Warten auf Johnson

Die gute Nachricht des Tages: Boris Johnson scheint es besser zu gehen. Die britische Regierung wird derweil von Dominic Raab geführt, dem Johnson als standfestem Brexiteer am ehesten über den Weg traute. Eins vermag aber auch Raab nicht: den britischen Lockdown aufzuheben. Dafür gibt es verschiedene Gründe.

imago Images

Vier Tage nach seiner Einweisung in das staatliche St. Thomas’ Hospital soll es Boris Johnson besser gehen. Sein Fieber sank, und der Premier war in der Lage, sich im Bett aufzusetzen. Johnson atmet weiterhin eigenständig, erhält aber Sauerstoff und hat die Arbeit fürs erste bei Seite gelegt. Das teilte der Schatzkanzler Rishi Sunak der Presse mit. Laut einem Regierungssprecher hat Johnson keine Lungenentzündung und spricht positiv auf die Behandlung an.

Im Online-Magazin Spiked hat Brendan O’Neill dieser Tage daran erinnert, dass Johnsons Betreten der nationalen Bühne eigentlich die Überwindung einer »Politik der Angst« bedeutet habe. Konkret hatte er das »Projekt Angst« der Brexit-Gegner beendet und durch Zuversicht und Tatkraft ersetzt. O’Neill hofft, dass der Schrecken und das politische Chaos der Corona-Krise nicht zu einem Wiedererstehen des alten Gespenstes »Angst« und seiner Verbündeten, Technokratie und Misstrauen in die eigenen Fähigkeiten, führen.

Einstweilen hat die Einweisung Johnsons ins Krankenhaus und die Verlegung auf die Intensivstation nach nur 24 Stunden alle politischen Lager – oder zumindest ihre höchsten Repräsentanten – in Solidarität mit dem Premier geeint. Nur eine Labour-Abgeordnete und Bürgermeisterin wurde aus ihrer Fraktion ausgeschlossen, weil sie Johnson das Mitgefühl verweigerte und twitterte, er verdiene es, auf der Intensivstation zu liegen. Der schnelle Ausschluss war vielleicht schon eine Wirkung des neuen Labour-Chefs Keir Starmer, der seine Partei auf längere Sicht zurück in die politische Mitte führen könnte.

In der Times gab sich die Kommentatorin Jenni Russell der Hoffnung hin, dass man in Großbritannien den politischen Streit noch immer mit Argumenten gewinnen will – insofern wünsche man sich nicht, dass der politische Gegner durch widrige Umstände außer Gefecht gesetzt wird. Zugleich wird aber im Lande – so auch im Kommentar der Times – das Machtvakuum diskutiert, das sich durch Johnsons zeitweiligen Ausfall ergibt.

Der Stellvertreter und seine Optionen

Der etwas steife Außenminister Dominic Raab hat sich vor allem durch persönliche Loyalität und sein Brexiteer-Veteranentum für den Stellvertreterposten qualifiziert. Hinter ihm in der inoffiziellen ›Amtsnachfolge‹ scheint der blutjunge Schatzkanzler Rishi Sunak zu stehen, danach folgt laut einem Zeitungsbericht Innenministerin Priti Patel. Abgeschlagen ist der Johnson-Konkurrent Michael Gove, der sich lange als Thronprinz fühlte. Raab war seit 2017 an unterschiedlicher Stelle Minister. Wichtige Entscheidungen traut man ihm allerdings nicht zu. Er soll einfach nur Johnsons Politik fortschreiben (was eigentlich schwierig ist, wenn man nichts ändert). Und so scheint alles auf eine Verlängerung des Lockdowns, vielleicht bis in den Mai, hinauszulaufen.

An sich gab es Überlegungen, zumindest die Schulen nach Ostern wieder zu öffnen – das wäre ein erstes Mittel gewesen, um der Wirtschaft langsam wieder aufzuhelfen. Johnson hatte eine Überprüfung der Maßnahmen nach Ostern versprochen. Raab kündigte nun an, die Maßnahmen zu überprüfen, sobald ihre Wirksamkeit erwiesen sei. Man müsse erst den »Scheitelpunkt« überschritten haben. Die Regierung hat inzwischen ein 40-Milliarden-Pfund-Programm aufgelegt, um kleinen und mittelgroßen Unternehmen über die Durststrecke hinwegzuhelfen.

