Der Schlüssel zum Verständnis liegt bei einer Prophetin namens Hulda

Ist, wie viele Theologen meinen, zum Alten Testament tatsächlich alles gesagt? TE-Autor Tomas Spahn ist anderer Auffassung. TE veröffentlicht die Zusammenfassung seiner Überlegungen zur Entstehung des Monotheismus als Serie. Teil 7 handelte von: Keine jüdische Geschichte vor dem siebten vorchristlichen Jahrhundert. Heute Teil 8

IMAGO / agefotostock

Unmittelbar konnte ich keine der nun vorliegenden Fragen mit einen Ja beantworten. Deshalb stellte ich nun jene Dame in den Mittelpunkt meiner Expedition in den Tanach, die bis heute als Prophetin des Jahɰah gilt: Chélédah, oder, wie die europäisierte Bibel schreibt, Hulda. Nicht zuletzt, um meine bisherigen Ergebnisse zu hinterfragen, ging davon aus, dass es sich bei Hulda tatsächlich um eine Prophetin des Jahɰah gehandelt hat.

Hulda und der Kleiderhüter

Der Tanach ist mit seinen Informationen zu dieser Dame überaus zurückhaltend. Eigentlich beschränken sich diese Information auf nur zwei Mitteilungen. Zum einen soll Hulda mit dem Hüter der Kleider verheiratet gewesen sein. Zum anderen war sie im zweiten Bezirk der Stadt Jerusalem anzutreffen.

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Nicht zuletzt, um der Kleiderhüter-Funktion des Ehemannes auf die Spur zu kommen, stellte ich die Frage, was unter dem zweiten Bezirk zu verstehen war und welche Bedeutung diese Mitteilung hatte.

Durch meine Besuche in Jerusalem wusste ich, dass die mittelalterliche Altstadt in ethnisch-religiös begründete Stadtviertel unterteilt war. Es gab für mich keinen Grund zu der Annahme, dass das vor 2600 Jahren nicht auch so gewesen war. Da die auf den Weg geschickten Männer als eingefleischte Jahɰahianer zu verstehen waren, konnten sie meiner damaligen Ansicht nach nur aus dem jüdischen Viertel der Stadt kommen. Sie gehörten somit zu der seit Jahrhunderten ortsansässigen Bevölkerung.

Der zweite Bezirk musste demnach einer sein, in dem eine andere ethnisch-religiöse Bevölkerungsgruppe siedelte. Da es Muslime und Christen seinerzeit noch nicht gab, fielen mir ad hoc nur jene Israeli ein, die knapp einhundert Jahre zuvor der Kriegswalze Assyriens durch die Flucht nach Süden zu entgehen suchten. In meiner Vorstellung entwickelte sich ein Jerusalem, das maßgeblich von zwei Gruppen bevölkert war: Die der ortsansässigen Jahudaher und die der Nachkommen jener Flüchtlinge aus dem Norden. War Hulda eine Vertreterin dieser Gruppe? Benötigte Josia ihre Zustimmung, um die Migrantenkinder auf seine Politik einzuschwören? Oder – um es religiös zu beschreiben – sollten die im Glauben an Jahɰah möglicherweise noch nicht gefestigten Zuwanderer für eben diesen Glauben gewonnen werden?

Die Prophetin

Der Tanach beschreibt Hulda lediglich als Prophetin. Dass sie eine Prophetin des Jahɰah gewesen ist, steht dort nicht. Diese Auffassung ist lediglich eine Interpretation, die daraus abgeleitet wird, dass Josia seine Männer wegen der Verifizierung der aufgefundenen Jahɰah-Worte auf den Weg schickt – und weil Hulda im Namen des Jahɰah antwortet.

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Unabhängig davon, dass Letzteres nicht zu der Vorstellung passte, es mit einer Nicht-Jahɰah-Prophetin zu tun zu haben, war jedoch unzweifelhaft, dass sie nicht am Standort der herrschenden Jahɰahisten anzutreffen war. Damit wiederum schied die Annahme, bei ihrem Gatten handele es sich um den Chef der Königlichen Kleiderkammer, faktisch aus. Denn es entsprach nicht der Zeit, dass ein solch wichtiger Mann irgendwo eine Stadtwohnung hatte, vielmehr musste er als Hüter der herrschaftlichen Kleiderkammer zwangsläufig auch im Regierungspalast wohnen. Seine Gattin hätte sich folgerichtig ebenso dort aufhalten müssen – was sie jedoch nicht tat.

