Brexit: Wut und Hass taugen nicht als politische Ratgeber

Nicht nur um Wirtschaftswachstum geht es bei der Abstimmung am Donnerstag, mehr noch um die Kontrolle der Einwanderung. Die Brexit-Fraktion versucht, die Abstimmung zu einem Referendum über Angela Merkels Willkommenspolitik zu machen.

Es wird am Donnerstag wohl knapp werden. Doch ein Ergebnis dieser Abstimmung über den Brexit steht bereits fest: Volksentscheide sind die Stunde der Demagogen und Vereinfacher. Bei einer solchen Gelegenheit wird alles mit allem vermischt. Nicht sachliche Argumente dominieren, sondern eher sachfremde Unterstellungen bis hin zum Hass.

Vorab: Dass die Briten am Donnerstag über den Verbleib ihres Landes in der Europäischen Union entscheiden können, dürfen oder müssen, resultiert keineswegs aus dem Wunsch der Briten nach mehr direkter Demokratie. Im Gegenteil: Es ist das Ergebnis politischer Feigheit. Ausgerechnet im Mutterland des Parlamentarismus hat ein Teil der politischen Klasse, in diesem Fall die Konservativen, Zuflucht zum Plebiszit genommen. Denn die Tories sind in der Europafrage tief gespalten – schon seit dem Beitritt ihres Landes im Jahr 1973 unter Edward Heath. Aber nie hat die Partei es gewagt, eine echte innerparteiliche Entscheidung herbeizuführen. Denn sie wollte die antieuropäische Minderheit in den eigenen Reihen aus machtpolitischen Gründen nicht verlieren.

Abgestimmung wg.  Entscheidungs-Flucht der Tories

Weil man aber wichtige Weichenstellungen nicht auf ewige Zeiten verschieben kann und weil die europafeindliche „United Kingdom Independent Party (UKIP) immer mehr Zulauf bekam, versuchte David Cameron es vor drei Jahren mit einem Trick. Er versprach für den Fall seiner Wiederwahl eine Volksabstimmung über Ja oder Nein zur EU. Das half. Er und die Tories schafften entgegen allen Erwartungen bei der Parlamentswahl im Jahr 2015 die absolute Mehrheit der Sitze. Und Premier Cameron war sich sicher: Wenn das Volk erst einmal klar und deutlich Ja zu Europa gesagt habe, werde die innerparteiliche Opposition sich schon fügen.

So einfach, wie der konservative Parteiführer sich das gedacht hatte, wurde es aber nicht. Denn Volksabstimmungen bieten – ganz unabhängig vom konkreten Anlass – stets eine ideale Gelegenheit, alles mit allem zu vermischen. So geriet das Referendum ganz schnell zu einer Abstimmung, ob Cameron Regierungschef bleiben kann oder nicht. Denn eines ist sicher: Sollten die „Brexiteers“ gewinnen, müsste er zurücktreten. Sein Nachfolger würde dann der exzentrische Boris Johnson, der wohl wusste, warum er sich an die Spitze der EU-Gegner gestellt und sich als ihr bester Stimmenfänger erwiesen hat. Brexit ja oder nein? Am Donnerstag heißt es auch Cameron oder Johnson?

Darüber hinaus bietet die Brexit-Abstimmung all den Briten ein Ventil, die immer noch nicht verwunden haben, dass ihr Land keine Großmacht mehr ist, „the Commenwealth“ nur noch eine nostalgische Erinnerung an frühere Zeiten und Großbritannien in Europa allenfalls noch militärisch bedeutsam ist, aber keineswegs mehr wirtschaftlich. Wer sich als Absteiger fühlt, sucht Schuldige. Die finden viele Briten in Europa, Brüssel und nicht zuletzt in Berlin. Dementsprechend stießen Phantasiezahlen über die Londoner Zahlungen an Brüssel auf offene Ohren; Hinweise auf alle Sonderregelungen, die einseitig Großbritannien zugutekommen, verhallten dagegen. Die Frage, wie es eigentlich mit der britischen Wirtschaft weitergehen würde, wenn das Land plötzlich nicht mehr an 23 EU-Freihandelsabkommen mit 62 Nicht-EU-Staaten beteiligt wäre, kam ebenso zu kurz. Ganz abgesehen davon: Die Antwort hätte den britischen Durchschnittsbürger ebenso überfordert wie die Wähler in allen anderen EU-Ländern, Deutschland eingeschlossen.

Britische „Wutbürger“ gegen das Establishment

Bei Volksentscheiden geht es – anders als bei Parlamentswahlen – stets nur um ein Ja oder Nein. Man siegt durch K.O. oder gar nicht. Dementsprechend leicht lässt sich die Stimmung anheizen. Das Brexit-Referendum ist deshalb auch ein Kampf der britischen „Wutbürger“ gegen das Establishment. Oder wie es eine Brexit-Befürworterin aus der Labour-Party formulierte: „Am Donnerstag werden Bürger abstimmen, die noch nie zuvor gewählt haben. Bürger, die die Politiker hassen.“ Hass gegen „die da oben“ ist nicht nur der Stoff, aus dem die Brexit-Träume gesponnen werden. Hass läßt sich immer dann leicht entfachen, wenn es in einem Volksentscheid allein um Schwarz oder Weiß, „in“ oder „out“ geht.

Hass spielt am Donnerstag schon deshalb eine Rolle, weil das Thema Flüchtlinge und Zuwanderer die Gemüter offenbar mindestens ebenso beschäftigt wie die Frage nach Wirtschaftswachstum oder der Zukunft des Finanzplatzes London außerhalb der EU. So grotesk es auch erscheinen mag: Der ungebremste Zustrom an Flüchtlingen nach Deutschland macht es den britischen EU-Gegnern leicht, vor einer drohenden „Überflutung“ des eigenen Landes zu warnen. Deshalb versucht die Brexit-Fraktion, die Abstimmung zu einem Referendum über Angela Merkels Willkommenspolitik zu machen.

Mögen die Briten am Donnerstag entscheiden, wie sie es für richtig halten. Das Referendum an sich zeigt mehr als deutlich, wie gefährlich direkte Demokratie sein kann – in Großbritannien wie in Deutschland.

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