Die Hysterie über Trump und das Weiße Haus als Festung

Am Weißen Haus wurde ein kleine Graben ausgehoben. Sofort wittert man vielerorts den Staatsstreich, auch wenn es wahrscheinlich nur Gärtnerarbeiten waren. Ein Beispiel für linke Verschwörungstheorien.

imago images / MediaPunch

Trump gräbt sich im Weißen Haus ein – diese Nachricht verbreitete sich kürzlich im Netz. Sie passt in die linke Fantasie, nach der Donald Trump sich am 20. Januar irgendwie im Weißen Haus verbarrikadiert und Joe Biden sich dann den Weg zum Präsidentensitz freikämpfen muss.

Ein Journalist hatte über einen vermeintlichen Graben am Nordrasen des Weißen Hauses, nahe des West Wings, berichtet und löste damit wilde Spekulationen aus: Auf Fotos ist nicht mehr als ein kleiner 50 cm – 1m breiter Graben, an dem gearbeitet wird, zu sehen. Höchstwahrscheinlich handelt es sich bloß um Gartenarbeiten oder die Verlegung von Kabeln, und nicht um Sicherheitsvorkehrungen, denn schließlich trennen das Weiße Haus und die Außenwelt nach der Sperrung des Lafayette Parks ohnehin mehr als 200 Meter und mehrere Zäune. Das Weiße Haus zieht also was einen Graben angeht, wohl nicht mit dem Bundestag gleich. Aber die Legende zeigt beispielhaft die grassierende Hysterie über Trumps angeblichen Staatsstreich.

— Betsy Klein (@betsy_klein) November 9, 2020

Ja, es war unangemessen von Trump, sich noch in der Wahlnacht eines extrem knappen Rennens zum Sieger zu erklären. Aber darum geht es gar nicht mehr. Alles dreht sich um die Tatsache, dass er nicht seine Niederlage erklärt hat und um die bekannten wütenden Frühmorgen-Tweets – das allein ist für viele schon praktisch das Ende der Demokratie. Biden sei schließlich “President-elect”, heißt es dann immer wieder.

Nun, der Titel des “President-elect” ist ein rein informeller, kein offizieller. Denn tatsächlich ist Biden noch nicht der “gewählte Präsident”, bis er im Dezember vom Wahlmännerkollegium gewählt wurde. Der Titel hingegen wird von den Medien bereits an denjenigen vergeben, der nach entsprechendem Auszählungsstand aller Voraussicht nach Präsident wird.

Heft 12-2020
Tichys Einblick 12-2020: Lockdown im Kopf
Nach diesem Stand sieht es so aus, als würde Biden gewinnen, aber natürlich hat Trump das Recht zu klagen, wenn sein Team Verstöße gegen Wahlgesetze findet – und solche juristischen Auseinandersetzungen gibt es jetzt in vielen US-Bundesstaaten. Sind Leute, die auf die Endergebnisse und den Ausgang der Klagen warten, deshalb Anti-Demokraten? Diese Idee ist absurd. Interessant ist: Wenn man Joe Biden wörtlich nimmt, hat er ein Versprechen gebrochen. Auf die Frage aus der ersten Fernsehdebatte zwischen ihm und Trump, ob er mit einer Siegeserklärung warten werde, bis alle Ergebnisse “unabhängig bescheinigt” (“independently certified”) sind, antwortete er mit „Ja“. Ein paar Tage nach der Wahl erklärte er sich dann aber doch zum Präsidenten basierend auf den Vorhersagen aus den Medien – bis heute haben 40 Staaten die Endergebnisse noch nicht offiziell bescheinigt (“certified”). Seinem eigenen Versprechen zufolge war die Erklärung des Sieges also verfrüht.

In den nächsten Wochen, wenn die Auszählungen vorbei und die Klagen entschieden sind, wird es offizielle Endergebnisse geben, dann werden auch die Wahlmänner offiziell ernannt sein und am 14. Dezember formell den nächsten Präsidenten wählen. Dann gibt es Gewissheit.

Nun sind 16 Tage seit dem Wahltag vergangen. Zum Vergleich: Bei der Präsidentschaftswahl 2000 dauerten die juristischen Auseinandersetzungen 36 Tage lang, bis der Verlierer Al Gore seine Niederlage eingestand.

Dass Trump seine Niederlage nicht eingesteht, auch wenn all die Auszählungen und Klagen vorbei sind und er am Ende verliert – das hätten viele Medien vermutlich gerne. Denn wie könnte Trump ein Diktator sein, wenn er vier Jahre lang eine feindliche Berichterstattung und unerbittliche Opposition einfach zulässt, und am Ende demokratisch abgewählt wird? Ein Präsident, der seine Niederlage nicht akzeptiert, das wäre der Beleg, nach dem man händeringend sucht. Und es ist möglich, dass Trump den Medien am Ende diesen Gefallen tut – zumindest auf Twitter. Damit würde er ein dunkles Licht auf das Vermächtnis seiner Präsidentschaft werfen, aber selbst im verrücktesten Szenario würde man ihn nur freundlich aus dem Weißen Haus bitten – und nicht den Amtssitz stürmen, wie es manch einer jetzt fantasiert.

Anzeige

Unterstützung
oder