Aber es ist nicht nur die Krankheit des Premiers. Auch ein Rückschlag bei der Beschaffung effizienter Antikörpertests vereitelt derzeit optimistischere Planungen der Regierung. Die von China gekauften 17,5 Millionen Antikörper-Schnelltests, die auch zu Hause angewendet werden können, schlagen nur bei der Hälfte der ehemals Infizierten an. Die Zahl der gebildeten Antikörper variiert je nach Schwere der Erkrankung. In Großbritannien – angeblich auch in Deutschland – denkt man derzeit über einen »Immunitätspass« für Menschen nach, die die Infektion überstanden haben. Wenn die Tests zumindest wenigstens die stärker Erkrankten sicher herausfinden, könnten sie zumindest einen Anhaltspunkt beim ›Streben nach der Immunität‹ bilden.

Hinzu kommt als derzeit zweites Hindernis für eine Aufhebung der allgemeinen Maßnahmen die Schwere des Pandemie-Verlaufs in Großbritannien. Noch sieht man die Nation nicht auf dem Wege der Besserung. Am Mittwoch starben der amtlichen Statistik zufolge 938 Briten durch das Coronavirus, ein neuer Tagesrekord. Insgesamt sind damit mehr als 7.000 Briten der Krankheit zum Opfer gefallen (auch wenn natürlich die Statistiken immer wieder in ihrer Gültigkeit angezweifelt werden; Stichwort »Sterben mit Covid-19«). Immerhin ist eine Plateaubildung festzustellen, was die Krankenhauseinweisungen angeht.

Was eine Aufhebung des Lockdowns angeht, empfehlen internationale Gesundheitsexperten das Vorbild Südkoreas, in dem es täglich nur 50 Neuinfektionen geben soll. Erst wenn dieses Größenmaß erreicht sei, könne man an eine Lockerung des Lockdowns gehen. Doch von diesen Bedingungen ist man auf der Insel – und in fast jedem europäischen Land – noch sehr, sehr weit entfernt. Derzeit gibt es in den größeren Ländern Westeuropas jeden Tag tausende neue Infektionen. Buchstabiert man die Kriterien für ein Lockdown-Ende aus, dann könnte es nach einer Aufhebung der Maßnahmen zu deren baldiger Wiederaufnahme kommen, sobald die Zahlen erneut deutlich anstiegen. Und das bliebe das Verfahren, bis eine wirksame Therapie oder ein Impfstoff gefunden wären.

Wie gut war die Regierung beraten?

Zu neuen Diskussionen führte nun ein ausführlicher Bericht der Nachrichtenagentur Reuters zur britischen Regierungslinie in Sachen Pandemie. Die wissenschaftlichen Berater der Regierung hätten demnach ihre Befürchtungen nicht deutlich genug artikuliert und die Politiker sie nicht kritisch genug dazu befragt. Dabei war allen Beteiligten mindestens seit Mitte Januar klar, dass der chinesische Ausbruch sehr ernst zu nehmen war, dass er »pandemisches Potential« hatte und die Todesraten zumal der Alten dort »brutal« waren.

Schon zu diesem Zeitpunkt wurden zahlreiche Beratergremien im Umfeld der Regierung aktiv und gingen in den »Kriegsmodus«, also zu täglichen Sitzungen und Briefings über. Trotzdem schien die Krankheit vorerst weit weg, obwohl doch allein 17 Direktflüge aus Wuhan noch im Januar in London gelandet waren, 614 waren es aus ganz China. Der Regierungsberater Neil Ferguson vermutet inzwischen, dass man nur ein Drittel der infizierten Reisenden überhaupt gefunden habe. Doch die Gefährdungslage beließ man noch bis Ende Februar auf »niedrig«.

