Die Ursache dafür, dass die Konfrontationen in der heutigen Welt zunehmen, liegt in zwei Entwicklungskrisen, die das System selbstverantwortlicher Staaten unterminieren. Eine Krise ist eine Bevölkerungskrise.
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Nach einer durchaus verbreiteten Meinung sind die kriegerischen Konfrontationen der Gegenwart brandgefährliche Katastrophen, die dennoch im Grunde leicht zu beenden sind. Die gegnerischen Seiten müssten nur „aufeinander zugehen“, und schon könnten die Gegensätze überwunden werden, heißt es. Aber ein solches Weltbild erweist sich als Illusion, wenn übergriffige Ansprüche im Raum stehen. Wenn also eine Seite Ansprüche hat, die an die Substanz der anderen Seite gehen. Vor allem gilt das dann, wenn die Ansprüche nicht nur politische Forderungen sind, sondern auf tiefere menschliche Probleme zurückgehen.
Wenn also eine innere Entwicklungskrise vorliegt, die in expansive Ansprüche nach außen gegen andere Länder gewendet wird. Die daraus folgende Konfrontation kann dann nicht in Verhandlungen „kleingearbeitet“ werden, weil das die tieferen, inneren Triebkräfte der Übergriffigkeit gar nicht erreicht. Allerdings wäre es auch ein großer Fehler, diese tieferen Triebkräfte durch eine Intervention von außen beseitigen zu wollen, und damit seinerseits eine übergriffige Position einzunehmen. Eine vernünftige Außenpolitik in einer multipolaren Welt kann daher nur das Ziel verfolgen, die expansiven Ansprüche einzuhegen und so ihre Dynamik zu brechen. Das Ziel muss also bescheidener sein: Die Gegensätze bleiben, aber sie werden vom Zustand der Konfrontation in einen Zustand der Koexistenz überführt. Das setzt allerdings voraus, dass die Ansprüche und die Entwicklungskrise, die sie hervortreibt, mit Nüchternheit und Sorgfalt betrachtet und charakterisiert werden. Mit Verteufelungen ist eine haltbare Koexistenz ebenso wenig herstellbar wie mit blindem Vertrauen auf den guten Willen aller Beteiligten.
Diese Aufgabe wird dann noch größer, wenn es nicht nur um eine Konfrontation zwischen zwei Ländern geht, sondern um ganze Weltregionen, in denen eine bestimmte Entwicklungskrise herrscht und übergriffige Erwartungen auf breiter Front entstanden sind. Doch gibt es geschichtliche Erfahrungen, die zeigen, dass – unter bestimmten Bedingungen – eine Ära großer Konfrontationen in eine Ära der Koexistenz überführt werden konnte. Das vergangene 20. Jahrhundert war in seiner ersten Hälfte zweifellos ein Jahrhundert der Konfrontation – aber in seiner zweiten Hälfte wurde es erfreulicherweise zunehmend von Lösungen durch Koexistenz geprägt.
Hingegen müssen wir heute feststellen, dass – an bestimmten Schnittstellen der Weltgeographie und Weltgeschichte – neue übergriffige Ansprüche gewachsen sind. Getrieben werden sie von anderen Entwicklungskrisen als jenen, die wir aus dem 20. Jahrhundert kennen. Von dieser neuen Art sind die beiden Konfrontationen, die sich mit den Schauplätzen „Palästina“ und „Ukraine“ verbinden. Hier geht es um zwei sehr verschiedene Entwicklungskrisen. Sie lassen sich nicht auf einen einzigen Begriff bringen. In diesem Artikel soll es nur um den Schauplatz „Palästina“ gehen, und damit um eine bestimmte Entwicklungskrise in der heutigen Welt. Auf dem Schauplatz „Ukraine“ geht es um eine zweite, ganz andere Entwicklungskrise, deren Betrachtung einen zweiten Artikel erfordert.
