Der im deutschen Sozialstaat typische Alarmismus

Hartz IV war der größte soziale Kahlschlag, behaupten Sozialverbände, Gewerkschaften und die Linke. Dieses Narrativ ist falsch, aber unausrottbar.

© Miguel Villagran/Getty Images

Wer in Deutschland darauf hinweist, dass soziale Leistungen mit Sozialbeiträgen und Steuern von Menschen bezahlt werden, die selbst alles andere als reich sind, der wird als kaltherzig, unanständig oder einfach als überbezahlter Politiker attackiert, der die soziale Realität nicht kennt. Dass nicht der anonyme Staat, sondern Millionen Normalverdiener die Mittel für Hartz IV aufbringen müssen, ist vielen nicht einmal mehr bewusst. Man schröpft sich selbst, nicht den Staat.

Noch vor seinem Amtsantritt als Gesundheitsminister erntete Jens Spahn für seine sachlich richtigen Feststellungen zum Thema Sozialstaat und der durch Hartz IV gewährten Existenzsicherung bitterste Reaktionen. Selbst der Bundespräsident distanzierte sich im Einklang mit dem medialen Mainstream und Politikern aus allen Lagern – einschließlich der eigenen CDU-Generalsekretärin. Und die Sozialverbände freuten sich so kurz nach der Essener Tafel-Aufregung über eine Erregungswelle, die Wasser auf ihre immer fordernden Mühlen lenkt.

Die Attraktivität des deutschen Sozialstaats

Wenn die „Einwanderung in unsere Sozialsysteme“ beklagt wird, weil Deutschland für viele Armutsflüchtlinge genannten Migranten das gelobte Land ist, dann erntet man bei jedem Vereinsfest, in jeder Kneipe und selbst in grün-bürgerlichen Milieus und eben nicht nur im AfD-Umfeld Zuspruch. Doch sobald die Debatte auf den monatlichen Hartz IV-Regelsatz kommt, der derzeit für eine alleinstehende Person bei 416 Euro im Monat liegt, dann findet die Forderung nach einer kräftigen Erhöhung dieser Summe nicht nur beim TV-Talk-Publikum zustimmende Resonanz. Komplett unterschlagen wird häufig, dass die Warmmiete einer angemessenen Wohnung (für eine Person gelten 50 Quadratmeter als angemessen) vom Staat bezahlt wird. Für Kinder ist der monatliche Regelsatz – nach Alter gestaffelt – deutlich höher als das gesetzliche Kindergeld, das als Einkommen der Kinder gewertet und nicht zusätzlich ausbezahlt wird. Nicht vergessen werden darf auch die kostenfreie Krankenversicherung. In bestimmten Lebenssituationen werden auf Antrag noch Mehrbedarfszuschläge ausbezahlt.

Dass diese Leistungen einen hohen Preis für unsere Gesellschaft haben, belegte die erste Zehnjahresabrechnung, die Ende 2014 vom Bundesarbeitsministerium und dem Deutschen Landkreistag vorgelegt wurde. Sage und schreibe 450 Milliarden Euro wurden für das sogenannte Arbeitslosengeld II (im Volksmund Hartz IV) sowie für Unterkunfts- und Heizungskosten sowie Maßnahmen der Arbeitsmarktpolitik innerhalb der ersten zehn Jahre nach seiner Einführung im Januar 2005 ausgegeben. Obwohl Hartz IV im kollektiven Gedächtnis immer noch als größter sozialer Kahlschlag gilt, sind die Ausgaben nach dieser Reform für den Staat deutlich gestiegen. Folglich muss es auch mehr Gewinner als Verlierer dieser Reform gegeben haben. So bilden sich durch entsprechende Narrative Mythen, die scheinbar unausrottbar sind und von Sozialverbänden, Gewerkschaften und den meisten Parteien ständig wiedergekäut werden.

Sozialtransfers als Stilllegungsprämie

Voraussetzung für diese Existenzabsicherung ist selbstverständlich die Bedürftigkeit. Deshalb müssen in einem bestimmten Umfang auch eigene Vermögenswerte verbraucht werden, ehe die Allgemeinheit komplett ins Obligo tritt. Eigenes Einkommen mindert die staatliche Leistung. In diesem Punkt gibt es aber tatsächlich politischen Handlungsbedarf. Weil Hinzuverdienst zu schnell angerechnet wird, fehlt der Anreiz zur Arbeitsaufnahme. Wenn sozialstaatliche Leistungen so konstruiert sind, dass sie wie eine Stilllegungsprämie wirken, dann werden Bedarfsempfänger in die Inaktivität getrieben, richten sich in der Passivität ein und „vererben“ den eigenen Kindern nur allzuoft eine trostlose Perspektive.