Hinzu kamen organisatorische Versäumnisse im Land selbst: Die Tests auf das Virus hatte man in einem staatlichen Labor im Norden Londons zentralisiert. Die vorhandenen Testkapazitäten privater Labors und an Universitäten, wo man täglich tausende Tests hätte machen können, ignorierte man derweil. Auch eine Aufstockung der Beatmungsgeräte, die Johnson im März ankündigen sollte, wurde vorerst nicht betrieben. Einen nationalen Lockdown schließlich hielt man für nicht durchsetzbar. Erst die in Italien getroffenen Quarantänemaßnahmen öffneten den »politischen Raum« dafür auch im Rest Europas. Dabei hätten frühere Maßnahmen vermutlich bessere Erfolge erzielt und so auch ein früheres Auslaufen des Lockdowns erlaubt.

Der Mediziner John Ashton, zugleich Regionaldirektor beim staatlichen Gesundheitsamt Public Health England, mahnt für die Zukunft ein breiter und pluraler besetztes Gremium »unabhängiger Berater« an. Der Mathematiker Michael Cates, seinerseits Nachfolger von Stephen Hawkings in Cambridge, schlägt vor, auch andere Disziplinen neben der Medizin zu Wort herbeizuziehen, um möglichst viel Licht auf die Methoden, die Annahmen und zugrundeliegenden Daten zu werfen.

Auch in Großbritannien war man bereits vor dem neuen Coronavirus zu dem Ergebnis gekommen, dass eine Pandemie ein gefährlicheres Ereignis darstellen kann, als es etwa ein terroristischer Anschlag oder ein Börsencrash sind. Eine schwere, ansteckende Krankheit vereint in sich sozusagen die Folgen mehrerer Katastrophen, weil sie am verletzlichsten Faktor – dem Menschen – ansetzt. Zum Verlust menschlicher Leben kommen die allgemeine Verunsicherung sowie Einbußen bei Vermögenswerten und der wirtschaftlichen Prosperität hinzu.

Schadenersatz von China?

Insofern erscheint es nur folgerichtig, wenn die britische Henry Jackson Society – ein außenpolitischer Thinktank – der Regierung empfiehlt, die Volksrepublik für den aktuell entstehenden Schaden haftbar zu machen. Allein die Staaten der G7-Gruppe habe die Pandemie bisher 3,2 Billionen Dollar gekostet. Peking wird dabei vor allem ein Mangel an Offenheit zu Beginn der Epidemie zum Vorwurf gemacht. Die KP Chinas hatte die Krankheit zunächst gänzlich verschwiegen und erst Ende Januar zugegeben, dass auch Mensch-zu-Mensch-Infektionen möglich sind. Dabei sind Staaten durch die Regeln der Gesundheitsvorsorge dazu verpflichtet, die internationale Gemeinschaft über eine potentielle Pandemie zu informieren. China sei »verantwortlich für Covid-19«.

Durch die Verschleierung des chinesischen Ausbruchs konnte sich das Virus ungehindert über die gesamte Welt verbreiten und so »außerordentlich ernste Konsequenzen für die globale Gesundheit und Wirtschaft« zeitigen. Die Kosten für das Vereinigte Königreich beziffert der Thinktank auf 350 Milliarden Pfund, die man von China zurückfordern müsse. Zudem haben 15 konservative Abgeordnete die Regierung aufgefordert, die Beziehung zu China grundsätzlich zu überdenken. Das könnte sich auch auf die Beteiligung des chinesischen Elektronikkonzerns Huawei am britischen 5G-Netz beziehen, wie von manchen bereits vorschnell gemeldet. Die Pointe an dem Ganzen ist, dass China der Welt inzwischen als Gönner und Ratgeber in Sachen Covid-19 zur Seite steht.

Es fügt sich, dass die Quarantänemaßnahmen im chinesischen Wuhan, der Wiege des Virus, in diesen Tagen gelockert wurden – nach 76 Tagen, also knapp elf Wochen oder beinahe drei Monaten. Natürlich sind die Länder und auch die getroffenen Maßnahmen nicht vergleichbar. Aber pauschal auf Europa übertragen, würde dies einen Stillstand bis in den Juni hinein bedeuten. Das dürfte dann allerdings die Grenze des wirtschaftlich Verkraftbaren darstellen.