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Der Anspruch, der in dem Wort „Palästina“ enthalten ist – Der Ruf „Freiheit für Palästina“ greift einerseits weit in die Geschichte zurück – in eine Zeit, in der Territorialstaaten im neuzeitlichen Sinn gar nicht existierten. Die vage Bezeichnung „Palästina“ umfasst in diesem Sinn nicht nur die Gebiete der heutigen palästinensischen Selbstverwaltung, sondern auch das heutige Gebiet des Staates Israel. Ebenso können unter Berufung auf diese vage Raumvision Gebietsteile des Libanon, Syriens und Jordaniens beansprucht werden. Ein „Staat der Palästinenser“ würde also einen Anspruch in die Welt setzen, der nur durch eine große Grenzrevision im Nahen Osten zu verwirklichen wäre. Zugleich aber verbindet sich mit diesem alten, fast mythischen Motiv sich ein ganz anderes Motiv, das überhaupt erst in jüngster Zeit produziert wurde: Es gibt eine dramatische Bevölkerungsentwicklung, die sich von der Entwicklung der wirtschaftlichen Produktivität und der Tragfähigkeit der Infrastrukturen völlig entkoppelt hat. Im Gazastreifen wird diese akute Entwicklungskrise besonders deutlich.
1950 lebten dort 250.000 Menschen. 1990 waren es 650.000. In den folgenden Jahrzehnten gab es neue, noch größere Zuwächse, sodass im Jahr 2000 die Millionengrenze überschritten wurde und im Jahr 2024 eine Bevölkerung von 2,14 Millionen gezählt wurde. Für das Jahr 2050 wird eine Zahl von 3,14 Millionen prognostiziert. Die heutige Bevölkerung hat also mit der Bevölkerung, die dort in früheren Jahrhunderten oder in der Zeit kurz nach der Gründung Israels dort wohnte, wenig gemein. Und diese heutige Bevölkerung ist von einer selbstragenden Entwicklung weiter entfernt denn je. Sie ist völlig von Zuwendungen aus dem Ausland und von internationalen Institutionen abhängig.
Sie sind nicht Vertriebene aus Israel, die nun ihre Rückkehr geltend machen, sondern eine Überbevölkerung, die über Jahrzehnte von außen alimentiert wurde. Sie sieht sich nun als „Volk ohne Raum“ und sucht die Lösung in einer Expansion nach außen sucht. Sie sieht in der Vernichtung Israels und der Vertreibung seines Staatsvolks ein legitimes Ziel. Hier, in der Existenz einer – sehr jungen – Überbevölkerung, die mit einer selbst erarbeiteten und verantworteten Existenz gar keine Erfahrung hat, und die demzufolge eigentlich bindungslos ist, zeigt sich die ganze Tiefe des Problems. Man kann sagen, dass das nicht die „Schuld“ der heutigen Bewohner ist, weil sie in eine extrem schwierige Situation hineingeboren sind. Aber dadurch wird der expansive Anspruch gegen Israel um keinen Deut akzeptabler. Die ganze Debatte um „Schuld“ führt in eine Sackgasse, weil so das tiefere Entwicklungsproblem der Überbevölkerung weder verstanden noch gelöst werden kann.
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Die übergriffigen Ansprüche sind einseitige Ansprüche – Hat Israel auf der anderen Seite auch übergriffige Ansprüche? Hat es ein vergleichbares inneres Entwicklungsproblem? Das hat es nicht. Es ist ein Vorbild für eine selbsttragende Entwicklung. Und Israel hat,diese Entwicklung unter den schwierigen Bedingungen der südlichen Hemisphäre zustande gebracht. Es hat auch eine recht starke Bevölkerungsentwicklung (und einen arabisch-islamischen Bevölkerungsanteil von 20 Prozent), aber es ist ihm gelungen, diese Entwicklung auf Basis einer starken Wirtschaft und starken öffentlichen Infrastrukturen aus eigener Kraft zu bewältigen. Israel ist nicht darauf angewiesen, von außen alimentiert zu werden. Die Israelis sind daher auch nicht zu übergriffigen, expansiven Ansprüchen getrieben Sie leben aus inneren materiellen und moralischen Ressourcen – im Wirtschaftsleben, im Staatswesen und in ihren Familienstrukturen.