Wer das Motto „Fordern und Fördern“ ernst meint, muss alles daran setzen, dass in Not Geratene, sofern sie arbeitsfähig sind, auch möglichst schnell wieder auf eigenen Beinen stehen. Das geht nicht ohne Eigenverantwortung. Deshalb darf das Existenzminimum, das unser Sozialstaat sichert, auch nicht zur Passivität verführen. Der Grundsatz, dass sich Leistung und persönlicher Einsatz lohnen müssen, ist unabdingbare Voraussetzung für persönliche Zufriedenheit und gesellschaftlichen Wohlstand. Doch dieser Grundsatz gilt in gleicher Weise für die Finanziers des Sozialstaats. Wenn eine alleinstehende Mutter mit zwei Kindern arbeiten geht und beispielsweise für einen 60 Prozent-Job rund 2.200 Euro brutto im Monat verdient, dann bezahlt sie davon ihre Warmmiete genauso wie ihre Krankenversicherung selbst – und natürlich ihren kompletten Alltagsbedarf für sich und ihre Kinder. Außerdem trägt sie mit ihren Sozialversicherungsbeiträgen und der Lohnsteuer wie Millionen andere ihr Scherflein dazu bei, dass unser Sozialstaat vielen Menschen tatkräftig unter die Arme greifen kann. Sollte aber unsere Beispielsmutter merken, dass sich andere in einer vergleichbaren Familiensituation im Hartz IV-Bezug nicht schlechter oder gar besser stellen, dann wird sie sich ausgenommen fühlen.

Und ausgenommen fühlt sich in Deutschland eine große Gruppe der bürgerlichen Mitte, die seit Jahren die Erfahrung macht, dass der Staat immer gefräßiger wird, weil er immer mehr wohlfahrtsstaatliche Leistungen mit der Gießkanne über dem Volk ausgießt. Das Motto „linke Tasche, rechte Tasche“ ist abgegriffen, aber nichtsdestotrotz zutreffend.

Wundermittel „BGE“

Seit vielen Jahren wabert eine Wunderdroge mit dem sperrigen Namen „bedingungsloses Grundeinkommen“ (BGE) durch die politische Debatten. Vor allem in bürgerlich-grünen Kreisen, aber auch im Umfeld von Kirchen und Sozialverbänden verspricht man sich davon die Befreiung der Gesellschaft von Armut. Wenn keiner mehr für sein Existenzminimum arbeiten müsste, sondern jeder vom Staat – unabhängig von seiner Bedürftigkeit – sagen wir monatlich 1.000 Euro ausbezahlt bekäme, dann würden die Menschen endlich schöpferisch tätig und vor Kreativität nur so sprühen. Der Drogeriemarktgründer (dm) Götz Werner ist schon viele Jahre einer der gutgläubigen Propagandisten des BGE. Inzwischen hat er Unterstützung aus den Vorstandsetagen mancher IT-Konzerne, die aufgrund der Digitalisierung wohl befürchten, dass die technologische Disruption zu massenhafter Arbeitslosigkeit führt. Da sie aber ihre Produkte und Dienstleistungen weiter an Frau und Mann bringen wollen, soll das vom Staat bezahlte BGE dann für das nötige Kleingeld sorgen. Dass aber auch zur Finanzierung des BGE Millionen von Bürgern noch höhere Steuern bezahlen müssten, um diese Wohlfahrtsstaatsillusion bezahlen zu können, blenden die BGE-Gäubigen sofort aus.

Eine ermutigende Nachricht gegen die vermeintliche Armutsbekämpfungswunderdroge BGE kommt in diesen Tagen aus Finnland. Das dortige Experiment zum bedingungslosen Grundeinkommen scheint zu scheitern. Es läuft zum Jahresende 2018 aus und wird nach aktuellem Stand nicht fortgesetzt. Stattdessen setzt die Regierung verstärkt darauf, von arbeitslosen aber arbeitsfähigen Finnen wieder rigoros eigenen Arbeitseinsatz zu verlangen. Offenbar wirkte das BGE auch in Finnland mehr als Stilllegungsprämie denn als schöpferischer Katalysator.

