Die Ausweitung der Briefwahl widerspricht dem Leitbild der geheimen Wahl

Das Grundgesetz sieht das Leitbild der Urnenwahl vor. Doch vor dem Hintergrund der Corona-Pandemie treiben Staat und Parteien die Bürger zur Abstimmung per Brief. Wegen des Virus geben wir ein weiteres Stückchen unserer Demokratie auf. Von Sandro Serafin.

IMAGO / Björn Trotzki

Deutschland hat sich in den vergangenen anderthalb Jahren der Corona-Pandemie radikal verändert, ohne dass wir als Gesellschaft darüber die nötigen Grundsatzdebatten geführt hätten: Kaum wurde ernsthaft diskutiert, ob wir bereit sind, für das Streben nach vermeintlich totaler Gesundheit einen halb-autoritären Staat zu akzeptieren, Teile der Bevölkerung aus dem öffentlichen Leben auszugrenzen und das Parlament faktisch in Teilen zu entmachten.

Es ist nur konsequent, dass der schleichende Verlust des Respekts vor den Grundfesten unserer Demokratie auch vor dem innersten Kern nicht Halt macht: In vier Wochen finden die wichtigsten Wahlen statt, die unser System kennt. Das Wahlverfahren ist dabei ein Novum: Erstmals in der Geschichte der Bundestagswahlen könnten mehr als die Hälfte der Wähler ihre Stimmen bereits vor dem eigentlichen Wahltag abgegeben haben. Die Briefwahl ist schon jetzt in vollem Gange.

Die Corona-Pandemie verstärkt einen inzwischen alten Trend. Als die Abstimmung per Post 1957 erstmals in der Bundesrepublik praktiziert wurde, lag die Briefwählerquote noch bei gerade einmal rund fünf Prozent. Doch seit den 1990ern steigen die Zahlen stetig an. 2008 ließ der Bundestag das Begründungserfordernis für die Beantragung der Briefwahl fallen. Vor vier Jahren stimmten bereits 28,6 Prozent aller Wähler per Brief ab. Dieses Mal ist die Post nach eigenen Angaben sogar auf eine Quote von mehr als 60 Prozent vorbereitet – eine Zahl, die durchaus im Bereich des Vorstellbaren liegt, wenn man sich das Wählerverhalten bei den diesjährigen Landtagswahlen in Baden-Württemberg (51,5 Prozent Briefwähler) und Rheinland-Pfalz (66,5 Prozent) anschaut.

Nur noch halböffentlich

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Das ist ein Problem für unsere Demokratie, denn der exorbitant hohe Anteil an Briefwählern stellt das deutsche Wahlsystem auf den Kopf. Das Bundesverfassungsgericht hat zwar 2013 unter Verweis auf das Ziel einer hohen Wahlbeteiligung festgestellt, dass die Möglichkeit zur Briefwahl zum Zeitpunkt des Urteilsspruchs verfassungskonform war. Es betonte aber zugleich, dass aus dem Grundgesetz das „Leitbild der Urnenwahl“ folgt. Dass diesem Leitbild noch entsprochen wird, wenn nur eine Minderheit der Wähler es tatsächlich noch praktiziert, darf bezweifelt werden.

Brief- und Urnenwahl sind eben keine gleich gute Praxis. Wer sich für die Briefwahl entscheidet, nimmt Einschränkungen einiger der für die Demokratie zentralen Wahlrechtsgrundsätze billigend in Kauf. Unsere Verfassung sieht in Artikel 38 (Absatz 1, Satz 1) vor, dass der Bundestag „in allgemeiner, unmittelbarer, freier, gleicher und geheimer Wahl“ gewählt wird. Das Verfassungsgericht konstruiert aus Artikel 20 (Absätze 1 und 2) zudem den Grundsatz der Öffentlichkeit der Wahl.