Hinzu kam eine weitere, indirekte Information des Tenek, die mich irritierte. Ohne jeden Zweifel war das, was auf den Buchfund folgte, eine religiöse Restitution. Wenn es nun zu diesem Zeitpunkt eine Prophetin des Jahɰah gegeben hat – wer wäre besser geeignet gewesen, sich an die Spitze dieser Restitution zu stellen als eben diese Frau? Doch im Tanach hat sie nur diesen einen einzigen Auftritt. Man hört nie wieder von ihr. Das erschien mir zumindest befremdlich.

Wer welche Kleider hütet

So begab ich mich mangels anderer Informationen auf die Suche nach Hinweisen, welche Kleider außerhalb des Palastes möglicherweise eines Hüters bedurften. Die Vorstellung, dass mit dieser Bezeichnung der Inhaber einer Groß-Boutique gemeint gewesen sein könnte, entsprach zwar dem Vorstellungsbild der modernen Welt des zwanzigsten und einundzwanzigsten Jahrhunderts, nicht aber der eines antiken Jerusalem. Damals gab es keine Kleiderproduktion von der Stange. Die Bekleidung der Bevölkerung entstand entweder in den Familien selbst oder für den, der es sich leisten konnte, durch einen Schneider. Und selbst wenn es so gewesen sein sollte – warum fanden die Autoren es der Erwähnung wert, dass Hulda die Ehefrau eines Großschneiders gewesen war?

Der Hinweis auf eine Alternative zur königlichen Kleiderkammer fand sich nur wenige Zeilen später im Quelltext in Vers 2307 des zweiten Königsbuches: „Und er riß die Häuser der Buhler nieder, die sich im Hause Jehovas befanden, worin die Weiber Zelte webten für die Aschera.“

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Demnach gab es zur Zeit des Josia im Jahɰah-Tempel Gebäude, die „Buhlern“ gehörten und in denen „Weiber“ für die polytheistische Asherah webend tätig waren. Dass hier von „Zelten“ die Rede war, schob ich auf eine Fehlinterpretation, die sich daraus ableitete, dass nicht nur zu jener Zeit eben „Zelte“ aus Stoffbahnen hergestellt wurden. Tatsächlich dürften die Weiber also damit beschäftigt gewesen sein, Stoffbahnen zu wirken. Warum aber taten sie dieses für Asherah – und warum befanden sich ihre Arbeitsstätten im Großen Tempel von Jerusalem? Die Vorstellung, dass Frauen damit befasst waren, für Kulthandlungen der Asherah Bekleidung zu produzieren, war jedoch alles andere als abwegig. Wollte der Tanach mit seiner Formulierung uns dieses beschreiben?

Vieles sprach dafür – vor allem eben der Hinweis darauf, dass diese Gebäude von Josia und seinen Leuten im Zuge der Glaubensrestitution niedergerissen wurde. Selbst der Tanach räumt ein: Der große Tempel von Jerusalem war zwar dem Jahɰah geweiht, doch er wurde von den Polytheisten ebenfalls genutzt. Denn sonst hätte man kaum eine solche Mühe darauf verwenden müssen, die Beseitigung der entsprechenden Kultgegenstände mehrfach und detailreich zu beschreiben. Damit hätten wir auch eine plausible Erklärung für die Aufgabe des Kleiderhüters: Die Aufgabe des Sallum war es, die rituellen Gewänder zu verwalten.

Keine Ehe zwischen Heiden und Monotheisten

Die rituellen Gewänder? Welche rituellen Gewänder? Wenn die Jahɰah-Prophetin die Gattin des Hüters der rituellen Gewänder gewesen ist, dann kann es sich dabei kaum um Gewänder gehandelt haben, die im Dienst für Asherah zum Einsatz kamen. Multikonfessionelle Ehen mag es auch damals schon gegeben haben – die Vorstellung aber, dass eine Sprecherin des Jahɰah mit einem bedeutenden Kirchenmann eines konkurrierenden, „heidnischen“ Klerus verheiratet gewesen sei, erschien mir angesichts des im Tanach ständig geschilderten Konflikts zwischen Jahɰah-Kult und der polytheistischen Götzenanbetung absurd. Auch erfahren wir zwar, dass für die Asherah Stoffe gewebt wurden – nichts aber darüber, dass Vergleichbares auch für Jahɰah geschah.

