Ist Reformpolitik nur in der Krise politisch durchsetzbar?

„Noch läuft es recht gut“, urteilt die NZZ , aber: „Offensichtlich muss der Leidendruck erst stärker werden, damit wichtige Reformen endlich gelingen.“

Die vierspaltige Überschrift, mit der das liberal-bürgerliche Schweizer Leitmedium, die Neue Zürcher Zeitung in einem großen Aufmacher ihre Leser kurz vor dem Jahreswechsel konfrontierte, ist so bitter wie richtig: „Es muss uns zuerst schlechter gehen.“ Traurig ist diese Aussage für uns alle, ob Regierende oder Regierte, ob Unternehmer oder Arbeitnehmer, ob Produzenten oder Konsumenten, ob Journalisten oder Leser: Vorausschauendes und vernünftiges Handeln scheint im permanenten Widerspruch zu den Mechanismen des politischen Betriebs zu stehen – auch und gerade in demokratischen Systemen, in denen das Volk als Souverän die Regierenden auch abwählen kann.

Was geschieht mit dem EURO?
Ausblick 2019: Steigen die Zinsen? Krachen die Banken?
Zehn Jahre Hochkonjunktur in Deutschland wurden viel zu wenig genutzt für die Lösung struktureller Probleme. Statt unsere Wettbewerbsfähigkeit wieder zu verbessern und unsere Sozialversicherungen auf den demografischen Wandel vorzubereiten, nahmen (und nehmen) CDU/CSU und SPD in immer kleiner gewordenen Großen Koalitionen ebenso wie die konservativ-liberale Regierung (2009 bis 2013) Zug um Zug Reformen zurück, die von einer faktischen Allparteienkoalition vor 16 Jahren zu Zeiten Gerhard Schröders als Agenda-2010-Projekt beschlossen worden waren.

Damals, nach einer langen Phase des wirtschafts- und sozialpolitischen Reformstillstands, galt Deutschland zu Recht als „kranker Mann“ Europas. Doch der sozialdemokratische Bundeskanzler nutzte die Krise zu einer arbeitsmarkt- und sozialpolitischen Kehrtwende, die das Arbeitgeberlager verwunderte, die Gewerkschaften verstörte und die linke Volkspartei SPD in eine existenzielle Krise stürzte. Die Wähler goutierten die Reformpolitik der SPD nicht. Sie verlor erst ihr Kernland Nordrhein-Westfalen und dann die vorgezogenen Bundestagswahlen 2005. Außerdem erntete sie eine neue linke Konkurrenzpartei.

Mehr Sozialismus wagen
"Entlastungen, Investitionen" - die aktuellen Fake-News der Bundesregierung
Die SPD rettete sich zwar in eine erste Große Koalition unter Angela Merkel und schaffte dank ihres Arbeitsministers Franz Müntefering 2006 auch noch die stufenweise Erhöhung des Renteneintrittsalters auf 67 Jahre. Doch das war es dann. Obwohl Deutschland dank der maßgeblich von einer SPD-geführten Bundesregierung angestoßenen Reformen nicht nur die Folgen der Finanzkrise 2008/2009 besser bewältigte als viele andere europäische Länder und die Beschäftigungsquote heute auf einem absoluten Rekordniveau liegt, bekennen sich die damaligen Reformer nicht zu den Früchten ihrer Arbeit, sondern arbeiten in einer Allparteienkoalition an der faktischen Abwicklung dieser Erfolgsbedingungen.

Der damals liberalisierte Arbeitsmarkt wurde und wird in einem Ausmaß rereguliert, das einem gerade angesichts der bevorstehenden Digitalisierungsoffensive (künstliche Intelligenz ersetzt menschliche Produktivkraft) große Sorgen machen muss. Im Unternehmenssteuerrecht herrscht seit einem guten Jahrzehnt gesetzgeberischer Stillstand, weshalb sich Deutschland zum Hochsteuerland par excellence entwickelt hat. Die Forschungs- und Entwicklungsinvestitionen inländischer Unternehmen suchen sich aus steuerlichen Gründen zunehmend ausländische Standorte. Schleichend koppelt sich Deutschland damit von den Produktivitätschancen der digitalen Zukunft immer weiter ab.

Ideologiekosten
Energiebilanz 2018 - Strom wird zum Luxusgut
Mit der Politik der offenen Grenzen hat Deutschland in den vergangenen Jahren mehrheitlich langfristige Kostgänger des Sozialstaats ins Land gelassen, statt mit einer gesteuerten Einwanderung qualifizierte Fachkräfte anzulocken, die nicht nur für ihren eigenen Lebensunterhalt aufkommen können, sondern auch die sozialen Sicherungssysteme einer alternden Gesellschaft stabilisieren helfen. Stattdessen verliert die Bundesrepublik jährlich eine sechsstellige Zahl von erstklassig ausgebildeten jungen Menschen, die sich vom Ertrag ihrer persönlichen Leistung im nahen und ferneren Ausland mehr Netto vom Brutto versprechen als im Hochabgaben- und Hochsteuerland Deutschland.

