Merkel, Steinmeier und Jahresendgelaber

Über Gewohnheiten denken wir nicht nach, deshalb sind es Gewohnheiten, und wir trennen uns ungern von ihnen.

Die letzten Zeilen in diesem Jahr. Da ist das Gefühl, dieses Jahr habe sich, trotz Trump, trotz Brexit, trotz Bundestagswahlen, nur einmal um seine Achse gedreht, und sei genau da wieder stehen geblieben, wo das schon vor 365 Tagen der Fall gewesen war. Diese Achse trägt einen Namen: M.

I.

„Was labert der denn!“, entfährt es mir. Mein bereits eingenickter Sohn, der den lieben Gott vom Himmel debattieren kann und sich sonst keine Gelegenheit dafür entgehen lässt, schreckt auf. Wir hängen zufällig zur Weihnachtsansprache des Bundespräsidenten vor dem TV-Empfänger. Als sie zu Ende ist, fällt uns nicht einmal mehr ein, dass uns nichts mehr einfällt. Wir nehmen einen Zimtstern zu uns.

II.

Vorsichtshalber lese ich später das Gelaber noch einmal nach. S. labert tatsächlich. Es ist erschütternd banal, was das Staatsoberhaupt zu sagen versucht. Er empfiehlt Ruhe: „Eine Ruhe, die wir uns auch an anderen Tagen im Jahr wünschen. Ein Moment außerhalb der Zeit, die uns doch an allen anderen Tagen im Jahr so fest im Griff hat. Ein Augenblick der Stille.“ Ist das noch Poesie oder bereits Symptom einer progressiven Enzephalomalazie (Gehirnerweichung)?

III.

Nach gefühlt 365 Tagen kommt er endlich zum Punkt. „Und schließlich muss nicht alles Unerwartete uns das Fürchten lehren. Das gilt auch für Regierungsbildungen, die in ungewohnter Weise auf sich warten lassen. Ich versichere Ihnen: Der Staat handelt nach den Regeln, die unsere Verfassung für eine Situation wie diese ausdrücklich vorsieht, auch wenn solche Regeln in den letzten Jahrzehnten nie gebraucht wurden. Deshalb: Wir können Vertrauen haben.“ Erste Frage: Was an diesem Wahlergebnis und seinen Folgen ist unerwartet? Zweitens: Wo steht ausdrücklich in der Verfassung, dass die größten Verlierer einer Wahl zusammen regieren müssen? Drittens: Ist das Vertrauen in den Text einer Verfassung wirklich wichtiger als das Vertrauen in die politische Klasse? Könnte es nicht sein, dass das herrschende Regime der Altparteien den Geist dieser Verfassung längst unbemerkt pervertiert hat? Mich lehrt S´s Schwachsinn das Fürchten. Denn es ist der vollkommene Ausdruck des politischen Zustands dieses Landes.

IV.

Sogar in seiner Gestik. Auch S. hat nur eine einzige Geste im Angebot. Natürlich nicht die Raute, aber etwas ganz Ähnliches, was kein Zufall sein kann. Auch er führt beide Hände hilflos zusammen. Die Fingerspitzen seiner einen Hand halten die Spitze des Mittelfingers der anderen Hand vor dem Körper fest. Dann schwingen die Handflächen synchron zur Seite. Immer wieder derselbe Automatismus. Das „Oremus!“ eines verklemmten Dorfpfarrers.

V.

M&S: ein kongeniales Paar. Müdigkeit. Verträumtheit. Amtsversessenheit. Merkelmeier – Biedermeier. Man könnte sie für die Medizinmänner einer todessüchtigen Meditationssekte halten, wüssten wir es nicht besser. Wir kennen das Prinzip. Es handelt sich um den systematischen Versuch, die Masse zu hypnotisieren.

VI.