Öffentlich sind Wahlen aber nur noch in Teilen, wenn jeder Zweite sein Kreuz in den eigenen vier Wänden, im Garten oder sonst wo, jedenfalls nicht im Wahllokal macht. Auch bei der Briefwahl kann zwar jeder, der das will, die Auszählung im Wahllokal verfolgen. Was aber zwischen dem Einwurf des Wahlzettels im Briefkasten und der Öffnung der Wahlbriefurne am Wahltag geschieht, ist ohne jede Transparenz. Die öffentliche Kontrolle ist also – in den Worten des Verfassungsgerichts – „zurückgenommen“.

Keine geheime Wahl

In ihrem Urteil von 2013 formulierten die Richter zudem in deutlichen Worten, dass „die Integrität der Wahl nicht gleichermaßen gewährleistet [ist] wie bei der Urnenwahl im Wahllokal.“ Das liegt auch daran, dass die Briefwahl weniger geheim und damit weniger frei ist. Konstellationen, in denen psychischer Druck auf den Wähler ausgeübt, er für seine Stimmabgabe bestochen oder der Wahlzettel gleich von einer anderen Person ausgefüllt wird, sind in der Wahlkabine so gut wie ausgeschlossen. Die Abstimmung per Post öffnet dem hingegen Tür und Tor.

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Bei Twitter erzählte jüngst eine Nutzerin freimütig von einer solchen Situation: „Wir haben eben mit Oma (96 J.) ihre Briefwahl-Unterl. ausgefüllt. Oma sucht: ‚Wo steht die CDU?‘ Mein Mann: ‚Mutter, WIR wählen d. Grünen‘. Oma: ‚Nicht CDU?‘ Mann: ‚Die Grünen sind die Besten!‘ u. zeigt ihr, wo die stehen. Oma: ‚Hab ich noch nie gewählt‘ u. kreuzt 2 x Grünen an.“ Ob die Nutzerin echt ist und die Szene so tatsächlich stattgefunden hat, lässt sich nicht überprüfen. Jedenfalls illustriert sie das Problem der Briefwahl wunderbar – denn es wäre möglich.

Deutschland befindet sich mit seinem liberalen Briefwahlrecht nicht ohne Grund in der Minderheit der europäischen Länder. Frankreich etwa schaffte die Briefwahl 1975 aufgrund von Wahlbetrugs wieder ab. Auch hierzulande wurden immer wieder Manipulationsversuche aufgedeckt. Arnim Rupp, der die Beschwerde beim Verfassungsgericht eingereicht hatte, die zum Urteil von 2013 führte, stellt auf seiner Webseite eine entsprechende (lange) Liste zur Verfügung.

Statt auf die demokratiepolitischen Probleme der Briefwahl hinzuweisen, tun Parteien und Regierung derzeit alles, um den Anteil der Briefwähler noch weiter in die Höhe zu treiben. Auf Wahlbenachrichtigungen erscheinen inzwischen personalisierte QR-Codes, die man per Handy einscannen kann; nach ein, zwei weiteren Klicks hat man die Briefwahl schon beantragt. Die Grünen werben auf ihren Wahlplakaten offensiv für die Möglichkeit der Abstimmung per Post. Und die CDU stellt gleich ein Onlineformular zur Generierung des Antrags zur Verfügung.

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Bundeswahlleiter Georg Thiel wies vor anderthalb Monaten, bei einer Pressekonferenz mit Innenminister Horst Seehofer, immerhin noch auf die Rechtsprechung des Verfassungsgerichts hin, relativierte dies aber direkt danach unter Verweis auf die Pandemie. Außerdem habe es seit 1957 „keinen Hinweis auf großflächige Manipulationen“ gegeben. Bei einer so knappen Wahl wie der anstehenden kann aber jede Manipulation – auch die am Küchentisch, die den Beteiligten zunächst gar nicht problematisch erscheinen mag – zu entscheidenden Verschiebungen führen, erst Recht wenn die Briefwahl so massenhaft praktiziert wird wie jetzt. Auf seiner Webseite stuft Thiel sogar die offensichtlich richtige Feststellung, dass die Briefwahl „leichter manipulierbar“ ist, als „Fake-News“ und „Desinformation“ ein.