Obwohl gerade Fachkräfte in vielen Branchen händeringend gesucht werden, hat die Politik mit dem verlockenden abschlagsfreien Angebot der Rente mit 63 bereits deutlich über eine Million Bürger vorzeitig dem Erwerbsleben entzogen und damit die Früchte der Rente mit 67 unterlaufen. Notwendig wäre schon jetzt eine weitere sukzessive Erhöhung des Renteneintrittsalters für die Zeit ab 2030. Die Hauptlast des demografischen Wandels hat die Rentenversicherung in der Dekade danach zu tragen, weil dann die starken Babyboomer-Kohorten der späten Fünfziger- und frühen Sechziger-Jahre alle im Ruhestand sind. Gleichzeitig fehlen dann Millionen von Arbeitskräften, weil die schwachen jungen Generationen das Ausscheiden der starken alten Kohorten nicht einmal ansatzweise ausgleichen.

Eine Streitschrift
Ist Demokratie noch zeitgemäß?
Alle diese Problemstellungen sind kein Geheimnis. Doch die gute konjunkturelle Lage verführt Politiker wie Bürger zu einer Selbstzufriedenheit, die in keinem Verhältnis zu den absehbaren Risiken steht. Statt Vorsorge zu treffen, wird geprasst und auf Teufel heraus konsumiert, statt in die Zukunft investiert. Vollkaskomentalität beherrscht den politischen wie gesellschaftlichen Mainstream. Der Staat soll möglichst alles richten, aber wehe, er präsentiert die Rechnung. Guido Westerwelle, der verstorbene frühere FDP-Außenminister, erntete einst wütende Empörung mit diesem Zitat: „Wer dem Volk anstrengungslosen Wohlstand verspricht, lädt zu spätrömischer Dekadenz ein. An einem solchen Denken kann Deutschland scheitern.“

Ich möchte Westerwelles Zitat ergänzen: „Wer das Volk nicht rechtzeitig auf notwendige Einschnitte vorbereitet und erst in der wirtschaftlichen Krise mit Aktionismus reagiert, wird ihm eine viel brutalere Rechnung präsentieren müssen. Vernünftige Reformpolitik wartet nicht auf die Krise, sondern sorgt vor, um sie möglichst schmerzarm zu überstehen. Deshalb muss gerade in guten Zeiten Reformpolitik betrieben werden.“ Man könnte eine solche Reformpolitik auch antizyklisch nennen. Doch darauf zu hoffen heißt angesichts der politischen Realitäten, auf den St. Nimmerleinstag zu warten. Also hilft vielleicht doch nur das Warten auf die nächste große Krise, wie die NZZ unkt.

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Kommentare ( 72 )

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Old-Man
5 Jahre her

Sie haben ja Recht Herr Metzger,aber niemand will es wahr haben. Man freut sich lieber wie Bolle über die schwarze Null,die ist aber die Folge der Vernichtungspolitik der EZB,und nur zu einem kleinen sicher,man denke an Target-2. Die Roten wollen ihre eigene Reform umbauen,aber nicht zum guten,sondern zum schlechten,ohne Konsequenzen gegen Leistungsverweigerung. Die Grünen hocken in Lauerstellung auf einen Platz am großen Pokertisch,bis es soweit ist helfen sie tatkräftig bei der Vernichtung unserer Industrien mit. Was aber hört man von Seiten der Union: blub-blub-blub,irgendwelche Sumpfgastöne,kein Konzept,nichts! Aber der Michel wollte es so,er hat diese Fußlahmen ja 2017 wieder dazu verholfen… Mehr

chino15
5 Jahre her

Es wurden meiner Meinung nach drei verhängnisvolle Kardinal-Fehler durch das Merkel-Regime gemacht:
1. die Euro/Banken-„Rettung“ – eine wirkungslose Geldvernichtung zu Lasten insbesondere der deutschen Steuerzahler
2. die ideologisch gesteuerte, völlig hirnlose „Energiewende“ mit entsprechenden Folgen für Preis- und Wirtschaftsentwicklung
3. die unkontrollierte Massenmigration in unsere Sozialsysteme.
Wenn man diese katastrophalen Fehlentscheidungen zumindest teilweise wieder zurückdrehen könnte, wären viele Milliarden an sinnlosen Ausgaben einzusparen und somit Geld für Renten, Infrastruktur u.a.m. gewonnen.

kiki667
5 Jahre her

Herr Metzger, lesen Sie doch einfach mal das, das passt gerade so gut zum Thema. Keine Chance auf Änderung, alle Klagen wurden von allen Gerichten abgelehnt. Kein Wunder, das sind alles Beamte. Von wegen unparteiische und neutrale Richter oder Staatsanwälte oder was auch immer
https://vera-lengsfeld.de/2019/01/03/eine-geschichte-von-lug-und-betrug/