Die Notwendigkeit, das M-Regime fortzusetzen, ist ungefähr so zwingend wie die Behauptung der Lufthansa, sie habe die Preise nicht erhöht, der Algorithmus sei´s gewesen. An dieser Stelle kommt meinem Sohn ein schrecklicher Verdacht. Wir würden, befürchtet er, womöglich schon länger von einer Künstlichen Intelligenz regiert, hätten es nur noch nicht gemerkt. Ich widerspreche nicht aus Überzeugung, sondern nur aus Gewohnheit.

VII.

Jahresendgelaber. Vor einem Jahr stellte ich meine Parodie der Neujahrsansprache der Bundeskanzlerin auf diese Seite. Heute will mir mein damaliger Text peinlich vorkommen. Selbst als Parodie wirkt diese Kanzlerin altbacken, abgelebt, saftlos. Selbst Comedians können an ihr verzweifeln. Merkelwitze zünden nicht mehr. M wirft keinen Schatten mehr und ist dennoch unvermeidbar.

VIII.

Angela Merkel ist ein geschäftsführendes Phantom.

IX.

Ihre Neujahrsansprache zu verfolgen, wäre Ausdruck von Masochismus – unabhängig davon, was sie zu sagen haben vorgeben wird. Nach 16 Jahren Kohl (eigentlich von der Zeitenwende getrennten zweimal acht Jahren in zwei verschiedenen Staaten) wusste man wenigstens, warum man seiner überdrüssig geworden war. Unter dem M-Regime wissen die meisten Deutschen nicht einmal mehr das. Über Gewohnheiten denken wir nicht nach, deshalb sind es Gewohnheiten, und wir trennen uns ungern von ihnen.

X.

Mein Sohn und ich wünschen Ihnen ein friedliches und frohes 2018.

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Kommentare ( 101 )

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MBod
6 Jahre her

Ja, Steinmeier ist erschütternd „banal“.., vermutlich schon immer, aber als Bürovorsteher fiel das nicht auf. Dem entsprechend hat er sich später auch mit dem passenden Personal umgeben.., das heute teilweise als „Hoffnungsträger einer neuen SPD“ benannte wird.. (?, – die Verzweiflung muß groß sein, wenn man z.B. die merkwürdige „Erscheinung“ aus Meck-Pom. vor Augen hat…).
Und wie Merkel und andere „Größen“ führte er „Beliebtheits- rankings“ auf Bundesebene an… – wer auch immer da abstimmt, und zusammenzählt… – aber das Ergebnis könnte so auch auf Basis der ranking- Parameter eines Wettbewerbs “ unser schönstes Haustier“ zustande gekommen sein.

Catweazel
6 Jahre her

Wie schön hier Kommentare von hohem Gehalt zu lesen. Mal wieder ein echter Herles. Ich habe mir den Text vom S. (Bundesmeier) auch angetan, zumindest stellenweise, Was mir auffiel ist, das er oft von Verfassung spricht. Ich dachte immer, das wir ein Grundgestz haben. Das Grundgesetz wurde damals so genannt, damit man im Falle einer Wiedervereinigung eine Verfassung schaffen kann. Umgangssprachlich wird unser GG als Verfassung bezeichnet, doch für mich bedeutet das, ein GG wird von der Herrschenden Klasse verabschiedet und verändert, eine Verfassung wird vom Volke beschlossen. So will man wohl durch die Hintertür das GG zur Verfassung machen,… Mehr

Petra
6 Jahre her

Sehr geehrter Herr Herles, alle hier bei Tichys Einblick haben sich im letzten Jahr enorm gesteigert – in Ausdrucksfährigkeit – in der Fähigkeit, etwas auf den Punkt zu bringen – in ihrer zu Recht niedergeschriebenen Empörung und Kritik. Aber Ihnen möchte ich hier noch einmal ganz besonders danken für Ihre Beiträge im letzten Jahr! Weil Sie eine Art zu schreiben haben, die meine Seele ganz besonders anspricht. Ich kenne noch Artikel von Ihnen, da war zu ahnen, was Sie meinten – aber inzwischen kommt es ganz klar raus. Und das irgendwie trotzdem immer noch Gentleman-like. Wie Sie das hinkriegen, weiß… Mehr

Marc Hofmann
6 Jahre her

Bei Seinmeier, Merkel, Schulz und allen anderen Partei-Politikern haben wir es doch schon längst mit Zombies zu tun… Eigenverantwortung, Selbstbestimmung, Selbsthandlung…sind doch ALLES Fremdwörter die Bundestagsmitglieder von CDU/CSU/SPD/GRÜNE/LINKE und FDP!

