Frachter „Anatolian“ missachtet Kontrollen – Türkei inszeniert Provokation bei Lesbos

Nach Erdogans „Wir-kommen-bei-Nacht“-Rede ist die Stimmung in der Ägäis explosiv. Ein türkischer Frachter missachtet Kontrollaufrufe und wird zum Ziel griechischer Warnschüsse. Ist es eine türkische Provokation oder ein griechischer „Schuss vor den Bug“ für Erdogan?

IMAGO / Xinhua
Ein Archivbild der "Mavi Marmara" aus 2010 (hier in Istanbul), die heute unter dem Namen "Anatolian" fährt

Kaum hat Erdogan dem westlichen Nachbarn Griechenland mit einer Invasion gedroht, da beginnen schon die ganz konkreten Reibereien in der Ägäis. Am Samstag, dem 10. September, geriet das türkische Frachtschiff „Anatolian“ unter griechisches Feuer. Das zumindest berichten türkische Medien und die Regierung in Ankara. Laut der türkischen Regierung fuhr das Schiff zu diesem Zeitpunkt in internationalen Gewässer, elf Seemeilen vor der Insel Bozcaada (griechisch Tenedos) in der Nähe der Dardanellen.

Auf Twitter kursierte bald ein halbwegs dramatisches Video, das aus der Kabine der „Anatolian“ gedreht sein soll und mehrere Schiffe auf dem tiefblauen Meer in schneller Fahrt zeigt. Mehrere Schüsse sind zu hören, bevor ein Einschussloch an einer Scheibe und im Innern der Kabine gezeigt wird, danach etwas auf dem Boden: eine Patronenhülse?

There was a confusion on it. Apparently it was docked in Somalia and turned a cargo ship a while ago

— Ragıp Soylu (@ragipsoylu) September 11, 2022

Die griechische Küstenwache bestätigt den Vorfall, wenn auch bei einigen Unterschieden, zweifelt aber die Authentizität des Videos grundsätzlich an. Im griechischen Bericht heißt es: „Heute mittag lokalisierte ein Patrouillenboot der Hafenbehörde Mytilini das RoRo-Schiff ‚Anatolian‘, das unter der Flagge der Komoren fährt, nordwestlich von Lesbos, als es sich in verdächtiger Weise in nationalen Hoheitsgewässern bewegte.“ Man habe den Kapitän zum Anhalten aufgerufen, um Kontrollen durchzuführen. Das geschieht regelmäßig bei Schiffen und Booten, die sich im Umfeld der griechischen Inseln bewegen – aus dem bekannten Grund. Die griechische Küstenwache versucht hier, möglichst alle Löcher im Netz des Seegrenzschutzes zu schließen, wie einst der Gouverneur der Nordägäis, Kostas Moutzouris, dichtete.

Doch die „Anatolian“ nahm im Moment dieser Aufforderung noch Fahrt auf und steuerte die türkische Küste an. Eine Verfolgungsjagd begann, in deren Verlauf es auch zu Warnschüssen gekommen sei, doch stets nur in die Luft, so die griechischen Grenzschützer. Schließlich erreichte die „Anatolian“ die türkischen Gewässer, was die Griechen zum Abdrehen zwang.

Laut der türkischen Tageszeitung Milliyet fielen in der beschriebenen Szene mehr als 30 Schüsse. Und vielleicht ging ja doch ein griechischer Schuss in die Irre, wie man es in dem Video sieht. Das kann leicht passieren. Die Leitung der türkischen Küstenwache teilte mit, die „Anatolian“ sei mit 18 Mann besetzt gewesen, nämlich mit sechs Ägyptern, vier Somalis, drei Türken und fünf Aserbaidschanern, von denen keiner verletzt worden sei. Das türkische Außenministerium verlangte Erklärungen von Athen.

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Der türkische Kapitän des Komoren-Schiffs gab im Fernsehsender CNN Türk an, die griechischen Küstenschützer hätten die „Anatolian“ berührt, aber keinen Enterversuch unternommen. Er selbst habe sichergestellt, dass sein Schiff an der griechischen Insel Lesbos vorbeigefahren sei und man türkisches Festland zur Rechten gehabt habe. Vor 15 Tagen sei er mit seinem Schiff aus Somalia aufgebrochen – alle Bewegungen des Schiffes würden aufgezeichnet, sagte der Kapitän fast rechtfertigend. Tatsächlich findet man den Standort Mogadischu für die „Anatolian“ auf der Website Marine Traffic.

