Skandal-Urteil gegen Schauspieler bringt Prominente gegen Kreml auf

Moskaus Regierung wollte gegen die Proteste extreme Härte demonstrieren – doch nun droht der Schuss nach hinten loszugehen. Die Verurteilung von Pawel Ustinow in einem kafkaesken Prozess führte zu massivem Widerstand auch von Prominenten. Nun deutet viel darauf hin, dass der Kreml einknickt vor dem Unmut der Gesellschaft.

imago images / ITAR-TASS

Pawel Ustinow versteht bis heute nicht, was ihn ins Gefängnis gebracht hat. Der 24-jährige Moskauer Schauspieler wollte sich am 3. August mit einem Freund im Zentrum der russischen Hauptstadt treffen. Als er an der U-Bahn-Station Puschkinskaja ausstieg, stand da eine Menschenmasse – Demonstranten, die gegen den Ausschluss der wichtigsten Oppositionäre von den Moskauer Regionalwahlen am 8. September protestierten. Immer wieder pickten sich Polizisten der berüchtigten Sondereinsatztruppe „OMON“ und der „Nationalgarde“ wahllos Personen aus der Menge und nahmen sie fest.

Ustinow, nach Aussagen seiner Verwandten ein unpolitischer Mensch, stand nur am U-Bahn-Ausgang, als plötzlich drei Nationalgardisten von hinten auf ihn zukamen, ihm die Hände umdrehten, ihn auf den Boden schmissen und mit Schlagstöcken auf ihn eindroschen, wie Augenzeugen berichten. Anschließend wurde er in einen Gefangenen-Transporter abgeführt. „Ich konnte mich wegdrehen, nur so gelang es mir, nicht mit dem Kopf auf den Asphalt zu fallen, was mich hätte umbringen können“, berichtete Ustinow. Auch sein Freund, mit dem er sich treffen wollte, wurde festgenommen und blieb zwei Tage in Haft. Beide, beteuert der 24-Jährige, hätten von der Protestveranstaltung gar nichts gewusst.

Umso überraschter war der junge Schauspieler, als kurz darauf ein Strafverfahren gegen ihn eröffnet wurde – er soll Widerstand gegen die Festnahme geleistet und einem Beamten die Schulter ausgekugelt haben. Auf dem angeblichen Beweismittel, einer Videoaufnahme, ist aber weder eine solche Szene noch die Festnahme Ustinows zu sehen, wie die renommierte „Nowaja gaseta“ schreibt. Dafür wurde eine andere Videosequenz im Verfahren nicht als Beweismittel zugelassen, auf der eindeutig zu sehen ist, wie Ustinow nicht nur keinen Widerstand leistet, sondern selbst geschlagen wird. Das Gericht weigerte sich auch, die Aussagen von zwei Augenzeugen, die den Angeklagten entlasten, zu akzeptieren. Der Richter Alexej Kriworutschko gilt als berüchtigt und steht auf einer Liste von Menschenrechtsverletzern, die in den USA Gesetzeskraft hat.

Der Prozess, den die Moskauer Menschenrechtlerin Viktoria Iwlewa als „kafkaesk“ bezeichnete, endete am Montag mit einer Verurteilung von Ustinow zu dreieinhalb Jahren Lagerhaft. Putins Sprecher Dmitrij Peskow sagte zwar zu dem Urteil, dass der Kreml keinen Einfluss auf Gerichte habe – der Putin-Vertraute Dmitrij Medwedew beklagte jedoch in seiner Zeit als Präsident selbst den „Rechts-Nihilismus“ im Land, und räumt ein, dass Gerichtsurteile den Richtern von oben per Telefon diktiert würden. Kremlkritiker werfen der Justiz vor, auf Befehl der Regierung zur Abschreckung drakonische Strafen gegen Bürger zu verhängen, die gegen den Kreml protestieren – oder nur zufällig zur falschen Zeit an der falschen Stelle sind.

Die drakonischen Warnschüsse könnten nun allerdings nach hinten losgehen: In der Gesellschaft regt sich massiver Widerstand gegen die Verurteilung Ustinows. Viele Prominente, allen voran Schauspieler und Regisseure, kritisieren öffentlich das Verfahren und fordern eine Freilassung des jungen Mannes. Der Rockstar Sergej Schnurow von der Gruppe „Leningrad“ appelliert in seinem Instagram-Account an das Gericht: „Wir haben Zweifel an Ihnen! Sind Sie noch ganz dicht?“ Der Schauspieler Maxim Alexander Pal bezeichnete das ganze Verfahren als „an den Haaren herbeigezogen“, sieht „Willkür und Unrechtsjustiz“ und kündige einen Flashmob zur Unterstützung des Verurteilen an. Vor dem Moskauer Präsidialamt kam es zu spontanen Protesten. In mehreren Moskauer Theatern sprachen sich die Schauspieler zum Schluss-Applaus öffentlich für ihren inhaftierten Kollegen aus.