Sallum, der nunmehr als ein bedeutender Vertreter des Klerus identifiziert war – und es spielte dabei im Moment noch eine untergeordnete Rolle, dass es nur Hinweise auf polytheistische Kleiderkammern des Ritus gab – konnte seinen Aufenthalt den Gepflogenheiten der Zeit entsprechend nur im Tempel haben. Das wiederum bedeutete zwingend, dass auch Hulda im Tempel anzutreffen gewesen sein musste.

Warum muss Josia die Hulda befragen?

Wenn es so war, warum hatte Josia dann nicht einfach die Order gegeben: „Geht zum Jahɰah-Tempel und klärt für mich und das Volk von Jahudah, ob diese Worte authentisch sind?“

Auch schien mir in diesem Falle die Frage berechtigt, warum Josia nicht auf die höchste, uns im Tanach präsentierte Instanz des Jahɰah-Kultes, seinen Vertrauten und Hohepriester Hilkia, zurückgriff? Vielmehr wird dieser Mann selbst mit auf den Weg geschickt, um die Bestätigung der Worte einzuholen. Und dieses, obgleich dieser doch bereits mit der Übergabe des Buches an den Herrscher sein entsprechendes Testat abgegeben hatte. Traute Josia dem wichtigsten Mann seiner Kirche nicht über den Weg? Kaum vorstellbar angesichts der engen Verbindung, die zwischen beiden Männern nach Darstellung des Tanach bestanden haben muss.

Auf den ersten Blick konnte dieses Vorgehen nur eines bedeuten: Es gab im Jahɰah-Klerus eine Person, die über Hilkia stand – eben jene Hulda. Doch auch diese Möglichkeit warf eine Reihe von Fragen auf, die einer Beantwortung harrten.

Warum wurde diese wichtigste Person des Judentums, die noch über dem höchsten Priester steht, nicht von vornherein mit einbezogen in die Restaurierung des Tempels?

Warum wendete sich Hilkia nach dem Fund erst an den König und nicht an seine ihm in der Kirchenhierarchie vorstehende Chefin?

Und erneut: Warum erfahren wir über die wichtigste Person des Judentums nichts mehr, als die Durchsetzung ihres Glaubens sogar mit Feuer und Schwert erfolgt?

Die Darstellungen des Tanach und die darauf basierenden Interpretationen erschienen mir von Zeile zu Zeile unglaubwürdiger. Es fehlte ihnen das, was ich unter einer inneren Logik verstehe. Die Informationen passten in irgendeiner Weise nicht zusammen, sie waren nicht schlüssig und hielten dem Aufbau logischer Ketten nicht stand.

Die „Ehe“ – ein Misverständnis?

Also suchte ich nach anderen Erklärungen. Eine konnte sein, dass es sich bei der Ehe-Behauptung zwischen Hulda und Sallum um ein Missverständnis handelte. Für einen Mann wie Luther war eine Verbindung von Mann und Frau nur als das zu verstehen, was als bürgerliche Ehe bezeichnet wird. Ein Bund fürs Leben, abgesegnet von Gott – und wenn es denn sein muss, darüber hinaus auch noch von weltlichen Stellen.

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Die bürgerliche Ehe unserer Vorstellung war jedoch den Semiten unbekannt. Es war selbstverständlich, dass Männer sich viele Weiber nehmen konnten – und in einer Kultur, in der die männliche Bevölkerung überwiegend damit beschäftigt war, den eigenen Wohlstand durch Raubzüge zu mehren oder sich in Eroberungsfeldzügen für ihre Herrscher den Kopf einschlagen zu lassen, mochte die Vielweiberei ohnehin eine kulturpolitische Notwendigkeit sein.

Das ging so weit, dass Witwen in den Haushalt ihres Schwagers übergingen, der Beischlaf mit „Kebsweiber“ und das Begatten von Sklavinnen selbstverständlich war. Nicht ohne Abscheu beschreibt der Tanach an anderer Stelle, dass es sogar einen Fall gegeben habe, wo die Töchter ihren Vater mangels anderer Alternative zum Beischlaf genötigt haben. Unter dem Strich diente all das jedoch nur einem Ziel: Der Erhalt des Stammes und der Sippe musste gesichert werden. Um es zynisch zu formulieren: Die Krieger brauchten beständig Nachschub an Kanonenfutter, und sie taten alles, um diesen zu gewährleisten.

