Antworten 4: Deutsch sein, was ist das für Sie ganz persönlich?

Hier das vierte Antwortpaket. --- Zur lockeren Volksbefragung laden wir weiter herzlich ein - auch für Fotos sind wir sehr dankbar.

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Das schickten unsere Zeitgenossen: Wir bitten weiter um Beiträge, die Erzählung Ihrer Großmutter, Fotos, die für Sie typisch Deutsches darstellen. Was immer Ihnen in den Sinn kommt, spontan, ernst oder witzig, wie Sie wollen. Zu dieser Lockerungsübung von Volksbefragung laden wir herzlich ein.

24, weiblich, aus Passau: Großzügigkeit und Präzision

Mülltrennung • Ordnung • Ruhe • Präzision • Sauberkeit im öffentlichen Raum • Currywurst • Bildzeitung • Hundekot auflesen • Fahrradhelme • Radfahren • Grillen • Gerechtigkeit • Skepsis • Sparsamkeit • Großzügigkeit • Ehrenamt • ECHTE Kinderliebe

Orgelpfeifen

29, männlich, Pliezhausen

Eine schöne Frage, denn so lange wurde sie nicht gestellt, außer um auf die dunklen Flecken unserer Geschichte hinzuweisen. Deswegen möchte ich mit dem 9. November beginnen: Der 9. November wird manch mal auch als der Schicksalstag der Deutschen bezeichnet. Hier finden wir die Deutsche Geschichte des 20. Jahrhunderts hoch konzentriert an einem Tag.

1. So beginnt dieser Tag mit der sogenannten Novemberrevolution am 9.11.1918. Jedoch ist es eben nicht ein Volksaufstand, der in gewalttätigen Exzessen in einem Bürgerkrieg die alte Regierung hinwegfegt, sondern schlicht das Anerkennen der Kriegsniederlage und die Weigerung, noch mehr sinnloses Blut zu vergießen. Obwohl hier die Grundordnung des Alten hinweggefegt wurde, entsteht das Neue eben doch als Konsens zwischen den Bewahrern der alten Ordnung und den Moderaten der neuen Ordnung.

  • das ist für mich typisch Deutsch: Wir verabscheuen nichts so sehr wie den leidenschaftlichen Streit, wir sind harmoniesüchtig, wir wollen den Konsens, das Gemeinschaftliche, das Vergangene erhalten und bewahren. Seien es alte Gebäude oder alte Bücher.

Das 2. Schicksalhafte ist für mich der 9. November 1938. Hier zeigt sich deutlich das leider so hässliche Gesicht Deutschlands, das ungezügelte Zerstören und Hassen mit Bürokratischer Monstrosität und Penibilität verbindet:

Der Judenhass der Nazis zieht sich wie ein roter Faden von den ersten Tagen der Vorgängerorganisation der NSDAP bis hin zum Holocaust. Doch aus damaliger Sicht war leider Antisemitismus, in Deutschland, aber auch im Rest von Europa, nichts Neues. Jedoch zeigte sich an diesem Tag etwas Neues – der organisierte Judenhass und – Mord.

Die Ermordung eines deutschen Diplomaten als Anlass nehmend zogen SA – und SS- Schergen durch die Lande, plünderten und zerstörten jüdische Geschäfte und Wohnungen, ermordeten oder verstümmelten mehrere hundert jüdische Deutsche. Ab hier wurde klar, dass die Schandtaten gegenüber den Juden mehr waren als das leider bisher gewohnte Unerträgliche. Aber das was hier geschah, war nicht spontan, wie es die NS-Propaganda verbreitete, es war nur die erste Salve von minutiös exekutierter Bösartigkeit und Menschenverachtung. Alles was danach noch kam, wurde hier bereits angekündigt.

Bürokraten, Soldaten, Polizisten arbeiteten mit der gewohnten deutschen Gründlichkeit an der Auslöschung einer ganzen Volksgruppe, und die Mehrheit der Deutschen schaute zu wie es geschah, lies es geschehen, unterstütze es sogar, und bis auf eine Minderheit wagte keinen Widerspruch, geschweige denn Widerstand.

  • auch das ist für mich typisch Deutsch: Kleinkariertheit, Bürokratie, Penibilität, die Fähigkeit unvorstellbare Grausamkeiten zu rechtfertigen und zu organisieren, als wäre es normaler Verwaltungsakt. Feigheit und Ängstlichkeit den Widerspruch zu äußern, bevor es zu spät ist, Mitläufertum.

3. Der 9. November 1989, oder der Mauerfall. Hier bahnte sich seinen Weg, was nicht anders geschehen konnte. Denn wenn man diesen Tag im Kontext der Geschichte sieht, so erscheint er als einer der wichtigsten, für mich persönlich sogar der wichtigste Tag überhaupt der neueren deutschen Geschichte. Die Menschen der DDR mussten für die Sünden der Deutschen aus dem 2. WK büßen, und sie taten dies über 40 Jahre lang. Ausgespitzelt von Nachbarn, Kollegen und vermeintlichen Freunden, drangsaliert, unterdrückt von einem gnadenlosen System das nichts so sehr systematisiert und organisiert hatte wie das Aushorchen der eigenen Bevölkerung. Und doch half weder die Stasi, noch das IM-System zu verhindern was nicht mehr zu verhindern war:

Die Einheit der Deutschen. Immer mehr DDR-Bürger wagten in den Demonstrationen, den oppositionellen Gruppen den Widerspruch gegen ein Unrechtsregime, das versucht hatte, eine gescheiterte menschenfeindliche Ideologie, den Sozialismus mit Zwang überzustülpen. Dabei wurde eine Mauer des Todes mitten durch Deutschland gezogen, denn in dem größten Gefängnis der damaligen Zeit konnten die Menschen nur mit Zwang gehalten werden. Die Trennung der Deutschen war in der Geschichte nichts Neues, auch den Versuch die Einheit wiederherzustellen gab es. Doch es war immer durch die Obrigkeit gesteuert, und sei es die Reichsgründung 1871 oder der „Anschluss“ Österreichs durch Hitler, immer verknüpft mit einer kriegerischen Auseinandersetzung Deutschlands mit seinen Nachbarn.

Hier im November 1989 jedoch geschah etwas Besonderes: Das deutsche Volk, in urdemokratischer Tradition, verlangte die Einheit, und vollzog sie am 9.11.1989 mit dem Mauerfall. Nicht gesteuert von der Obrigkeit, und gerade als Besonderheit vollkommen friedlich. Beinahe als ein „Unfall“ der Geschichte.

  • auch dieser Tag ist für mich typisch deutsch: absolute Begeisterungsfähigkeit, vollkommen ehrliche Freude, der Mut sich einer Diktatur entgegenzustellen und sich Freiheit und Einigkeit im friedlichen Widerstand zu erkämpfen.

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