Die Epstein-Files oder “Manche sind gleicher”

Über eine Million Dokumente sind plötzlich aufgetaucht. Die neuen Epstein-Files zeigen: Das FBI wusste alles und tat nichts. Sittenbild einer Elite, für die Gesetze nur Empfehlungen sind. Von Silvia Venturini

picture alliance / Photoshot | -

Es sollte der große Befreiungsschlag werden. Als die Trump-Administration ankündigte, die Epstein-Akten freizugeben, schien das Versprechen von Transparenz endlich eingelöst zu werden. Jahrelang hatte sich die Frage im politischen Raum gehalten: Wer wusste von Jeffrey Epsteins Verbrechen? Wer profitierte? Und warum wurde so wenig unternommen?

Nun, da die ersten Dokumente veröffentlicht sind, zeigt sich: Die Fragen verschwinden nicht. Sie werden drängender. Das Justizministerium räumte kürzlich ein, über eine Million zusätzliche Dokumente gefunden zu haben. Bisher wurden etwa ein Prozent des Gesamtbestands veröffentlicht. Man muss kein Verschwörungstheoretiker sein, um sich zu fragen, warum die Aufarbeitung eines Falls, der seit Jahren abgeschlossen sein sollte, immer neue Aktenberge produziert.

Hinzu kommen technische Pannen, die fast schon komisch wären, beträfen sie nicht eines der gravierendsten Verbrechensnetzwerke der jüngeren Geschichte. Viele Schwärzungen in den digitalen Dokumenten waren fehlerhaft, Nutzer konnten geschwärzte Passagen schlicht durch Kopieren und Einfügen sichtbar machen. Dabei kamen Finanzdaten und Namen zum Vorschein. Ob es sich dabei um Schlamperei oder stille Sabotage handelt, sei dahingestellt.

Die Mär vom Einzeltäter

Bemerkenswert ist, was die Akten über die offizielle Erzählung verraten. Regierungsbeamte hatten wiederholt betont, Epstein habe weitgehend allein gehandelt, es handle sich um einen monströsen Einzelfall. Die Dokumente widersprechen dem allerdings deutlich: Bereits unmittelbar nach Epsteins Verhaftung 2019 identifizierte das FBI zehn potenzielle Mittäter.

Schlimmer noch: Die Behörden wussten offenbar seit Jahrzehnten Bescheid. Maria Farmer, eines der frühen Opfer, wandte sich bereits 1996 an das FBI. Sie berichtete, Epstein und Ghislaine Maxwell hätten Aktfotos ihrer minderjährigen Schwester – vermutlich zum Verkauf – gestohlen. Die Warnung verhallte.

Unter den später identifizierten Zielpersonen finden sich neben Maxwell auch der französische Modelagent Jean-Luc Brunel, der 2022 unter ungeklärten Umständen in Untersuchungshaft starb, sowie der Milliardär Leslie Wexner, jener Mann, dessen Vermögen Epstein verwaltete und dessen Rolle bis heute Fragen aufwirft.

Die Frage, woher Epsteins Reichtum eigentlich stammte, wurde lange mit vagen Verweisen auf sein angebliches Finanzgenie beantwortet. Investigative Recherchen, unter anderem der New York Times, zeichnen ein anderes Bild: Epstein baute sein Vermögen nicht durch brillante Investments auf, sondern durch Schneeballsysteme, Betrug an Freunden und die Veruntreuung von Geldern seiner Gönner – allen voran Leslie Wexner.

Sein eigentliches Talent lag anderswo: im Netzwerken. Epstein verstand es meisterhaft, sich durch strategische Spenden und Kontakte in die Kreise der Macht einzukaufen. Die Rockefeller University, Harvard, der Staranwalt Alan Dershowitz, sie alle dienten als Türöffner und Legitimitätslieferanten. Je tiefer er sich in das Establishment eingrub, desto unantastbarer wurde er.

Die üblichen Verdächtigen

Was die politischen Verstrickungen von Epstein betrifft, liefern die Akten sowohl Bestätigungen als auch neue Fragen bei einigen altbekannten Verdächtigen:

● Bill Clinton: Die langjährige Freundschaft mit Epstein geht deutlich aus den Dokumenten hervor, Fotos zeigen ihn gemeinsam mit Ghislaine Maxwell. Konkrete Beweise für Straftaten finden sich in den Akten zwar nicht, doch das bedeutet nicht, dass es sie nicht gibt. Es bedeutet nur, dass sie nicht in diesem einen Prozent enthalten sind.
● Donald Trump: Einige Dokumente deuten darauf hin, dass der heutige Präsident häufiger in Epsteins Privatjet flog als bisher bekannt. Bemerkenswert sind zudem Berichte über technische Schwierigkeiten bei der Suche nach seinem Namen in den Datenbanken des Justizministeriums. Man spricht dort offiziell von “technischen Glitches”.
● Prinz Andrew: E-Mails belegen, dass der Royal Ghislaine Maxwell bat, ihm „neue Freunde“ für Reisen zu vermitteln. Maxwell gab daraufhin spezifische Anweisungen zur Auswahl der Frauen. Die verwendeten Formulierungen lassen wenig Interpretationsspielraum.