War folglich Hulda eher in diesem Sinne mit Sallum verbandelt? Passte das zu der Vorstellung, dass sie die bedeutendste Klerikerin des Judentums gewesen sein muss? Nicht wirklich.

Warum wird Hulda zur Ratte?

Wenn nun möglicherweise in Sachen Ehe eine Fehlinterpretation vorlag – konnte die Verbindung zwischen dem Kleiderhüter und der Prophetin nicht auch anderer Natur gewesen sein? War es möglich, dass der Tanach uns nicht über die ohnehin unbedeutenden familiären Verhältnisse der beiden aufklären wollte, sondern mit seiner Formulierung auf ein funktionelles Paar hinweist? Hatten Hulda und Sallum möglicherweise beruflich miteinander zu tun? War ihre Verbindung institutionell? Um diese Möglichkeit zu prüfen kam ich auf die Idee, in der Bezeichnung Hulda keinen Eigennamen zu sehen, sondern eine Funktionsbeschreibung. Das allerdings stellte sich als nicht weniger problematisch heraus.

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Die Buchstabenreihe cH-L-D-H (הדלח) steht im Ivrit für ein unreines Nagetier – eine Ratte. Allein das ist schon verwirrend. Wer nennt sein Kind „Ratte“? Mehr noch: Wie kann es sein, dass eine bedeutende Prophetin des Judentums als „Ratte“ bezeichnet wird – unabhängig davon, ob das ihr Taufname oder ihre Funktionsbezeichnung ist?

Diese Bezeichnung taucht im Tanach nur zweimal auf: Einmal im Königsbuch und einmal in der Chronik. Andere Namensbezeichnungen, die selten oder singulär auftreten, hatten gezeigt, dass identische Personen durchaus mit abweichenden Namen auftreten (so auch der vorgebliche Gatte der Hulda). Hinzu kam eine weitere Überlegung: Wenn es sich bei Hulda um eine Funktionsbezeichnung gehandelt haben sollte, dann wäre entsprechend den hebräischen Schriftgewohnheiten davon auszugehen gewesen, dass die eigentliche Funktion mit dem persönlichen Artikel eingeleitet wird. So wie dieses beispielsweise des Öfteren beim „der König“ (ךלמה . h‘mélék) oder „der Priester“ (ןהכה . h‘kéhén) der Fall ist. הדלח hätte in diesem Falle als הדלחה auftreten müssen. Oder hatten sich die Autoren eines im wahrsten Sinne des Wortes klitzekleinen Kniffs bedient? Das hebräische ה als bestimmter Artikel wird auch in der handschriftlichen Version durch eine minimale Verlängerung des linken Strichs zu einem ח – dem ch der Cheledah. War es vorstellbar, dass die Autoren – aus welchen Gründen auch immer – eine h‘lédah zur chéledah umgeschrieben hatten? Und wenn es so war – warum hätten sie das tun sollen? Warum sollte jemand aus der jüdischen Ledah eine Ratte machen?

So begab ich mich auf die Suche nach der Übersetzung einer hebräischen L-D-Kombination. Dabei unterstellte ich, dass das Endungs-h wie in zahlreichen anderen Wörtern auf die Weiblichkeit des Begriffes hinweist. Es ging somit darum, eine die Funktion einer Frau (was Hulda unzweifelhaft gewesen ist) beschreibende Tätigkeit zu finden. Ich stieß auf zahlreiche Begriffe, die diese Kombination L-D beinhalteten. Sie alle hatten eines gemeinsam: Sie drehten sich um Geburt, Zeugung, Fruchtbarkeit.

War also Hulda / Chélédah eine verballhornte Variante einer Dame mit der Bezeichnung „die – Fruchtbarkeit – weiblich“? Und wenn es so war: Warum hatten die Autoren diese Frau zu einem im Sinne des Judentums unreinen Nagetier umfunktioniert? Ein dummer Zufall? Oder Absicht?

Wenn Hulda eine Bezeichnung für etwas war, das gleichermaßen mit Religion und Fruchtbarkeit zu tun hatte – und wenn der mit ihr in welcher Weise auch immer verbandelte Sallum ein funktioneller Kleiderhüter war – und wenn der Tanach den Hinweis gab, dass derartige Kleider im Kult der Asherah eine Rolle spielten …

Lesen Sie in Teil 9, was es mit Hulda tatsächlich auf sich hat. Und warum deren Rolle einen Schlüssel zum Verständnis des Alten Testaments liefert.


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