wissenschaft in der räumlichen und damit letztlich auch in der metaphysischen Dimension Stück für Stück entrückt ist – nicht mehr auf den Wolken, ja nicht einmal mehr irgendwo in den Tiefen des Alls anzunehmen sein kann. Wo also ist dieser Gott? Eine kluge Antwort auf diese Frage gab ein weiser Mann bereits vor 800 Jahren. Ich werde ihn zum Abschluss zitieren.

Bis dahin begnüge ich mich mit der Feststellung, dass ich bislang kein vernünftigeres Religionsmodell gefunden habe als jenes der australischen Erstbesiedler. Für sie ist – kurz gefasst – die Welt eine Einheit aus allem, was existiert, existiert hat und existieren wird. Weil diese Welt eben nichts anderes ist als ein ständiger Schöpfungsprozess, in dem nichts verloren geht und jedes in irgendeiner Daseinsform immer sein wird – materiell eine Feststellung, die jeder Physiker bedenkenlos unterschreiben kann. Transzendent insofern zutreffend, weil in uns allen das fortwirkt, was vor uns geschehen ist, und in unseren Nachkommen wir selbst weiterwirken. Womit das, was Christen als „Seele“ bezeichnen, dann auch tatsächlich so lange den Tod überdauert, wie die Erinnerung an den Toten oder dessen Wirken in uns, für uns Bestand hat. Das möglicherweise darüber hinaus Gehende in seiner ganzen Komplexität zu erfassen – das wird dem sterblichen Menschen ohnehin unmöglich bleiben.

Da könnte nun auch die Antwort auf die Frage von „Hippiemädchen“ liegen: „Wem nützt dieses ‚Wissen‘? – Ändert sich für uns etwas?“

Tatsächlich will diese Frage auf den ersten Blick verständlich scheinen: Was interessiert es uns heute, wie vor bald zwei Jahrtausenden Kirchenmänner untereinander gestritten haben? Nichts, möchte man meinen – und dem wäre so, wenn es tatsächlich ein Streit wäre, der irgendwann einmal seinen finalen Abschluss gefunden hätte. Tatsächlich aber hat er es nicht. Denn mit Behauptungen wie „Der Islam anerkennt Jesus“ oder „Allah ist derselbe Gott wie Jahwah und der Christengott“, mit denen wir tagtäglich konfrontiert werden, findet dieser Konflikt tatsächlich auch auf unseren Straßen und in unseren Köpfen statt.

Es geht also nicht nur um „Wissen“ als unvermeidbare Grundlage zur Welteinordnung im Sinne Kants. Wer in dieser dann doch unsere Wirklichkeit ständig tangierenden, fundamentalen Frage Wissen aus ideologischen Gründen verweigert, weil er mit Religion nicht belästigt werden will, oder sich damit nicht beschäftigen möchte, weil es uns doch nichts mehr angeht, der verkennt die Dynamik und den Herrschaftsanspruch, mit dem zumindest eine dieser selbsternannten Religionen heute wieder antritt. Und er darf sich dann nicht wundern, eines Tages unter einem religiös begründeten Diktat aufzuwachen.

Wohin zielt Religion?

kicknrush“ liegt mit seiner Einschätzung des Islam im Grundsatz richtig. Der Islam lehnt jegliches universale Entwicklungsprinzip grundsätzlich ab. Die Welt ist so, wie Allah sie geschaffen hat – und die einzige, wirkliche Aufgabe des echten Muslim besteht darin, der Anbetung dieses Allah und seines vorgeblichen Propheten weltweit Durchsetzung zu verschaffen. Sicherlich aber ist der Islam nicht die Urform des Faschismus. Denn im koranischen Sinne faschistisch waren auch vor dem Islam bereits menschliche Gesellschaften. Uneingeschränkt zutreffend aber ist, dass die vom Islam angestrebte Gesellschaft kollektivistisch und totalitär ist. Damit ist diese Gesellschaft unvereinbar mit Staatsformen, die auf den Erkenntnissen der europäischen Aufklärung beruhen. Zu wissen, wie und woher sich diese Unvereinbarkeit einst entwickelt hat, ist insofern durchaus zweckmäßig.

Spannend ist ein Aspekt, den „hasenfurz“ angeführt hat. Hat der Koran eine transzendente Erhöhung des Menschen zur Absicht? Ist die eingeforderte Hingebung ein Weg des Individuums zu mehr spiritueller Kraft? Tatsächlich ist der Koran selbst beherrscht von einem Bestrafungs- und Belohnungssystem. Es stellt den Menschen lediglich vor die Alternative, zu gehorchen und dafür vorrangig im Jenseits belohnt zu werden – oder sich zu widersetzen und dafür bereits im Diesseits bestraft zu werden. Es ist das im Spätmittelalter dominante Prinzip des Patriarchats, in dem ausschließlich einer zu bestimmen hatte, wohin der Weg führt. Dieser eine sollte nun im Himmel wie auf Erden der Allah in der Interpretation nach Mohamed sein.