Die Losung „Freiheit für Israel“ bedeutet daher nicht, dass Israel eine hegemoniale Rolle im Nahen und Mittleren Osten anstreben muss. Seine Freiheit ist eine Freiheit der inneren Entwicklung, und diese ist koexistenzfähig mit allen Nachbarländern. Israel muss in diesen Ländern keinen Regimewechsel und kein „nation building“ veranstalten, auch wenn manche Stimmen ihm das nahelegen. Zugleich Israel ist ein Vorbild an Wehrhaftigkeit, nicht nur in waffentechnischer Hinsicht, sondern auch im Zusammenhalt zwischen Bevölkerung und Armee. Das hat es mit seiner Antwort auf den Überfall vom 7.Oktober 2023 überzeugend gezeigt. Es hat im Gazastreifen die Konsequenzen spürbar gemacht, die ein Gebiet zu tragen hat, das sich zum Aufmarschgebiet für eine Invasion Israels machen lässt. Doch darf bei dieser Stärke Israels nie vergessen werden, dass es eine defensive Stärke Israels ist. Diese Stärke ginge – materiell und moralisch – in dem Moment verloren, wo sie offensiv-expansiv würde. Doch hat Israel keinen Grund, einen solchen Kurs zu wählen. Da liegt der prinzipielle Unterschied zwischen den Kräften, die einen „Staat der Palästinenser“ gründen wollen, bei dem eine große Grenzrevision im Nahen Osten als Verfassungsauftrag festgeschrieben wäre.
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Über den Tauschhandel „Land gegen Frieden“ – Bei den Lösungsversuchen der sogenannten „Palästina-Frage“ wurde in der Vergangenheit ein Prinzip angewendet, das im Grunde völlig unlogisch und brandgefährlich ist: Es sollte einen Tausch „Land gegen Frieden“ geben. Die Kräfte, die im Namen „Palästina“ auftraten, erhielten Land zur eigenen Verwaltung und versprachen dafür Frieden. Das war eigentlich ein sehr ungleicher Tausch. Denn das Land wurde übergeben, die israelischen Siedlungen im Gazastreifen wurden geräumt. Das war also eine nachhaltige Veränderung. Hingegen war „Frieden“ als Gegenleistung der Palästinenser alles andere als nachhaltig. Sie konnte jederzeit beendet werden, und man konnte unter Losung „Freiheit für Palästina“ schnell wieder zu den Waffen greifen. Und so geschah es. Das Land, das Israel übergeben hatte, wurde zum Ausgangspunkt für neue Angriffe auf Israel. Der Frieden ließ sich im Handumdrehen in Krieg umwandeln – und der Tausch lautete nun: „noch mehr Land für Frieden“. Es ist klar, dass dieser ungleiche Tauschhandel nicht fortgesetzt werden kann und darf.
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Die Wegscheide „Übergriffige Ansprüche oder Binnenentwicklung“ – Die grundlegende Alternative, die hinter der Entscheidung „Konfrontation oder Koexistenz“ steht, kann so formuliert werden: „Übergriffige Ansprüche oder Binnenentwicklung“. Wer übergriffige Ansprüche hat, deren Erfüllung an die Substanz des Nachbarn geht, muss auf Konfrontation setzen. Hingegen kann auf Koexistenz nur der setzen, dessen Priorität die Binnenentwicklung seines Landes ist. Diese Alternative wird in ihrer ganzen Bedeutung deutlich, wenn man bedenkt, dass diese Alternative im Weltmaßstab in vielen internationalen Beziehungen gegenwärtig ist.