Fridolin Kiesewetter
6 Jahre her

Das Interessanteste an seiner Rede ist, was er nicht gesagt hat: Er hat nicht EINMAL das Wort Volk oder das Wort Deutsche verwendet.
Man fragt sich, wen meint er, wenn er von WIR spricht.

EmmaM
6 Jahre her

Aphorismus von Unbekannt: Sprach der König (M) zum Priester (S): Halte du sie dumm, ich halte sie arm.

Gero Hatz
6 Jahre her

Das Gelabere Steinmeiers und das Gestammel Merkels sind bezeichnend für den Zustand unseres politischen Systems: Es geht nur noch darum, um jeden Preis eine klare Aussage zu irgendwas zu treffen. Sprache dient nicht mehr der Kommunikation sondern der Hypnose und der Narkotisierung des Bürgers. Es steht zu befürchten, dass diejenigen, die schon länger hier leben mit einem Riesenkater aus der Narkose aufwachen werden, wenn marodierende Horden islamistischer Extremisten durch die Lande ziehen. Aber auch dann hilft Steinmeier mit wunderbar beruhigenden Worten: „Eine Ruhe, die wir uns auch an anderen Tagen im Jahr wünschen. Ein Moment außerhalb der Zeit, die uns… Mehr

Karina Vogel
6 Jahre her

Wahr und leider bleibt mir trotz der Ironie das Lachen im Halse stecken. Zum Verdacht Ihres Sohnes, „Wir würden, befürchtet er, womöglich schon länger von einer Künstlichen Intelligenz regiert, hätten es nur noch nicht gemerkt“, möchte ich anfügen, dass es sich, wenn es denn so wäre, nur um eine künstliche Demenz handeln kann. Danke und Ihnen und dem ganzen Tichy-Team einen guten Rutsch und ein gutes und erfolgreiches Jahr 2018. Es könnte ja auch besser werden…

Der Ketzer
6 Jahre her

Sehr geehrter Herr Herles,

ich mag Ihre Art, Missstände zu kommentieren. Sie verwenden allerdings Formulierungen, die bei den Community-Zensoren von ZEIT oder WELT fast unweigerlich zu Sperrung Ihres Accounts führen würden … (habe das erst gestern wegen weniger erfahren 😉

Ich wünsche Ihnen und Ihrer Familie ein gutes und erfolgreiches neues Jahr und dass Sie – trotz Netzwerk-Denuntianten-Gesetz (NetzDG) weiterhin die Freiheit genießen können, solche Artikel zu veröffentlichen.

Teleser
6 Jahre her

„Ihre Neujahrsansprache zu verfolgen, wäre Ausdruck von Masochismus“ Deswegen schaue ich sie mir auch nicht an. Ich kann mich nicht erinnern, sie mir überhaupt jemals angeschaut/angehört zu haben. Aber vielleicht verdränge ich das auch nur. Wer möchte schon zugeben, sich irgendwann mal das Neujahrsgelabere von Frau Merkel angeschaut oder sogar angehört zu haben. Wohl niemand. Die für mich interessanteste Frage in diesem Zusammenhang lautet: Verpasse ich morgen die zwölfte Neujahrsansprache von Merkel oder ist es schon ihre dreizehnte? Apropos Masochismus: Wenn sich ein TE-Autor die Neujahrsanspache der Unausstehlichen anschaut (mit Ton!), um den TE-Lesern diesen Stress zu ersparen und sie… Mehr

Mabell
6 Jahre her
Antworten an  Teleser

Danke für einen Lacher zum Jahresende! Guten Rutsch, und ein gesundes und erfolgreiches 2018. Mabell.