Religion als Herrschaftskonzept

Auch hier hatten sich die Autoren des Koran als lernfähig erwiesen, denn das Konzept des Monotheismus, der korrekt als Monomachotheismus bezeichnet werden sollte, weil er die Gottesfigur auf einen männlichen Charakter beschränkt, ist als zorniger, strafender Gott tatsächlich das perfekte Instrument, um eine irdische Diktatur „im Willen Gottes“ als vorgeblichen „Gottesstaat“ zu begründen. Dieses Konzept war vor Mohamed bereits im Mosaismus angelegt, der jedoch – wie ich andernorts ausführlich erläutert habe – dem Individuum im Gegensatz zum Koran das Recht auf Selbstbestimmung lässt. Und auch das sollte in diesem Zusammenhang nicht unerwähnt bleiben: Der Mosaismus ist im Gegensatz zur gängigen Auffassung anders als Christentum und Islam kein Monotheismus. Zutreffend wäre er als Solotheismus zu bezeichnen: Gott Jahwah fordert den Gehorsam ausschließlich von jenen ein, die sich als von ihm erwähltes Volk zu ihm bekennen dürfen und wollen. Der Rest der Menschheit ist ihm nebst deren Göttern egal – weshalb das Judentum konsequenterweise auch auf jegliche Mission verzichtet.

Das Christentum hingegen taugt, wenn wir es auf seine Evangelien beschränken, nur wenig als weltliches Herrschaftsinstrument. Weshalb die Übernahme des Alten Testaments mit seinem strafenden Gott ebenso wie der Alleinvertretungsanspruch einer einzigen, klerikalen Interpretation durch die römischen Kaiser vorrangig eben auch dem Ziel diente, damit einen intoleranten, totalitären Staat durchsetzen und rechtfertigen zu können. Religion ist insofern auch ein Herrschaftsinstrument; ein Versuch, menschliche Gesellschaften zu ordnen. Der innerchristliche Streit um die „Natur“ Jesu war nicht nur ein theologischer – es war auch ein Streit um die Herrschaft und die Deutungshoheit im christlich geprägten Staat.

Eben deshalb aber geht es uns sehr wohl an, was Religionen behaupten und welche Ansprüche sie geltend machen wollen. Denn ihre gedachte Wahrheit ist das, was unsere Wirklichkeit bestimmt – ob wir es wollen oder nicht. Die Frage, sich dagegen zu wehren oder sich dem zu unterwerfen, ist keine akademische, keine theologische.

Wo Gott vielleicht zu finden ist

Es ist heute nicht immer nachvollziehbar, wann und aus welchem Anlass welche neutestamentarischen Zusätze konkret entstanden sind. Die Johannes-Bücher sind ganz offensichtlich erst zu einem Zeitpunkt geschrieben worden, zu dem das Entstehen des Christentums bereits mehrere Jahrhunderte zurücklag. Insofern hat „rheinschwimmer“ mit seiner Feststellung, die sich auf den Jerusalemer Tempelberg verirrenden, obersten Glaubenshirten der deutschen Christenheit seien „charakterlose Opportunisten, die für ein Linsengericht ihren Gott und Herrn verleugnen. Lutherisch und deutlich, sie sind Diener und Vollstrecker des Antichristen“ ebenso wie ich selbst nur dann recht, als beide Herren sich als Vertreter der vollständigen christlichen Bibel als ihrem religiösen Gebot begreifen – und sich nicht ausschließlich aus den Evangelien speisen, in denen Jesus selbst einen Gottessohn-Anspruch zu keinem Zeitpunkt erhoben hat und die theologische Frage nach seiner Natur nicht erläutert werden konnte. Für diese Kleriker der Bibel  allerdings gilt das Johannes-Buch als Teil ihres Arbeitsauftrags. Nicht so aber für Jesus selbst.

Tatsächlich dürfte sich der christliche Messias als Neuerer des Judentums, so er tatsächlich gelebt hat, sehr gut mit jenem Herrn verstanden haben, dessen Antwort auf die Frage, wo Gott ist, ich bereits angekündigt hatte. Es handelt sich dabei um den im heutigen Afghanistan geborenen Dichter Dschalal ad-Din Muhamad Rumi, der sich, da ihm in seinem 13. Jahrhundert in seiner zwangsislamisierten, kleinasiatischen Wahlheimat alles andere den Tod gebracht hätte, offiziell zum Islam bekennen musste – und dessen Dichtung doch mit religiösem Herrschaftsanspruch so überhaupt nichts gemein hat:

„Ich versuchte, ihn zu finden am Kreuz der Christen, aber er war nicht dort. Ich ging zu den Tempeln der Hindus und zu den alten Pagoden, aber ich konnte nirgendwo eine Spur von ihm finden. Ich suchte ihn in den Bergen und Tälern, aber weder in der Höhe noch in der Tiefe sah ich mich imstande, ihn zu finden. Ich ging zur Kaaba in Mekka, aber dort war er auch nicht. Ich befragte die Gelehrten und Philosophen, aber er war jenseits ihres Verstehens. Ich prüfte mein Herz, und dort verweilte er, als ich ihn sah. Er ist nirgends sonst zu finden.“

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