Kraft der Biografie

Er war der Star der Deutschen und ihrer Medien im Sommer: Barack Obama. Der in Hawaii geborene Sohn eines farbigen Kenianers und einer Weißen steht für die moderne Weltgesellschaft. Seine Biografie hat er zum Programm gemacht. Wie nie zuvor wurde Privates zur politischen Botschaft.

Doch seitdem John McCain und Sarah Palin in den Umfragen führen, herrscht hierzulande betroffenes Schweigen. Denn ihre Positionen, untermauert mit einem ganz anderen gelebten Leben, passen nicht zum heimischen Schema der politischen Korrektheit. McCain ist Offizier und ein Held des Vietnam-Kriegs. Das macht ihn verdächtig in einem Land, das immer noch an seiner verbrecherischen Nazi-Ära laboriert. Sichtbar trägt McCain die Folgen der Folter in Hanoi. Der aufrechte Soldat nimmt für sich in Anspruch, dass er sich dort auch für die Freiheit der Ami-go-home-Demonstranten in Frankfurt und Berlin die Knochen brechen ließ. Sarah Palin ist nach hiesigen Maßstäben noch unkorrekter. Sie hat ihr behindertes Kind Trig ausgetragen. Die Mehrheit des Deutschen Bundestages lehnt derzeit eine zusätzliche Beratung ab, die Müttern bei einer problematischen, weit fortgeschrittenen Schwangerschaft helfen soll. Sarah Palins Kind wäre hierzulande wahrscheinlich abgetrieben oder „ermordet“ worden, wie Palin es formuliert. Sie stellt die unbequeme Frage nach dem Wert des Lebens, die wir verdrängen.

Im US-Wahlkampf werden somit die schmerzhaftesten Fragen aufgeworfen, die großen Kontroversen offen ausgetragen. Das Multikulti-Amerika der Städte steht dabei gegen das weiße, fromme, wertkonservative Mainland. Es ist eine leidenschaftliche Auseinandersetzung, in der die Kandidaten ihre oft bittere Lebenserfahrung als Beweis anführen, statt blutleere Parteiprogramme zu zitieren.

Und bei uns? Wir sollten uns nicht wünschen, dass die Kandidaten ebenfalls ihre Lebensläufe pomphaft inszenieren. Aber die großen Fragen sollten sie schon ansprechen. Da wird Kurt Becks Sturz und Frank-Walter Steinmeiers Aufstieg zum Kanzlerkandidaten monströs inszeniert – aber wer dahinterschaut, sieht eine Wirtschafts- und Gesellschaftspolitik im Playmobil-Format: Es geht um „Schonvermögen“ bei der Arbeitslosenversicherung und um anderen sozialpolitischen Feinstaub.

Da kommt der Verdacht auf, dass es eben doch einen Zusammenhang zwischen gelebtem Leben und politischen Visionen geben könnte. Der nette Herr Steinmeier lebt die Bilderbuchkarriere unseres perfekten Sozialstaats. Er hat geschafft, wovon viele träumen, und über allen Wipfeln ist Ruh, bist Beamter erst du! Sollte er sich mal übermütigerweise einen Joint gedreht haben, wäre dies das Irritierendste, zu dem er fähig scheint.

Nun bringen friedvolle, glückliche Zeiten wie die unseren auch keine dramatischen Biografien und Kriegshelden hervor. Langweilige Zeiten sind gute Zeiten für die Menschen, felix Germania!

Oder brauchen wir nicht doch dramatischere Veränderungen? Hoffentlich hat Steinmeier auf seinen Reisen als Außenminister Weltecken gesehen, in denen der Wind des Wandels schärfer weht als in der Stille des auslaufenden Wirtschaftswunders! Reichen uns Verwalter, oder brauchen wir nicht doch größeres Format?

Die Gründungsväter unseres Landes wollten nach den leidvollen Erfahrungen mit dem braunen Umsturz vor allem eines: neue Verführer, Populisten und Aufsteiger abwehren. Jetzt aber drohen wir im ausgeklügelten System der gegenseitigen Kontrolle zu ersticken. Unsere Sicherungen werden darüber zu Beton.

Ich weiß nicht, wen ich wählen würde, Obama oder McCain. Aber ich beneide Amerika um diese Wahl!

(Erschienen auf Wiwo.de)

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