Es geht um die umbenannte „Mavi Marmara“, das „Ship to Gaza“

In der türkischen Presse kann man nun lesen, dass es sich bei der „Anatolian“ um kein anderes Schiff als die „Mavi Vatan“ handele – jenes berühmt-berüchtigte „Ship for Gaza“, das im Mai 2010 vermeintliche Hilfsgüter zu den radikal-islamischen Verbündeten der Erdogan-Türkei bringen sollte. Die Tageszeitung Türkiye schrieb: „Die Mavi Marmara, die einst Israel angriff, wurde zwölf Jahre danach zum Ziel Griechenlands“. Auch andere Zeitungen machten mit dieser Information auf. Die „Mavi Marmara“ stand damals an der Spitze einer Flottille, die israelische Kräfte einer Kontrolle unterziehen wollten. Es kam zur Enterung, neun Besatzungsmitglieder starben. Eine diplomatische Krise zwischen den beiden Ländern, die im Grunde bis heute anhält, war das Ergebnis.

Das Gesamtszenario scheint also ähnlich, auch wenn die griechische Küstenwache nun weniger entschieden vorging. Und die Seite Marine Traffic scheint zu beweisen, dass die beiden Schiffe identisch sind. Laut einem Pressebericht wurde das Passagierschiff „Mavi Marmara“ 2018 verkauft, in ein Frachtschiff nach dem Roll-on-Roll-off-Prinzip (RoRo) verwandelt und vorerst in „Erdogan Bey“ umbenannt. Später folgte dann der heutige Name, wie sich bei Marine Traffic zeigt. Die türkischen Zeitungstexte spielen mit dieser Identität der beiden Schiffe, um der türkischen Öffentlichkeit eine (islamistisch konnotierte) Identifikationsmöglichkeit zu geben.

Und trotz der Behauptung von dem Verkauf der „Mavi Marmara“, liegt die Annahme nahe, dass die „Anatolian“ noch immer in staatlich-türkischen Diensten steht. Der türkische Sicherheitsexperte Coşkun Başbuğ sagte das ganz offen auf CNN Türk: „Es ist vermutlich ein Schiff, das der Türkei gehört. Es handelt sich um einen geplanten Angriff gegen die Türkei. Das Ziel war nicht, Menschen zu verletzen. Das Ziel war es, eine Antwort durch absichtsvolles Feuer zu geben.“ Eine Antwort, so darf man verstehen, auf die brandstifterische Rede Erdogans in Samsun.

Langfristig sei es die Schwäche Griechenlands, so der Experte weiter, dass man nicht bereit sei, gegen „unschuldige Menschen“ vorzugehen. Griechenland spiele mit dem Feuer, habe aber bisher noch immer vor der türkischen Armee Reißaus genommen. Man hört den machiavellistischen Ton dieser Sicherheitsexperten, die sich eines Dings in der Tat sehr sicher sind: ihrer Sache, und die besteht in einem rücksichtslosen Spiel um Interessenzonen und Vorteile für die eigene Nation. Das sollte niemand vergessen, der mit der Erdogan-Türkei zu tun hat.

Die Griechen als begnadete Defensivspieler – Mitsotakis’ „Nein“

Die Frage ist nun, wer ein Interesse an dem Vorfall hat. Insgesamt bleibt unsicher, welche Informationen in diesem Gewirr stimmen. Es ist beinahe schon „Kriegsnebel“, der sich um das Geschehen gelegt hat. Erdogan könnte damit die eigenen Interessen in der Ägäis in gewohnt kontroverser Art kundtun. Aber auch Griechenland könnte hier eine seiner eher seltenen Provokationen gegen den Möchtegern-Invasoren Erdogan gesetzt haben, indem man ein bekanntes Agentenschiff der türkischen Regierung aufs Korn nahm. Beide Varianten scheinen möglich und schließen sich nicht einmal aus.

Die Mitte-Links-Zeitung To Vima schreibt denn auch von einer „neuen Provokation der Türkei“, die den Vorfall vor Tenedos inszeniert habe. Man hält das Ereignis für eine Illustration von Erdogans Invasionsrede von Samsun, wenn nicht eine Reaktion auf die kraftvollen Worte von Außenminister Nikos Dendias oder anderer griechischer Politiker. Am Samstagabend reagierte dann auch Kyriakos Mitsotakis auf Erdogans Worte. Auf der Internationalen Ausstellung im nordgriechischen Thessaloniki sagte der Premier: „Die Drohungen, die von der anderen Seite der Ägäis ausgestoßen werden, beantwortet man am besten durch ein einziges Wort, das die ganze Kraft unseres Volkes in sich zusammenfasst: Nein, Herr Erdogan. Keine Kraftmeiereien mit Griechenland.“

