Tichys Einblick
Mit dem BMW zum Eiffelturm

Die Migrations-Influencer: Wie TikToker für illegale Einreisen werben

Sie stellen es als das Normalste von der Welt dar: Zwei Influencerinnen aus Nordafrika verbreiten in dem Unterhaltungsforum TikTok fröhliche Bilder von der "Harka", der Migration auf Booten übers Mittelmeer nach Italien. Das Phänomen ist nicht ganz neu.

Screenprint: TikTok/chaimaben_mahmoude

Täglich machen sich Dutzende Menschen an den nordafrikanischen Küsten auf, um in wackligen Schlauchbooten die EU zu erreichen. In jeder Woche des vergangenen Jahres gab es im Durchschnitt mehr als 1.200 solche Versuche. Und das zentrale Mittelmeer ist eine der gefährlichsten Routen der illegalen Migration in die EU. Im letzten Jahr sollen mehr als 2.000 Menschen so im Mittelmeer ertrunken sein, die meisten davon (mehr als 1.300) im zentralen Mittelmeer.

Nun warfen zwei Social-Media-Nutzerinnen ein besonderes Licht auf die Fahrten. Getrieben von einer bescheidenen Wirtschaftslage in ihrem Land, versuchten die tunesischen Influencerinnen Sabee al Saidi und Chaima Ben Mahmoude (18 und 21 Jahre alt) ihr Glück – beziehungsweise forderten es heraus. Denn die Erfahrungen, von denen sie berichten, widersprechen den Bildern, die sie zunächst in verschiedenen Online-Foren veröffentlichten. Zusammen haben die beiden Frauen fast zwei Millionen Follower auf TikTok und Instagram.

Sabee al Saidi erreichte im vergangenen November Lampedusa und erntete bald Kritik für ihre Videos aus Europa. Chaima Ben Mahmoude nahm am 16. Dezember den gleichen Kurs. Ein Video zeigt sie in einem restlos mit mehr als 20 Personen gefüllten Schlauchboot. Alles winkt fröhlich in die Kamera. Die Reise hat jeden der Insassen mehr als 1.300 Euro gekostet. Einige tragen schicke Designerkleidung, so wie man es auch an anderen EU-Außengrenzen sieht. Der Bootsführer trägt eine Kapuzenjacke aus der Kollektion Karl Lagerfeld.

Ben Mahmoude: Reise „aus persönlichen Gründen“

Bei ihrer ‚Kollegin‘ Sabee al Saidi insgesamt ein ähnliches Bild: Posieren auf dem Boot und dann wohl im italienischen Aufnahmezentrum zum Migranten-Hip-Hop-Song. Der Text geht etwa so: „Ich bin in Italien angekommen … ein Araber in Italien … aus meinem Land entkommen auf einem kleinen Boot.“ Das Lied verherrlicht die sogenannte „harka“ – das ist der tunesische Ausdruck für das „Verbrennen“ der Papiere, das mit der Grenzüberquerung oft verbunden ist.

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In dem Interview, das Chaima Ben Mahmoude inzwischen führte, rechtfertigt sie sich für ihre Entscheidung: „Ich habe diese Videos veröffentlicht, weil ich mein ganzes Leben auf Instagram dokumentiere. Egal ob ich zuhause bin, ausgehe oder in einem Café bin.“ Sie erzählt auch von einem beängstigenden Moment, als das Boot in rauere Gewässer geraten sei: „Ich habe den Tod mit eigenen Augen gesehen.“ Das Meer sei in diesem Moment stürmisch gewesen, mit vielen hohen Wellen. Wer hätte es gedacht… Einfach sei dieser Weg jedenfalls nicht, so Ben Mahmoude, und sie ermutige niemanden ihn zu gehen: „Ich habe es aus persönlichen Gründen getan, die Situation wird dich dazu zwingen.“

Doch wenn man das breitere TikTok-Schaffen der beiden Frauen betrachtet, wirkt es eher so, als hätten da zwei Dinge nicht zusammengepasst: Der eigene Anspruch auf ein Leben mit Annehmlichkeiten und Konsum, vielleicht in einem bestimmten Beruf, und die Chancen, die Tunesien in dieser Hinsicht bietet. Laut ihren eigenen Aussagen in der britischen Presse verdiente Ben Mahmoude in Tunesien etwa 110 Euro als Friseurin. Gegenüber Associated Press beklagt sich die 21-Jährige, keine besseren Jobchancen in ihrem Land zu bekommen. Doch ihre Einkünfte als Influencerin erwähnt sie hier gar nicht, und die können sehr beträchtlich sein. Jedenfalls war sie trotz alledem in der Lage, mehr als ein Jahresgehalt einzusetzen, um die gefährliche Bootsfahrt anzutreten. Es geht hier sicher nicht um politische Verfolgung, eher schon um die Suche nach einem etwas komfortableren Leben.
Die „Migrationslüge“: Halbwahrheiten und Fehlinformationen treiben die illegale Migration

