„Mit der heutigen Entscheidung endet die Rechtsstaatlichkeit in der EU“

Viktor Orbán spricht von einem „überschrittenen Rubikon“ und einer „Brüsseler Diktatur“ und hat gute Gründe: Von der Leyen und Merz drängen eine rechtswidrige Enteignung russischer Staatsvermögen durch, die Europa politisch spaltet und nicht nur ökonomisch in den Abgrund treiben kann.

picture alliance / NurPhoto | Beata Zawrzel

„Heute überschreiten die Brüsseler den Rubikon“, schreibt Viktor Orbán. In Brüssel läuft eine schriftliche Abstimmung, die ohne großes Aufsehen einen Tabubruch vollzieht: Über eingefrorene russische Staatsvermögen soll nicht mehr einstimmig, sondern nach neuem Verfahren entschieden werden. Mitten in der laufenden Krise, per Federstrich. Bisher mussten die EU-Staaten alle sechs Monate einstimmig zustimmen, wenn es um diese eingefrorenen Vermögenswerte ging. Nun hebelt man dieses Einstimmigkeitsprinzip einfach aus. Orbán nennt das „eindeutig rechtswidrig“. Es ist mehr als eine Formalie: Es ist ein politischer Putsch gegen die eigenen Verträge, getarnt als technische Anpassung.

Der ungarische Regierungschef bringt es auf den Punkt: „Mit der heutigen Entscheidung endet die Rechtsstaatlichkeit in der Europäischen Union, und Europas Führungskräfte stellen sich über die Regeln.“ An die Stelle der vertraglich fixierten Ordnung tritt die Willkür von Mehrheiten, die sich ihre Rechtsgrundlage passend zurechtbiegen, wenn es opportun erscheint.

The subject of the vote is the frozen Russian assets, on which the EU member states have so far voted every 6 months and adopted a unanimous…

— Orbán Viktor (@PM_ViktorOrban) December 12, 2025

Orbán beschreibt, was viele sehen, aber kaum jemand in dieser Klarheit ausspricht: „Damit wird die Rechtsstaatlichkeit in der Europäischen Union durch die Herrschaft der Bürokraten ersetzt. Mit anderen Worten: Eine Brüsseler Diktatur hat sich etabliert.“ Wer das für Übertreibung hält, sollte sich ansehen, wer diese Entwicklung vorantreibt und mit welchen Mitteln. Im Zentrum dieses neuen Abenteuers stehen Ursula von der Leyen in Brüssel und Friedrich Merz in Berlin. Zur Finanzierung der Ukraine wollen sie 140 bis 160 Milliarden Euro eingefrorener russischer Staatsvermögen nutzen; Vermögen, die „genaugenommen Russland entwendet“ werden sollen. Enteignung als Geschäftsmodell, verkauft als moralische Tat.

Der Ökonom Jeffrey Sachs findet dafür klare Worte: „Der Plan ist illegal, rücksichtslos und wird Europa im Falle seiner Umsetzung zwangsläufig sehr hohe Kosten verursachen.“ Er warnt: „Europas finanzielle Glaubwürdigkeit wird schwer beschädigt, ganz zu schweigen von den Folgen russischer Klagen und Vergeltungsmaßnahmen. Darüber hinaus würde diese Aktion Europa tief spalten und die Beziehungen innerhalb der EU vergiften.“ Das ist keine russische Propaganda, sondern eine nüchterne Schadensbilanz.

Um den Plan durchzudrücken, reiste Merz am 5. Dezember statt nach Norwegen nach Brüssel, um gemeinsam mit von der Leyen den belgischen Premier Bart De Wever zu bearbeiten. Ziel: Der belgische Finanzdienstleister Euroclear soll russische Vermögenswerte, die derzeit eingefroren sind, für die Ukraine freigeben. Dass die Ukraine pleite ist und „bis ins nahe Umfeld Selenskiys an der Pleite auch kräftig verdient wurde“, ist längst „offenes Geheimnis“ – frisches Geld würde also in bekannte Kanäle fließen.

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 Damit ist man bei dem Punkt, den Orbán anspricht: die systematische Missachtung von Recht durch jene, die sich als Hüter der Ordnung inszenieren. Euroclear ist nicht irgendeine Bank, sondern eine der beiden größten Zentralverwahrer der Welt – eine tragende Säule der globalen Finanzarchitektur. Das Geschäftsmodell beruht auf Vertrauen, darauf, dass hinterlegte Vermögensrechte unangetastet bleiben, solange kein rechtsstaatliches Verfahren etwas anderes anordnet.

Genau dieses Fundament soll nun im Namen des „Guten“ zertrümmert werden. Wenn Euroclear die russischen Beteiligungen einfach aus den Büchern streicht und dafür die EZB oder die Nationalbank der Ukraine einsetzt, ist das nichts anderes als Enteignung. Die Chefin von Euroclear, Valérie Urbain, hat angekündigt, dass das Unternehmen diese Entscheidung gerichtlich anfechten wird. Unter Umständen könnte die EU damit sogar die Insolvenz dieses Pfeilers des Finanzsystems provozieren – und einen Banken-Krach auslösen.