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Dass die Griechen gute Defensivspieler sind, haben sie ja schon bei der Fußball-EM unter Otto Rehhagel gezeigt, als sie vor allem den eigenen Torraum sehr gründlich zumachten. Aber Mitsotakis spielt auf etwas an, das weiter zurückliegt, auf die 1940er-Jahre, als schon einmal ein griechischer Regent einem ausländischen Invasoren die „freie Fahrt“ verweigert hatte. Am 28. Oktober 1940 rief der Diktator Ioannis Metaxas den italienischen Truppen zu, dass sie Griechenland nicht einnehmen würden. Die Presse machte daraus das „Ochi“ (griechisch für „nein“), das noch immer alljährlich am „Tag des Neins“ gefeiert wird.

Griechenland wolle Grenzen, die unverletzt und sicher sind, fuhr Mitsotakis fort. Diesem Ziel dienen 3.000 neue Grenz- und Küstenschützer, 32 neue Schiffe und der Zaun am Evros, der immer weiter ausgebaut werden soll. Die Kosten für einen Zaun auf ganzer Länge des Evros (ca. 200 Kilometer) könnten bei über einer halben Milliarde Euro liegen, wie ein Ex-Offizier nun sagte. Bisher deckt der Zaun nur ca. 40 Kilometer der Grenze ab.

Die Angst der Türkei vor der Zwölf-Meilen-Zone

Aber die griechischen Grenzen bleiben nur sicher, wenn auch die militärische Abwehr gegen feindliche Invasionen garantiert ist. Ist das nicht gesichert, könnte die Türkei hunderte „Anatolians“ oder „Mavi Marmaras“ schicken, um die griechischen Grenzen mit Drogen- und Menschenschmuggel nach Herzenslust zu zerlöchern. So erklären sich die griechischen Rüstungsprogramme, die noch um vieles kostspieliger sind als der Zaunbau am Evros, aber ihre eigene Logik besitzen. Zwar ist die Türkei wie Griechenland Nato-Land, ihr werden aber Mikro-Aggressionen in der Ägäis, etwa auf griechische Inseln alltäglich zugetraut – zumal ein solcher Angriff kein Bündnisfall wäre. Im Nato-Vertrag gibt es hierfür eigens eine Klausel. Allerdings würde ein regelrechter Krieg an der Ägäis das Bündnis auf eine arge Belastungsprobe stellen und vermutlich früher oder später zur Solidarisierung mit dem einen oder dem anderen Kombattanten führen. Ein Sich-Heraushalten wäre kaum möglich.

Vor allem Frankreich hat diese Sicht der Dinge schon heute verinnerlicht und liefert Griechenland Rafale-Kampfflieger und Belharra-Fregatten. Auch die USA kommen als Lieferanten von Rüstungsgütern in Frage, gibt es doch einflussreiche Senatoren, die für Athens Anliegen werben. Nur Deutschland beliefert lieber die Türkei mit U-Booten, die die Balance im östlichen Mittelmeer in eine andere Richtung drehen könnten.

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In Thessaloniki hob Mitsotakis den Stolz der Griechen auf ihr Vaterland hervor, das inzwischen sogar größer geworden sei: Im Ionischen Meer und rund um Kreta hatte die Regierung vor kurzem eine Ausweitung der Seegrenzen auf zwölf Seemeilen vorgenommen. In der Ägäis wäre eine solche Ausweitung ebenfalls möglich. Allerdings würde es die Ägäis zum griechischen „Binnenmeer“ machen, was wiederum der türkischen Führung nicht gefallen kann. Die ganze Theorie der „Blauen Heimat“ und die damit verbundenen überbordenden Ansprüche sind so etwas wie eine Präventivwaffe gegen diesen Trumpf im Ärmel von Athen.

Für diesen Fall gilt allerdings eine alte Casus-belli-Drohung der Türkei, über die man sich in Athen herrlich aufregen kann, die man bisher aber nicht herausfordert. In der Ägäis bleibt es vorerst wohl bei der Sechs-Seemeilen-Zone. Alles andere würde eine Zündschnur legen, von der niemand weiß, wie lange sie brennt. Nicht zuletzt gibt es auch eine Prophezeiung eines Mönchs vom Berg Athos, der sagte, dass die Türken nur bis zu einem rätselhaften Ort „Eximilia“ kommen würden. Eximilia kann man aber auch genauso gut als „sechs Meilen“ verstehen. Und das könnte die orthodoxen Minister und Militärs darin bestärken, dass die Sechs-Seemeilen-Grenze für die Ägäis ausreicht. Es wäre der Glaube, der in diesem Fall keine Grenzen versetzt.

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