Der Blick auf den eigenen Teller

Über den Tellerrand hinausschauen! Das ist eine beliebte Metapher der deutschen Sprache und soll ausdrücken: Nimm Anteil am Leben außerhalb Deines engsten, privaten Kreises, kümmere Dich auch um größere Zusammenhänge.

Da passt es gut, dass der bislang vor sich hin dümpelnde Wahlkampf in Deutschland für die Bundestagswahl am 22. September ein erstes spannendes Thema hat, bei dem es wirklich nur um das geht, was auf dem Teller liegt: Die Grüne Partei will laut Wahlprogramm einen „Veggie-Day“ durchsetzen; zukünftig soll in Kantinen, Restaurants und Schulen am Donnerstag nur noch vegetarisch gekocht werden. Und zwar am Donnerstag; denn die strikt anti-religiösen Grünen wollen nicht in Verdacht geraten, das (längst aufgegebene) Fleischverbot der katholischen Kirche am Freitag aufzuwärmen – nicht um Christus geht es, sondern um Vegetarismus als Herzstück einer neuen Öko-Religiosität, die mit Geboten tief in die an sich privatesten Lebensbereiche eingreifen will und hofft, zukünftig als Regierungspartei dazu ermächtigt zu werden.

Es ist ein sonderbares Thema. Nun ist es ja trotz der unbestreitbar guten wirtschaftlichen Lage in Deutschland nicht so, dass keine ernsthaften Fragen auf der Tagesordnung stünden. Die Euro-Rettung wird schon in den Wochen nach der Bundestagswahl Deutschland dazu zwingen, sich für die Rettung der gemeinsamen Währung zu Gunsten Griechenlands erheblich zu verschulden – das gerade anvisierte Ziel eines ausgeglichenen Haushalts rückt damit wieder in unerreichbare Ferne. Die gegenwärtige gute Lage könnte auch genutzt werden, um Deutschlands marode Sozialsysteme zu reformieren – es ist völlig klar, dass die Krankenversicherung und Altersversorgung in den kommenden Jahren wirtschaftlich zusammenbrechen wird. Sie sind auf ständige Leistungsexpansion, Wachstum der Beiträge angelegt; da Deutschland aber nach Japan die am schnellsten schrumpfende und vergreisende Bevölkerung hat, sind sie in der derzeitigen Form nicht nachhaltig finanzierbar. Ebenso ungelöst ist die deutsche Energiepolitik: Sie hat nach dem Tsunami und der dadurch ausgelösten Zerstörung von Kernreaktoren in Japan die Hälfte der deutschen Atomreaktoren abgeschaltet; schon 2015 soll das Land ganz ohne Atomstrom auskommen. Verbunden mit einem massiven Ausbau der extrem unwirtschaftlichen Wind- und Solaranlagen im leider vergleichsweise sonnen- und windarmen Deutschland führte dies zum Beginn einer schleichenden Deindustrialisierung. Fehlanzeige ebenfalls, was die deutsche Rolle im Atom-Konflikt mit dem Iran betrifft; eine unbegreifliche Abwesenheit der politischen und wirtschaftlichen Führungsmacht Europas auch angesichts der wachsenden Instabilität am Südufer des Mittelmeeres, gerade als ob Wegschauen ein Instrument der Politik im Hinblick auf die Lage in Ägypten und Syrien sein könnte.

Aber darüber wird in Deutschland nicht gestritten, diese Themen werden nicht angeschnitten – stattdessen geht es um mehr oder weniger Gemüse auf dem Teller am Donnerstag.

Aber deutsche Politiker haben eine seltsame Eigenschaft: Sie verschweigen konkrete Probleme, statt sie kontrovers anzusprechen, selbst die Opposition negiert lieber Missstände, statt sie anzuprangern. Das führt zu einer seltsamen Lähmung der öffentlichen Debatte: Von einer „Lethargokratie“ spricht der populäre Philosoph Peter Sloterdijk. Es ist aber die Konsequenz aus dem Wahl-Debakel des früheren sozialdemokratischen Bundeskanzlers Gerhard Schröder: Angesichts explodierender Sozialausgaben, schnell steigender Arbeitslosigkeit und wachsender Staatsverschuldung setzte 2005 die damalige rot-grüne Koalition eher bescheidene und unumgängliche Sozialreformen in Kraft. Der Bezug der hohen Arbeitslosenunterstützung wurde auf ein Jahr begrenzt; Unterstützung kann versagt werden, wenn Arbeitslose sich schlicht weigern, angebotene Jobs anzunehmen. Seither gibt es in Deutschland Arbeit auf Zeit und Leiharbeit, was angesichts der faktischen Unkündbarkeit von Arbeitnehmern in Großunternehmen wenigstens zu einer geringfügigen Flexibilisierung führte. Der Erfolg gibt Schröder Recht – die derzeit günstigen Wirtschaftsdaten in Deutschland und die sinkende Arbeitslosigkeit werden hauptsächlich darauf zurückgeführt. Schröder hat allerdings bei den darauffolgenden Bundestagswahlen nicht Recht bekommen, sondern die Wahl verloren – und Angela Merkel als seine Nachfolgerin im Amt des Bundeskanzlers die Erfolge für sich eingeheimst. Seither fürchten die Politiker ihre Wähler und Bürger, von denen sie annehmen, dass sie jede Veränderung fürchten. Politiker nehmen an, dass die Bürger statt in die Wahlkabine in einen gesamtgesellschaftlichen Panikraum flüchten oder in Schockstarre verfallen, wenn ihnen Veränderung zugemutet wird, die nicht unmittelbar spürbare Verbesserung bedeutet. Veränderung wird nur noch als allerletzter Ausweg in einer katastrophalen Lage interpretiert. Führung, Argumentation und Überzeugung gelten als No-Gos für Politiker im Wählermarkt. Selbst minimal-invasive Rezepte der Oppositionsparteien, die diese zu Zwecken der Abgrenzung brauchen, werden dargestellt, als könnten sie ohne Risiken und Nebenwirkungen funktionieren: Zwar wollen die Grünen eine massive Steuererhöhung durchsetzen, aber versprechen gleichzeitig, dass sie 90 Prozent der Bevölkerung ungeschoren lassen, eine schon auf den ersten Blick erkennbare Schönfärberei. Die SPD wiederum will Unternehmen massiv besteuern und verspricht, sie durch jede Menge Ausnahmeregelungen dann doch nicht zu besteuern – eine Art argumentative Quadratur des Kreises.

In dieses Bild passt der Veggie-Day. Themen jenseits des Tellerrands werden ausgeblendet, und die Frage nach Gemüse oder Fleisch hat nicht einmal genug Sprengkraft, um selbst Genuss orientierte Wähler aus der verordneten Lethargie zu wecken.

(Erschienen in der Jewish Voice of Germany, August 2013)

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