Sogar Vertreter der russisch-orthodoxen Kirche setzten sich für Ustinow ein. Mehr als 50 Geistliche unterschrieben einen offenen Brief, in dem es heißt: „Gerichte können nicht als ein Mittel benutzt werden, um Andersdenkende zu unterdrücken.“ Dieser Protest ist umso überraschender, als der Kreml massiven Einfluss auf die orthodoxe Kirche hat und diese meist sehr loyal zur Regierung steht.

Der berühmte Anwalt Anatolij Kutscherena kündigte an, im Berufungsverfahren die Verteidigung Ustinows zu übernehmen – auf Bitten des legendären Regisseurs Konstantin Raikin. So viel Widerstand scheint man im Kreml nicht erwartet zu haben – und denkt offenbar an ein Einlenken: Überraschend verteidigte auch der Generalsekretär der Putin-Partei „Einiges Russland“, Andrej Turtschak, den Verurteilten: Er nannte das Verfahren eine „hanebüchene Ungerechtigkeit“; es sei „unmöglich, das zu ignorieren und zu schweigen“. Wladimir Solowjow, Fernseh-Star und einer der bekanntesten Propagandisten Putins in Moskau, erklärte sich bereit, die Kosten für die Verteidigung Ustinows zu übernehmen – und gab die Schuld an dem Urteil den „schlechten Anwälten“ des jungen Schauspielers. Die Chefin von RT, dem früheren Russia Today, Margarita Simonjan, schrieb auf twitter, ganz oben – also im Kreml – werde der Sache nachgegangen, man solle nur etwas Geduld haben.

Somit deutet sich an, dass der Kreml ein zweites Mal dem Druck der Öffentlichkeit gegen willkürliche Strafverfahren nachgeben wird: Im Juni wurde der Investigativ-Journalist Iwan Golunow wegen angeblichen Drogenbesitzes festgenommen. Nach massiven Protesten stellte sich heraus, dass offenbar die Polizisten selbst ihm die Drogen untergejubelt hatten, im Auftrag von Beamten, über die Golunow belastendes Material recherchiert hatte. Der Journalist wurde freigelassen, und gegen die Ermittler ermittelt. Zwei Polizei-Generäle wurden wegen des Skandals entlassen.

„Im Fall Ustinow muss die Justiz jetzt offenbar das Recht brechen, um den alten Rechtsbruch zu beseitigen“, glaubt die Menschenrechtlerin Iwlewa: Die Berufungsverhandlung sei für Montag einberufen worden, obwohl das laut Gesetz nicht zulässig, weil zu früh sei. „Aus Angst vor weiteren Protesten will der Kreml jetzt offenbar Ustinow ganz schnell auf freien Fuß bringen“, glaubt Iwlewa. Der Politologe sieht Kirill Rogow sieht die Proteste und das sich abzeichnende Einlenken des Kremls einerseits als Hoffnungszeigen: „Damit wird deutlich, dass schwere Repressionen wie früher heute in Russland nicht mehr akzeptiert werden von der Bevölkerung!“ Andererseits wolle der Kreml mit dem Fall Ustinow ablenken von denjenigen Inhaftierten, die wirklich an den Demonstrationen teilgenommen haben: „Auch sie sind unschuldig, aber der Fokus rückt jetzt von ihnen ab.“

Eine Freilassung Ustinows wäre in den Augen Rogows ein Signal für eine gewisse Schwäche der Regierung – und damit wichtiger symbolischer Sieg der Opposition, deren wichtigsten Politiker in Moskau von der Wahl ausgeschlossen wurden und den Wahlkampf größtenteils im Gefängnis verbringen mussten. Dennoch erlitt die Kreml-Partei bei den Wahlen des Regionalparlaments in der Hauptstadt empfindliche Einbußen. Mehrere andere Demonstranten sitzen aber weiter in Haft und warten auf ihre Prozesse, einige wurden in fragwürdigen Prozessen zu mehrjährigen Haftstrafen verurteilt. Doch vielleicht gibt es auch für sie Hoffnung. Mehrere russische Staatsanwälte beantragten am Mittwoch die Freilassung von Aidar Gubaidulin, der ebenfalls wegen der Teilnahme an den Protesten einsitzt, und eine Prüfung des Falls. Damit widersprachen die Ankläger sich selbst. Denn kurz zuvor hatten sie sich noch für Gubaidulins weitere Inhaftierung ausgesprochen.


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Lesen Sie auch Reitschusters Kolumne «Berlin extrem – Frontberichte aus Charlottengrad»: Darin lüftet der Autor ironisch den Blick hinter die Kulissen der russisch-ukrainisch-jüdischen Diaspora an der Spree, deren Außeneinsichten oft ungewöhnliche Perspektiven eröffnen. Darüber hinaus spießt der Autor den Alltags-Wahnsinn in der Hauptstadt auf – ebenso wie die Absurditäten in der Parallelwelt des Berliner Politikbetriebs und deren Auswirkungen auf den bodenhaftenden Rest der Republik.