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Der „Aufstand des Globalen Südens“ – „Palästina“ ist zum Symbol und zum gelobten Land eines weltpolitischen Trends geworden. Auf den „Freiheitskampf“ der Palästinenser gegen den „Apartheids-Staat“ Israel und den angeblich von ihm betriebenen „Völkermord“ berufen sich all diejenigen, die im Namen eines sogenannten „globalen Südens“ zu einem neuen Angriff auf die angeblich immer noch bestehenden kolonialen Positionen eines „globalen Nordens“ angetreten sind. Auf dieser Basis werden weltweite Boykottbewegungen gegen Israel betrieben und Mehrheiten der UN-Vollversammlung organisiert. So werden die Entwicklungskrisen, die in verschiedenen Ländern in Afrika, im Nahen und Mittleren Osten, in Südostasien sowie in Süd- und Mittelamerika, feststellbar sind, als Schuld der ehemaligen Kolonialmächte dargestellt. Die eigene Entwicklungs-Verantwortung der Länder, die nun schon seit etlichen Jahrzehnten ihre Unabhängigkeit durchgesetzt haben, wird so auf äußere Mächte abgewälzt. Zu dieser Abwälzung gehört auch die Massenmigration in Süd-Nord-Richtung, die sich vor allem aus Ländern, die im 20. Jahrhundert ihre politische Unabhängigkeit erkämpft haben, gebildet hat.
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Die heutige Süd-Nord-Migration ist eine fordernde Migration – Diese Migrationswelle hat einen ganz eigenen Charakterzug, der sich von anderen Migrationsbewegungen deutlich unterscheidet: Es ist eine fordernde Migration – eine Bewegung mit einem übergriffigem Grundanspruch. Migranten, die in einem europäischen und nordamerikanischen Land aufgenommen werden, betrachten das als ein Recht, das sie sich einfach „nehmen“ können. Sie sehen die Leistungen, die das Aufnahmeland für sie erbringt, als dessen Pflicht ihnen gegenüber. Des Öfteren ist zu hören, diese Leistungen seien die Begleichung einer historischen „Schuld“, die diese Länder in kolonialen Zeiten auf sich geladen hätten. Migranten, die im Zuge der neuen Süd-Nord-Wanderung nach Europa oder Nordamerika gekommen sind, erheben oft sehr schnell Anklage, dass sie diskriminiert würden.
Das alles unterscheidet diese Einwanderungswelle deutlich von der Arbeitsmigration („Gastarbeiter“) früherer Zeit. Sie verstanden sich eher als Partner eines Vertrags auf Gegenseitigkeit. Auch wenn sie das nicht so ausdrückten, fühlten sie sich doch fair behandelt und haben das auch so in ihrer Erinnerung behalten. Hingegen beruht die heutige Süd-Nord-Migration auf einer viele höheren Erwartungs- und Anspruchshaltung. Das muss gar nicht politisch oder politisch-religiös formuliert werden, sondern kann sozialpsychologisch verstanden werden. Aber die Fiktion eines „Globalen Südens“ als einer Weltmacht, oft gepaart mit einer entsprechenden Deutung des Islams passt zu dieser fordernden Sozialpsychologie. Hingegen wäre den Arbeitsmigranten früherer Zeiten eine solche Aufladung ihrer Herkunft und ihres Glaubens gänzlich fremd gewesen. Doch unter den heutigen Süds-Nord-Migranten zeigt sich eine solche Aufladung deutlich. Und sie hat einen extremen Ausdruck in der Breite und Radikalität gefunden, mit der hier die „Befreiung Palästinas“ zur eigenen Sache gemacht wurde: Mitten in Europa und Nordamerika wird auf Straßen und Plätzen, in Hochschulen und Kulturveranstaltungen, an Türen von Privatwohnungen und Läden exemplarisch die Verfemung und Vertreibung der Israelis vorgeführt.