Auch hier ist Sachs eindeutig: „Mehrere europäische Politiker, allen voran EZB-Präsidentin Lagarde und Euroclear-Chefin Urbain, haben sich besorgt über die zu erwartenden Marktreaktionen geäußert.“ Und weiter: „Europas Führung wird als sehr schwach und unklug wahrgenommen. Die EU wird in Aufruhr geraten, wenn der Widerstand mehrerer Staaten einfach von Deutschland übergangen wird. Das Hauptproblem wird eine tiefe Krise innerhalb Europas sein, insbesondere im Hinblick auf die Vergeltungsmaßnahmen Russlands. Die politische Gegenreaktion in Europa gegen Merz, Macron und von der Leyen wird heftig sein.“

Während Orbán also von einem „überschrittenen Rubikon“ spricht, stolziert in Berlin ein Kanzler durch die Kulissen, der sich offenbar für einen Außenpolitiker von Weltrang hält, aber nicht begreift, dass seine „internationale Autorität“ von der wirtschaftlichen und militärischen Stärke Deutschlands abhängt. Was ist das für ein „Außenkanzler“, der die Innenpolitik der SPD überlässt und zugleich Deutschland aufs Spiel setzt, um in Brüssel mitspielen zu dürfen?

Der russische Botschafter in Berlin, Sergei Netschajew, sagt, was die Märkte in nüchterne Zahlen übersetzen werden: „Jede Operation mit russischen Staatsvermögen ohne russische Zustimmung wäre Diebstahl. Und es ist klar, dass der Diebstahl russischer Staatsgelder weitreichende Konsequenzen haben wird.“ Er warnt, der Ruf der EU in der Geschäftswelt könne „zerstört“ werden; es drohten „endlose Gerichtsverfahren“, deren Konsequenzen in „Rechtsanarchie und Zerstörung der Grundlagen des globalen Finanzsystems“ liegen würden, „deren erstes Opfer Europa wäre“.
Besonders entlarvend ist, was Belgiens Premier Bart De Wever zu dem Plan sagt, dessen Land und dessen Schlüsselinstitut Euroclear in die Schusslinie geraten sollen: „Es wäre eine schöne Geschichte: Geld vom Bösewicht Putin nehmen und es dem Guten, der Ukraine, geben. Aber eingefrorene Vermögenswerte eines anderen Landes, seine Staatsfonds, zu stehlen, hat es noch nie gegeben. Es handelt sich hier um Geld der russischen Zentralbank. Selbst während des Zweiten Weltkriegs wurden die deutschen Gelder nicht beschlagnahmt.“ Und weiter: „Aber wer glaubt ernsthaft, dass Russland in der Ukraine verlieren wird? Das ist ein Mythos, eine reine Illusion. Es ist nicht einmal wünschenswert, dass sie verlieren und dass in einem Land mit Atomwaffen Instabilität um sich greift.“

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 De Wever stellt die Frage, die in Berlin und Brüssel offenbar niemand stellen will: „Und was, wenn auch Belarus und China westliche Vermögenswerte beschlagnahmen? Haben wir all das bedacht? Nein, haben wir nicht.“ Und dann der Satz, der Orbáns Diagnose einer „Brüsseler Diktatur“ mit einem einzigen Fakt unterfüttert: „Ich habe meine europäischen Kollegen gefragt, ob sie bereit wären, die Risiken für Belgien zu teilen. Nur Deutschland erklärte sich dazu bereit.“ Nicht „Europa“, nicht „die Europäer“ – nur Deutschland. Nur Merz.

Während Orbán ankündigt, „alles in seiner Macht Stehende“ zu tun, um die rechtmäßige Ordnung wiederherzustellen, stellt sich die Frage: Wer schützt in Deutschland noch die Rechtsstaatlichkeit und die elementaren Interessen des eigenen Landes? Die Grünen sind längst in einer politischen Erlösungsreligion aufgegangen und würden der Ukraine „alles geben, was die Ukraine will. Und wenn es Deutschlands Zukunft ist.“ Die SPD lässt Klassenkampf-Phantasien freien Lauf. Und die Union? Sie stellt den Kanzler, der bereit ist, allein alle Risiken zu schultern.
Geopolitisch steht Europa längst nicht mehr auf der Gewinnerseite der Geschichte: Putin umarmt Modi in Indien, China blickt mit Befremden auf ein Deutschland, das sich aus dem Kreis der berechenbaren Handelspartner hinauskatapultiert. Während in den USA eine neue Weltordnung verhandelt wird, betreiben Ursula von der Leyen und Friedrich Merz eine ökonomische Selbstentmachtung Deutschlands und eine politische Zerlegung der EU – und nennen es „Solidarität“.

Orbán hat für diesen Moment drastische Worte gewählt. Für immer mehr Menschen ist eine Bezeichnung wie „Brüsseler Diktatur“ rhetorisch nicht mehr zu weit aufgedreht, sondern wird breit geteilt. Der Kern von Orbans Anklage ist nüchtern: Eine Kommission, die „statt die Einhaltung der EU-Verträge zu gewährleisten, systematisch das europäische Recht missachtet“, um einen „offensichtlich nicht zu gewinnenden Krieg“ zu verlängern, stellt sich über das Recht und über die Völker Europas.

Nach diesem Tag kann niemand mehr sagen, er habe es nicht gewusst. Wer jetzt weiter schweigt, macht sich zum Statisten eines historischen Rechtsbruchs. Die Abgeordneten im Bundestag, besonders jene, die sich „bürgerlich“ und „konservativ“ nennen, werden sich später fragen lassen müssen, warum sie einen Kanzler nicht einhegten, der Deutschland „bereitwillig“ zum alleinigen Risiko-Träger eines tödlich riskanten EU-Experiments machte. Orbáns Satz, „mit der heutigen Entscheidung endet die Rechtsstaatlichkeit in der Europäischen Union“, könnte sich als das nüchternste Protokoll eines Epochenbruchs erweisen.

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