Zu den Kuriositäten der Veröffentlichung gehört ein angeblicher Abschiedsbrief Epsteins an Larry Nassar, den verurteilten Teamarzt des US-Turnverbands. Der Brief enthält bizarre Behauptungen über den damaligen US-Präsidenten. Das Justizministerium stufte ihn als gefälscht oder unbegründet ein, veröffentlichte ihn aber dennoch. Warum? Auch hier erhält die Öffentlichkeit mehr Fragen als Antworten.

Die grundsätzlichere Frage jedoch ist diese: Warum dauert die Aufarbeitung so lange? Warum finden sich immer neue Aktenberge? Warum funktionieren Schwärzungen nicht? Und warum hatten sowohl Republikaner als auch Demokraten – über Jahrzehnte und mehrere Administrationen hinweg – offenbar Gründe, Teile dieser Geschichte unter Verschluss zu halten?

Doppelmoral mit System

Der Epstein-Fall ist ein Lehrstück darüber, wie Macht funktioniert. Ein Mann ohne erkennbare Qualifikation kaufte sich Zugang zu den höchsten Kreisen, betrog seine Gönner, missbrauchte Minderjährige und blieb dennoch – oder gerade deshalb? – jahrzehntelang unbehelligt. Nicht weil niemand Bescheid wusste. Sondern weil die Richtigen Bescheid wussten.

Wer sich an den Dutroux-Fall in Belgien erinnert, erkennt das Muster. Auch dort führten die Ermittlungen in höchste Kreise und versickerten. Auch dort gab es Zeugen, die verstummten, Akten, die verschwanden, Untersuchungsausschüsse, die viel Papier produzierten – und wenig Konsequenzen. Der Dutroux-Fall wurde offiziell „aufgearbeitet“. Die Fragen blieben. Die Täter im Hintergrund wurden nie benannt. Belgien hat sich davon nie ganz erholt.

Die Opfer, meist aus einfachen Verhältnissen, wurden ignoriert oder zum Schweigen gebracht. Die Täter und Mitwisser, vernetzt und vermögend, genossen den Schutz eines Systems, das sie selbst geschaffen hatten.

Man nennt das gelegentlich „Zwei-Klassen-Justiz“. Der Begriff ist fast schon euphemistisch. Was die Epstein-Akten zeigen, ist nicht die Dysfunktion des Systems, sondern das System selbst.

Die restlichen 99 Prozent der Dokumente werden wir vermutlich nie zu sehen bekommen, oder wenn, dann nur kuratiert. Und genau das ist die Botschaft.

Denn diese Art der öffentlichen Verschwiegenheit – Aufarbeitung ohne echte Aufarbeitung – ist eine Machtdemonstration. Sie sagt: Wir können das tun. Wir können es vor euren Augen tun. Und ihr könnt nichts dagegen unternehmen.

Das ist der eigentliche Skandal. Nicht nur die Verbrechen selbst, sondern die Gewissheit der Täter, dass sie damit davonkommen werden. Diese Gewissheit wird zur Schau gestellt, Jahr für Jahr, Aktenfreigabe für Aktenfreigabe. Die Wirkung auf die Öffentlichkeit ist nicht zufällig: Es ist Demoralisierung durch Demonstration. Der Beweis, dass es Regeln gibt – und Menschen, für die sie nicht gelten.
Solange das so bleibt, ist jede „Aufarbeitung“ nur ein weiteres Kapitel derselben Geschichte.

Anzeige

Unterstützung
oder

Kommentare ( 1 )

Liebe Leser!

Wir sind dankbar für Ihre Kommentare und schätzen Ihre aktive Beteiligung sehr. Ihre Zuschriften können auch als eigene Beiträge auf der Site erscheinen oder in unserer Monatszeitschrift „Tichys Einblick“.
Bitte entwerten Sie Ihre Argumente nicht durch Unterstellungen, Verunglimpfungen oder inakzeptable Worte und Links. Solche Texte schalten wir nicht frei. Ihre Kommentare werden moderiert, da die juristische Verantwortung bei TE liegt. Bitte verstehen Sie, dass die Moderation zwischen Mitternacht und morgens Pause macht und es, je nach Aufkommen, zu zeitlichen Verzögerungen kommen kann. Vielen Dank für Ihr Verständnis. Hinweis

1 Kommentar
neuste
älteste beste Bewertung
Inline Feedbacks
Alle Kommentare ansehen
Bernd Bueter
3 Stunden her

Corona!
USA: Das FBI wusste alles und tat nichts.

Deutschland: Die Staatsanwaltschaft wusste alles und tat nichts.

Spahn gesteht und ???