Michael Loehr
5 Jahre her

An den Beiträgen hier, sieht man wie zerrissen unsere Gesellschaft ist, auch wenn es uns noch halbwegs gut geht. Als Unternehmer sehe ich regelmäßig die Abrechnungen meiner Mitarbeiter und bin bestürzt, obwohl meine Mitarbeiter relativ weit vom Mindestlohn entfernt sind. Nun habe ich Mitbewerber und kann nicht einfach die Löhne erhöhen, weil ich mich dann aus dem Markt katapultiere. Und die Bruttolöhne muss ich auch erst einmal am Markt verdienen. Wer kann sich denn heute noch einen Stundenlohn von 45, 60 oder 80 Euro und mehr, plus 19 % Mehrwertsteuer leisten? Wir sind Brutto viel zu teuer und verdienen Netto… Mehr

kiki667
5 Jahre her

Und jede schmerzhafte Reformpolitik soll also immer von den Ärmsten getragen werden, Herr Metzger? Ja? Damit die Armut in Deutschland noch größer wird? Die Rentner, die von der Rentenreform betroffen sind, also ab ca.1952, wurden doch sowieso nur von hinten bis vorne betrogen und enteignet. Geschuftet haben sie aber ihr Leben lang und erhalten dann nach fast 50 Jahren Vollberufstätigkeit eine so armselige Rente, dass sie davon nicht leben können. Und wie lange sollen denn die Deutschen noch arbeiten? Bis sie umfallen? Warum schaffen es andere Länder, dass die Renten bei weniger Beiträgen wesentlich höher ausfallen als in Deutschland? Wenn… Mehr

Old-Man
5 Jahre her
Antworten an  kiki667

Reformen müssen sein,da beißt die Maus den Faden nicht ab. Das immer die kleinen getroffen werden ist irgendwo ein Ammenmärchen. Es heißt Rentenversicherung und nicht Wohlfahrtsversicherung. Gehen sie zur Versicherung und schließen einen Vertrag ab,dann bekommen sie das mit Gewinnbeteiliging raus was sie eingezahlt haben,wer im Monat nur 50Euro einzahlt,der kann nicht erwarten das daraus nach 45 Jahren 100.000 Euro geworden sind,so einfach ist das. Hört sich hart an,ist aber nur ganz einfache Mathematik,so ähnlich geht es auch bei der Rente,nur das da ein Rentenpunkt uas dem Durchschnitt aller Einzahler gebildet wird,dieser Wert wird dann mit der Anzahl vollzähliger Beitragsjahre… Mehr

Reimund Gretz
5 Jahre her

So einen schlecht recherchierten Beitrag sind wir bei Tichys Einblick nicht gewohnt. Da fehlt jegliches Hintergrund – Wissen zum Thema Rente und es werden lediglich die allgemeinen Plattitüden und Sprechblasen wiederholt!

Mindreloaded
5 Jahre her

Man muss sich doch die Frage stellen, warum das so ist. Diejenigen, die diese Dinge entscheiden sollen und müssen sind in keinster Weise von den Konsequenzen ihrer falschen Politik betroffen! Die Abgeordneten werden von Steuergeldern bezahlt und auch die Versorgungssysteme haben nichts mit dem normalen Rentensystem zu tun. Einer AM kann es doch völlig egal sein, ob die Sozialsysteme in die Binsen gehen oder nicht. Ihr Auskommen wird bezahlt, selbst wenn alle hier Flaschen sammeln, weil es hinten und vorne nicht reicht. Es fehlt die Kopplung von Bezahlung und politischem Erfolg. Unsere Politiker sind doch nur durch ein Günstlingswirtschaft dort,… Mehr

Nibelung
5 Jahre her

Und wer von der Völlerei ins wirtschaftlich bodenlose fällt und noch nicht einmal Ahnung davon hat was darben in der harmlosesten Form noch heißt, dem wird es besonders schwerfallen sich an Hunger und Not zu gewöhnen und das wäre dann der Stoff für übelste Auseinandersetzungen einer Gesellschaft, die leider zum Egoismus erzogen wurde und das wird dann in ungeahnter Härte durchbrechen, vermutlich schlimmer als in früheren Jahren, wo noch Schmalhans Küchenmeister war und man mit solchen Umständen noch eher umgehen konnte als heute, bei dieser gepämperten Bürgerschaft und zwar in allen sozialen Schichten.

Bernd Simonis
5 Jahre her

Bei Bedarf wird man sich halt wieder verschulden. So kann man die Probleme noch Jahrzehnte in die Zukunft schieben. Daher wird sich nichts ändern.

The Saint
5 Jahre her

Nennen wir es Krise oder Krieg oder Rezession – Not macht erfinderisch. Und die Not entsteht am schnellsten, wenn linksgrüne ** am Ruder sind. Voila!