Update: Am Donnerstagabend konnte Johnson die Intensivstation wieder verlassen und wurde in ein normales Krankenzimmer verlegt, wo er weiterhin aufmerksam überwacht wird. Laut Downing Street war Johnson »äußerst guter Dinge«. Behandelt wurde Johnson nur mit Sauerstoff. Versuche mit neuen Medikamenten ohne einschlägige Zulassung wurden nicht an ihm gemacht.

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Kommentare ( 8 )

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Denis Diderot 2018
4 Jahre her

Es gibt viele gute Gründe, Chinas Regierung sehr kritisch zu sehen und die von Merkel initiierte Äquidistanz erst recht. Jubelartikel auf WON preisen Merkel für ihre Voraussicht, eine solche zu unseren Verbündeten USA und den Kommunisten in Peking aufgebaut zu haben; ich würde mich hüten, gemeinsame Sache mit Kommunisten zu machen. Erschossen zu werden oder Zwangsarbeit – das ist die Wahl, die der Parteitag der Partei Die Linke (SED) als Quintessenz für die Leistungsträger unseres Landes bereithält. Die Pekinger kennen zur Ergänzung noch den Organraub. Aber: Das überall aufkeimende China-Bashing dient ganz offensichtlich der Ablenkung von eigenen Versäumnissen. Und das… Mehr

Wolfgang Schuckmann
4 Jahre her

Wenn man sich an den Opiumkrieg zur Jahrhundertwende um 1900 erinnert, kann einem ganz Bange werden, wenn man an die daraus durchaus realistisch einzuschätzenden Schadenersatzansprüche Chinas gegenüber GB denkt.
Es dürfte klar sein , dass hier wohl der Wunsch der Vater des Gedankens sein muss.
Außerdem ist jetzt, so glaube ich wenigstens nicht der Zeitpunkt über solche Dinge nachzudenken.
Keine Nebelkerzen zünden, eigene Hausaufgaben richtig machen und Andere nicht für das eigene Versagen verantwortlich machen dürfte zur Zeit als angesagt gelten.
Und das gilt selbstredend auch für Deutschland und zwar ohne wenn und aber.

Johann P.
4 Jahre her

Die besten Wünsche für eine baldige und vollständige Genesung an den britischen Premierminister! Politiker wie er sind heute unverzichtbar, sie bilden ein wichiges Gegengewicht zur vereinigten linkssozialistischen Räuberbande in der EU. Deren Niedergang muß unbedingt weiter betrieben werden.

Schonclode
4 Jahre her

Wenn die Britische Regierung, und deren Vorgänger, für IHRE Verbrechen an China haftbar gemacht werden würden, dann stände kein Stein und Grashalm mehr in GB.

Mozartin
4 Jahre her

Keine Frage, dass Chinas Informationspolitik kritisch hinterfragt und angeprangert werden darf, aber müssen es denn gleich „Reparationsforderungen“ sein?
Was haben die Engländer denn früher so in China angestellt?

Wolfgang Schuckmann
4 Jahre her
Antworten an  Mozartin

Sind Sie denn sicher, dass wir hier „im Westen“ immer zutreffend informiert werden?
Auch bei uns gibt es in dieser Hinsicht Vorbehalte.

Hannibal ante portas
4 Jahre her

„…der Regierung empfiehlt, die Volksrepublik für den aktuell entstehenden Schaden haftbar zu machen…“ der war gut. Selten so gelacht!!

Marc Hofmann
4 Jahre her

Die Not der Marktgesellschaft/Unternehmer und damit die Not des sozialen zusammenleben wird den Lock down auch in England ganz Real Beenden/erzwingen!
Der Druck der Leistungsgesellschaft..der Marktgesellschaft…der Mehrwertschaffung und Fortschritt wird sich über den Stillstand hinwegsetzen.