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Ist Antisemitismus die Triebkraft der Süd-Nord-Konfrontation? – Der Angriff auf die Existenz Israels und die internationale Resonanz, die dieser gefunden hat, haben dazu geführt, dass viele Beobachter die neue Süd-Nord-Konfrontation als „Antisemitismus“ deuten. Sicher findet man Äußerungen eines besonderen Judenhasses. Aber es ist sehr fraglich, ob man damit die Breite der Konfrontation und ihre tieferen Triebkräfte erfasst. Und ist es wirklich für die Verteidigung Israels hilfreich, wenn man den Antisemitismus so stark als vorrangiges Motiv der Konfrontation hervorhebt – und dadurch eventuell isoliert? Die übergriffigen Ansprüche, die im „Globalen Süden“ entstanden sind, richten sich gegen die Länder und Bürger des „globalen Nordens“ in seiner Gesamtheit. Diese Ansprüche werden ja „antikolonial“ begründet und der Angriff auf die Existenz Israels ist Teil dieses neuen Antikolonialismus. Israel ist ein hervorstechendes Beispiel und Symbol für ein generelleres Feindbild. Es steht in exponierter Position in einer viel ausgedehnteren, weltgeographischen Frontlinie. Es ist deshalb notwendig, die Entwicklungskrise, die hier am Werk ist, in den Blick zu nehmen.
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Die afrikanisch-arabische Entwicklungskrise – Es geht also um die Triebfeder, die hinter übergriffigen Ansprüchen steht. Hinter dem Aufstand des „Globalen Südens“ steht eine gemeinsame Entwicklungskrise. Die Entkopplung des Bevölkerungswachstums von der Entwicklung des Leistungsvermögens von Staat und Wirtschaft, die im Gazastreifen zu beobachten ist, herrscht in vielfältiger Form in sehr vielen Ländern der südlichen Hemisphäre der Erde. Für Europa sind dabei die Länder Afrikas und die Länder des Nahen und Mittleren Osten besonders wichtig. Auch wenn es in einigen Ländern einen gewissen Rückgang der Wachstumsraten gibt, so geht doch insgesamt die Schere zwischen Bevölkerungswachstum und Produktivitätswachstum immer weiter auseinander. Das zeigen beispielhaft die folgenden Zahlen:
Die Bevölkerungsentwicklung in verschiedenen Ländern des Nahen Ostens, Mittleren Ostens und Afrikas (in Millionen) (für das Jahr 2040: Prognose)

Ein Zahlenvergleich zwischen Europa und Afrika kann die Entwicklungskrise, die sich auf Seiten des Südens zugespitzt hat, verdeutlichen. Nach Angaben der Vereinten Nationen lebten in Europa 1950 549 Millionen Menschen und für das Jahr 2050 wird hier ein Wachstum auf circa 700 Millionen prognostiziert. In Afrika lebten 1950 229 Millionen Menschen. Deren Zahl wird für 2050 mit 2500 Millionen Menschen prognostiziert. Die Bevölkerung Afrikas wird dann so groß sein wie die Gesamtbevölkerung der Erde im Jahre 1950. Bevölkerungsentwicklungen sind – im Vergleich zu den heute so vielzitierten Klimadaten – in ihren Wirkungszusammenhängen relativ überschaubar. Man kann den sich daraus ergebenden Bedarf an Nahrung, Wohnung, Gesundheit, Bildung etc. einigermaßen genau angeben. Auch den Bedarf an Produktionsstätten und Infrastrukturen.
Die Situation lässt sich nicht beschönigen: Die Schieflage ist so groß und so harte Tatsachen geschaffen, dass es Jahrzehnte erfordern wird, bis die Bevölkerungsentwicklung und die Entwicklung von Wirtschaft und Staat sich eventuell annähern könnten. Die Konsequenzen sollte man deutlich aussprechen: In Afrika steckt ein Großteil der Länder in einer Krise, die für diese Länder auf Jahrzehnte der Not hinausläuft. Diese Zwangslage ist so groß, dass sie auch mit den Ressourcen Europas nicht zu beheben ist, sondern Europa bei einem Rettungsversuch selbst schwer in Mitleidenschaft gezogen werden würde. Aber auch die Kombination von arabisch-muslimischer Welt und Afrika, oder die Kombination mit Chinas neuer Wirtschaftsstärke wird den Ausmaßen dieser Krise nicht gewachsen sein. Es gibt keine Lösung von außen.