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Kommentare ( 103 )

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Sonja B.
6 Jahre her

Das BGE dürfte es nur in Form eines generellen Steuerfreibetrages für alle geben. Dann müssten sich vielleicht weniger Vollzeitarbeitnehmer jeden Pfennig vom Mund absparen, wenn sie auch nal was schönes haben wollen. Das würde den arbeitseinstieg auch wieder atraktiver machen. 1000 Euro dürften nicht versteuert werden und schwupps könnte man selbst mit Mindestlohn ein schönes Leben führen.

Cathys
6 Jahre her

Hartz4 war der größte soziale Kahlschlag, Herr Metzger, aber nicht für alle, sondern für diejenige Kohorte, die lange Jahre in Arbeit war und plötzlich aus vielerlei Gründen arbeitslos wurden. Für ältere Arbeitnehmer bzw. Arbeitnehmer schlechthin. Denn diesen Arbeitnehmern wurde das Arbeitslosengeld I laufzeitmäßig gekürzt und Hartz4 bekamen diese nur, wenn diese nun auch hilfsbedürftig sind. Das ist die größte Sauerei, die man sich nur vorstellen kann. Enteignung pur. Demgegenüber wurden die arbeitsfaulen Menschen belohnt, denn Hartz4 ist wiederum höher als es damals die Sozialhilfe war. Jeder, der mittlerweile in unser Land kommt bekommt nach einer kurzen Zeit dieses teilweise recht… Mehr

SabseZander
6 Jahre her

Mir geht diese Diskussion auch gewaltig auf die Nerven – besonders, wenn ich überlege, wie genügsam ich aufgewachsen bin. Tornister wurde vererbt, Kleidung ebenfalls oder selbst genäht. Kindergeld gab es erst gar nicht, dann ein paar Mark. Schulbücher wurden auf Flohmärktern gekauft und wieder verkauft. Dann bei unseren Kindern gings weiter: In der Babywippe haben zehn (ja, zehn!) Babys drin gelegen, im Stubenwagen auch zig Kinder. Betten, Schränke, Autositz, Laufstall – alles wurde getauscht, geliehen, verkauft. Und wir haben alle in Lohn und Brot gestanden. Die dritten Kinder haben quasi nichts gekostet im ersten Jahr, weil ja alles von den… Mehr

non submission
6 Jahre her

Sehr geehrter Herr Metzger, es geht auch hier um die Relationen, ein minderjähriger oder sogenannter minderjähriger Flüchtling ist dem Staat cirka 5000 bis 6000 Euro im Monat wert. Der Monatssatz eines Hartz IV Kleinkindes langt nich einmal für eine Ernährung, die eine optimale Gehirnentwicklung erlaubt, wie Ihnen Hirnforscher erläutern können. Und das wärs dann auch gleich mal mit der Chancengleichheit in der BRD. Diese Defizite können nicht mehr aufgehohlt werden. Ein weiteres Beispiel, die tägliche Verpflegungskosten für einen Flüchtling liegen bei 11,50 bis 18,00 Euro, die für einen Hartz IV-Empfänger bei 4,77 Euro

Sauvage
6 Jahre her

Aus eigener Erfahrung weiß ich, dass Hartz-IV keinesfalls existenzsichernd ist und die Bestimmungen für das sog. Fördern ungefähr so intelligent wie unsere Politiker sind. Von Hartz IV müssen zuerst die Stromkosten abgezogen werden und in meinem Fall noch enorme Medikamentenkosten, da die einzig verträglichen lebensnotwendige Medikamente aus Übersee kommen und vom Gesundheitssystem nicht finanziert werden. Und von max. 280,- € mtl. soll ich dann meine gesamten Lebenshaltungskosten bestreiten. Das Gleiche bei der Arbeitsvermittlung, wo einem im Fall der Jobaufnahme Gehäter, die am Ende des Monats gezahlt werden, bereits Anfang des Monats vom Regelsatz abgezogen werden. Sie sollen also den ganzen… Mehr

Boleslaw Kowalski
6 Jahre her

Ich lese die Kommentare uns ich komme aus dem Staunen nicht heraus. Bei uns in Polen sind Sozialleistungen bekannterweise deutlich niedriger (nicht nur absolut, sondern auch was die Kaufkraft anbetrifft). Gejammert wie in Deutschland und nach mehr verlangt wird aber selten. In meiner Heimat versteht man halt, dass das Geld irgendjemandem weggenommen werden muss, um für die Sozialhilfe vorhanden zu sein. Es ist nun mal NICHT GERECHT, einem Menschen, der sein Geld mit seiner Arbeit verdient hat, es wegzunehmen und es einem anderen zu geben , der es nicht verdient hat. Vielleicht notwendig, um den sozialen Frieden zu bewahren, aber… Mehr