Aber damit war die kostspielige Reise der beiden Frauen in Italien nicht zu Ende. Was folgt, ist leider die Standardprozedur der italienischen Behörden, die die ankommenden Migranten mit einem Schreiben, dass sie Italien verlassen müssen, ihres Weges gehen lassen. Und so setzten die jungen Leute ihre Reise fort: mit einer Fahrt im geliehenen BMW mit Ledersitzen, Einkaufsbummel in Norditalien und französischen Städten, Bildern aus schicken Cafés und vom Eiffelturm.

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Der Psychologe Wael Garnaoui führt einen Großteil der illegalen Migration auf die sogenannte „Migrationslüge“ zurück, die früher vor allem durch Erzählungen angetrieben wurde: Immigranten, die aus wirtschaftlichen Gründen nach Europa kamen, wollen den in der Heimat Zurückgebliebenen beweisen, dass ihre Reise ein Erfolg war. „Sie gehen zum Eiffelturm und machen Selfies in einem Lacoste-Shirt, mit teuren Autos und erzählen ihren Familien, dass alles bestens läuft.“ Auch Chaima Ben Mahmoude sagt, dass sie hoffte, es anderen Freunden gleichtun zu können: „Ich habe viele Freunde, die die ‚harka‘ unternommen haben und in Europa Gelegenheiten fanden. Sie pflanzten die Hoffnung in mein Herz, dass es Arbeit und viel Geld gibt. Ich möchte mein Leben so ändern wie sie.“

Das ist die übliche Mischung aus Halbwahrheiten und himmelschreienden Fehlinformationen über Europa. Und hier muss man auch nochmals nach der genauen Rolle von Ben Mahmoude und al Saidi fragen. Sind die beiden Mega-Influencerinnen nicht die idealen Propagandamaschinen für die illegale Migration? Könnte auch das der Grund ihrer Reise gewesen sein? Matt Herbert von der in Genf beheimateten „Globalen Initiative gegen transnationale organisierte Kriminalität“ meint: „Die sozialen Medien zeigen eine Vision von Europa, die so nicht stimmt.“ Die Bootsfahrten, die zu Recht als gefährlich gelten, würden „entmystifiziert“ – oder einfacher ausgedrückt: verharmlost.

Kritik und Bewunderung in Tunesien

Das generelle Phänomen ist dabei sicher nicht neu. Auch zwischen der Türkei und Griechenland gab es schon solche Social-Media-Migranten, die quasi „live“ Werbung für die illegale Migration machen. Ähnlich funktionierten Facebook-Gruppen im Umfeld der Migrationsroute über Weißrussland. Und Priti Patel beklagte im vergangenen Sommer die „Verherrlichung“ und Bewerbung der Kanalüberfahrten durch soziale Medien.

Auch Sabee al Saidi und Chaima Ben Mahmoude ernteten Tausende Likes mit Fotos am Eiffelturm oder auf einem geliehenen Motorrad im historischen Dorf Le Puy-Notre-Dame. In tunesischen Medien gab es durchaus Kritik an den Social-Media-Posts der beiden jungen Frauen. Doch einem anderen TikToker aus dem Land fiel dazu nur ein: „Schande über sie? Eher Schande über uns! Sie haben es nach Italien geschafft, wir stecken hier fest.“

Im vergangenen Jahr wurden 23.000 Abfahrten von den tunesischen Behörden verhindert. Das sind 5.000 mehr als noch 2019. Frankreich hat zuletzt die erteilten Visa an Tunesier, Algerier und Marokkaner stark (um ein Drittel bzw. um die Hälfte) vermindert, weil die Maghreb-Länder nicht ausreichend kooperieren, was die Rücknahme illegaler Zuwanderer angeht. Diese Verschärfung mag vorübergehend für eine Steigerung der illegalen Abfahrten sorgen. Langfristig dürfte sie unumgänglich sein. Wo sich Sabee al Saidi und Chaima Ben Mahmoude heute befinden, wird aus der Berichterstattung nicht recht klar. Aber alles spricht dafür, dass sie noch immer in der EU sind, es sei denn, sie hätten selbst beschlossen, dass die Realität Europas ihrem Traum nicht ganz entspricht.

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