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Der schwierige Weg zu einer Priorität der Binnenentwicklung – Die Einsicht in die Zwangslage einer immensen Überbevölkerung, die die Entwicklungskrise in Afrika und anderen Südregionen bereits hergestellt, bedeutet, dass der „Globale Süden“ keine unwiderstehliche Großmacht ist, die bald die Geschicke der Welt bestimmen wird. Er ist in Wahrheit ein Krisen-Süden, für den es keine externen, globalen Lösungen gibt, und für den der einzige Ausweg – eine dauerhafte Priorität der inneren Entwicklung und Eigenverantwortung – eine lange Durststrecke bedeuten wird. Die Sprache der großen Ansprüche und Resolutionen auf internationaler Ebene wird nicht halten, was sie verspricht.
Wird eine sehr junge entwurzelte Bevölkerung, die sich in viel zu großen Städten sammelt, ohne Erfahrungen mit kontinuierlicher Arbeit und mit dem Aufbau einer tragfähigen Existenz machen zu können, zu einem nüchternen Realismus finden können? Die Gefahr, dass sie in einem anarchischen Umfeld besonders heftig hin und her gerissen ist, ist groß. Aber auch die Gefahr, dass eine schmale, global vernetzte Oberschicht, die mit dem eigenen Land nichts zu tun haben will, sich im Namen des „Globalen Südens“ für repräsentative Zwecke international alimentieren lässt, ist groß. Man kann sicher nicht den konkreten Weg vorhersagen, auf dem eine tragfähige Entwicklung zustande kommen wird. Man kann allenfalls einige Eckpunkte festhalten. Die Geographie und Geschichte des „globalen“ Südens umfasst bei näherem Hinsehen sehr viele verschiedene Bedingungen und Ressourcen. Dem kann nur Rechnung getragen werden, wenn die einzelnen Länder ihren Weg und ihren Zeitplan selbst bestimmen und nicht von anderen Ländern abhängig machen. Man muss den Ballast der „panafrikanischen“ und „panarabischen“ Lösungen loswerden.
Und es gibt noch eine Gefahr, die mindestens ebenso groß ist. Das ist die Gefahr der Auflösung jeglicher Macht und Verfall in anarchische Zustände, in denen es keine Autorität mehr gibt, die die Lage eines Landes beurteilen kann, die Entscheidungen für dies Land als Ganzem treffen kann und die für die Durchsetzung dieser Entscheidungen Gehorsam beanspruchen kann. Bei dieser Autorität sind verschiedene Lösungen denkbar, und man sollte nicht versuchen, sie von außen zu zensieren. Es kann die Autorität einer Monarchie sein, oder die Autorität einer Regierungspartei sein, deren Mehrheit aus Parlamentswahlen hervorgeht. Oder eine führende Partei, die in der Verfassung so verankert ist. Es kann eine Militärregierung sein. Es kann eine religiöse Führung sein. Diese Betonung einer gesicherten Zentralmacht mag vielleicht befremden. Aber man muss sich immer klarmachen, dass die meisten Länder der südlichen Hemisphäre vor Jahrzehnten extremer Knappheit stehen werden, und dass die Selbstbehauptung eines Landes unter diesen Umständen von der Existenz einer Autorität abhängt, die bei den notwendigen harten Entscheidungen allgemein anerkannt wird.

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Umso wichtiger ist es, dass sich der Norden wappnet und v.a. auch Europa an einer gemeinsamen Sicherheitsarchitektur bastelt, ohne Russland auszuschließen. Bei einer fortschreitenden Bevölkerungsexplosion in Afrika kann man nicht mehr definitiv ausschließen, dass künftige kriegerische Aggressionen von dort ausgehen. Die Bewaffnung dieser Staaten schreitet unaufhörlich fort und das sind definitiv keine Weicheier wie hier in Europa. Warum das so ist bzw. sein kann, ist im obigen Beitrag eindrucksvoll dargestellt.