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Kommentare ( 9 )

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Allan Protisil
4 Jahre her

@Enhadrei
Ich schaue Solowjow nicht so gerne, diese politischen Debatten sind meist endlos. Besser finde ich Kisseljows Wochennachrichtenschau, die hat viel Tiefgang, bringt Hintergründe und Analysen. Journalismus wie er sein sollte!
@Reitschuler
Ihre Analyse zur „Putindämmerung“: „Einerseits ist die jederzeit möglich, andererseits kann er sich auch gut noch lange halten“ hats ja in sich. Sehr exakte und brauchbare Prognose.

Allan Protisil
4 Jahre her

„Schauspieler“ – es fällt auf, dass immer wenn eine dem Westen genehme Figur Thema ist, prominent auf deren Beruf, Zivilstand,usw. hingewiesen wird. Hier z.B. ein “Schauspieler”. Umgekehrt aber kann ich mich nicht entsinnen, je eine Schlagzeile wie “Ukraine: Zahnarzt, Automechaniker und Bibliothekar (Vater von 2 Kindern) vom ukrainischen Geheimdienst wegen Separatismus verhaftet” gelesen zu haben.

AJMazurek
4 Jahre her

Kein lupenreiner Demokrat macht sich irgendwelche Sorgen um Snowden, Manning oder Assange … oder um „The Caging of America“, wie´s The New Yorker seinerzeit ansprach … schon komisch, oder? Na ja, bald kommt die KI-Justiz und die kann nicht irren, nur Menschen machen Fehler. Alles wird gut in der „schönen neuen Welt“, auch das Ende des Menschen als Soylent Green.

frei_nicht_willig
4 Jahre her

Schockierend! Die Russische Föderation ist eine Diktatur, ein präfaschistischer Polizeistaat, „regiert“ von einer mafiösen Kleptokratie … die Krieg als innenpolitisches Mittel einsetzt, hochrüstet und die militärische Provokation der NATO zelebriert. Aber die Bundesrepublik Deutschland ist unter Frau Dr. Merkel nicht mal mehr für den Verteidigungsfall bereit …

jugend_attacke
4 Jahre her
Antworten an  frei_nicht_willig

Ich werde „den Russen“ in Dresden mit Blumen empfangen, sollte es zum Verteidigungsfall kommen.

Boris Reitschuster
4 Jahre her

Sie kennen sich ja gut aus in Russland – Respekt. Das mit Solowjow ist in der Tat erstaunlich. Die Interpretation von Iwlewa, die ich für schlüssig halte: Im Kreml haben sie inzwischen ein feines Gespür dafür, was zu größeren Protesten führen könnte. Die Verurteilung Ustinows hat viele emotional aufgerüttelt und hätte wieder viele Menschen auf die Straße bringen können. Deswegen bekamen auch kreml-nahe Kräfte und Leute wie Solowjow das Grüne Licht, das Urteil zu kritisieren – so wird deutlich gemacht, der Mann kommt bald frei (geschieht ja nun möglicherweise im Eil-Modus, schneller als es legal möglich wäre nach dem Urteil),… Mehr

Janno
4 Jahre her
Antworten an  Boris Reitschuster

Ihr letzter Ansatz sollte eine Selbstverständlichkeit von Demokraten sein. Wir verteidigen Prinzipien, nicht Personen. Dahingehend sind Merkel und Putin gleichwertig zu kritisieren, weil sie beide gegen Prinzipien der Gewaltenteilung, der Subsidarität, der Demokratie und Rechtsstaatlichkeit verstoßen. Und beide nutzen die dafür sehr geschickt die Macht der Medien. Was aber beide unterscheidet ist der Subtext ihrer Herrschaft. Putin lockt die Eliten mit unfassbarem Reichtum und das einfache Volk mit Nationalismus, droht mit Repression und brutaler, willkürlicher Gewalt. Merkel aber lockt Eliten wie das einfache Volk mit Almosen, Absolution und Postnationalismus und lässt von anderen mit Exkommunikation oder ewiger Verdammnis drohen. Was… Mehr

Hartholz
4 Jahre her
Antworten an  Janno

Treffend beschrieben, insbesondere am Schluss. ?

Ivan Ivanov
4 Jahre her
Antworten an  Boris Reitschuster

Ich habe Putin absolut nicht toll, aber ich denke, dass er doch kleineres Übel für RU ist, als Merkel für D. Außerdem, lieber Борис, weil ich sowohl in der UdSSR, als auch in noch demokratischem und marktwirtschaftlichem Deutschland (bei Kohl und Schröder) gelebt habe, kann ich Veränderungen in beiden Ländern vergleichen und sagen, dass in Allgemeinem unglaublich riesige Veränderung in RU (trotz oder dankt Putin?) zweifellos eindeutig positiv sind, was ich über D, leider, sagen nicht kann. Übrigens, Entwicklung russischer Gesellschaft in Richtung Zivilgesellschaft und mehr Demokratie (in RU sowohl einfache Menschen, als auch Prominente protestieren gegen Regierung, in D… Mehr