Sauvage
6 Jahre her
Antworten an  Boleslaw Kowalski

Ich habe in meinen aktiven Zeiten mind. 50% an Abgaben gezahlt und das habe ich bereitwillig getan, da ich meinen Mitbürgern in Not gerne geholfen habe. Und was nun meine eigene Bedürftigkeit angeht, so habe ich in 40 Jahren sehr viel mehr eingezahlt, als ich je bekommen werde und liege somit theoretisch dem Steuerzahler nicht auf der Tasche. Das geht bei diesen Diskussionen gerne unter, dass viele Arbeitslose vor dem Absturz zahlende Bürger waren. Mittlerweile -da gebe ich Ihnen Recht- geht der Deutsche arbeiten, um einer immer größeren Zahl von Nichtberechtigten hier ein Leben ohne jegliche Verpflichtungen und Gegenleistungen zu… Mehr

EinAlterWeißerMann
6 Jahre her

Die aktuelle Diskussion um Hartz IV ist (unabhängig von der Problematik bzgl. der Millionen illegaler Einwanderer) ist eine weitere Ablenkung bzw. Verschleierung des eigentlichen Problems: Die Löhne und Gehälter in Deutschland sind (nicht nur) im europäischen Vergleich „Lohndumping“ der übelsten Art. 2010 verdiente knapp ein Viertel der Beschäftigten hierzulande weniger als 9,54 Euro brutto pro Stunde. Nur die Litauer verdienten noch schlechter. Seitdem hat sich wenig getan. 23 Prozent der Deutschen arbeiten im Niedriglohnsektor. Ein Vergleich der Wohneigentumsquote (hier: https://de.statista.com/statistik/daten/studie/155734/umfrage/wohneigentumsquoten-in-europa/) korrespondiert mit den Angaben zu finanziellen Rücklagen. Kurzum: Löhne und Gehälter müssten deutlich steigen und die Steuern sinken. Aber das… Mehr

K. Napp
6 Jahre her

Was Sie Herrn Metzger ankreiden, habe ich so nicht gelesen…. nicht, dass Sie nicht prinzipiell Recht hätten mit Ihren Beobachtungen, aber Herrn Metzger hat sich allgemein Gedanken gemacht und hierbei die Migrationsproblematik nicht gesondert erwähnt. Das muss er auch nicht (jedesmal).

Cathys
6 Jahre her
Antworten an  K. Napp

Doch das muss er, denn ich muss bei einer Analyse auch die Gefahren bedenken, die ein solches Szenario mit sich bringt. Nur des Diskutierenwillens ohne Zieldebatte, bringt KEINER Diskussion etwas, warum auch? Werden Sie mal kreativ und lassen Sie mal ihre Gedanken schweifen was eine Korrupte Regierung mit diesem jetzigen Instrument, das auch noch auf alle Menschen auf dieser Welt ausgedehnt worden ist alles anfangen kann?? Nichts ist für immer!!
Kennen Sie den Film “ die Hungerspiele“? Na dann viel Spaß bei Ihrer kreativen Arbeit! DENKEN Sie daran „Alles hängt mit allem zusammen“!

Eco
6 Jahre her

Hartz4 stattet Menschen mit dem nötigsten aus. Was es aber auch macht ist, dass es Menschen versklavt. Da ist n+1 Maßnahme, die auch wieder nicht in den Job führt, dafür hat man gelernt Formulare auszufüllen und „Männchen“ zu machen. Das Schlimme ist, dass bei H4 der Mensch nicht interessiert. Eigentlich müsste man sich um den Menschen und seine Fähigkeiten konkret kümmern. Da man bei H4 aber jede Arbeit annehmen muss interessiert sich keiner vom Amt für den Menschen. In letzter Konsequenz würde sich zeigen, dass man diesen oder jenen doch in Arbeit bringen kann und einige dauerhaft in H4 verbleiben,… Mehr

EinAlterWeißerMann
6 Jahre her

Zu ihrem „Rätsel“: In der „Neuen Welt Ordnung“ (NWO) gibt es keine Grund- und Mittelschichten mehr, sondern nur noch eine kleine Elite und die Unterschicht einer verdummten Mischrasse, die in einer auf etwa 500 Millionen reduzierten Weltbevölkerung als Sklaven dient.