Entscheidend ist das Prinzip: Auf jede noch so kleine Aufweichung der Wahlrechtsgrundsätze allergisch zu reagieren, hat nichts mit Verschwörungsglauben, zu tun, sondern mit einem gesunden staatsbürgerlichen Empfinden. Wir reden hier vom innersten Kern der Demokratie, da darf, nein, muss man sensibel sein. Unsere Gesellschaft hat seit März 2020 schon genug Teile ihres bis dahin geltenden demokratischen Selbstverständnisses unter Verweis auf das Coronavirus aufgegeben – oftmals ohne dass sich viele Bürger des Problems überhaupt bewusst waren und sind. Wir sollten es nicht auch noch mit den Wahlrechtsgrundsätzen tun. Also auf ins Wahllokal!


Sandro Serafin (22) studiert Geschichts- und Kulturwissenschaften in Gießen. 

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Kommentare ( 25 )

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Anti-Merkel
2 Jahre her

Ich werde sogar zur Briefwahl gezwungen. Ich lebe normalerweise in der Schweiz, halte mich aber gerade für längere Zeit bei meinem Vater in Deutschland auf, um ihm nach einem Herzinfarkt zu helfen. Aber obwohl ich am Wahltag mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit in Deutschland sein werde, darf ich nicht an der Urne wählen — als im Ausland lebender kann ich nur wählen, indem ich mir den Stimmzettel an meine Schweizer Adresse schicken lasse, ihn dort ausfülle, und per Briefwahl zurückschicke. Warum kann mir nicht einfach eine Stimmkarte ausgestellt werden wie jedem anderen auch? Natürlich bin ich froh, dass ich die… Mehr

Kokoschka
2 Jahre her

Man schaue sich die Wahlwerbung der Grünen und Linken an. Da wird aggressiv die Werbetrommel für die Briefwahl gerührt. Das halte ich für hoch bedenklich. Ich habe einmal im Leben notgedrungen Briefwahl gemacht. Es handelte sich um eine Landtagswahl. Ich sollte den Stimmzettel in einen Umschlag stecken. Und las in der Anleitung: „Bitte kleben Sie den Umschlag nicht zu“. Kein Witz, man wurde aufgefordert, den Umschlag nicht zuzukleben. Welchen Sinn aber hat dann ein Umschlag, wenn ich ihn nicht zukleben darf? Das war ein klarer Angriff auf die Geheimheit der Wahl. Von dem ich mich nicht einschüchtern ließ. Ich klebte… Mehr

Teiresias
2 Jahre her

Daß das Vertrauen in die Korrektheit der Stimmauszählung überhaupt ein Thema sein könnte in unserem Deutschland, darauf hätte ich noch vor wenigen Jahren keinen Gedanken verschwendet.

Heute kann ich mir kaum noch vorstellen, daß es bei der Briefwahl mit rechten Dingen zugeht.

Zu penetrant die Werbung, zu unverhohlen das Interesse an einem möglichst hohen Anteil an Briefwählern durch eine politische Klasse, die ich zunehmend als feindselig wahrnehme.

Ich bin praktisch sicher, daß, wenn das Ergebnis nicht passt, man passende Briefwahlstimmen aus dem Hut zaubern wird.

So sind sie Trump losgeworden, so wird die globalistische Agenda auch hier durchgedrückt werden.

Last edited 2 Jahre her by Teiresias
Oliver Koenig
2 Jahre her
Antworten an  Teiresias

Die Tatsache, dass alle Briefwahl-Stimmen unter Ausschluss der Öffentlichkeit in einem Hinterzimmer der Rathäuser ausgezählt werden, lässt Ihre Vermutung als sicheres Scenario erscheinen.

F.Peter
2 Jahre her

Die Briefwahl ist doch ein wunderbares Instrument, um Wahlen zu manipulieren. Wieviele Parteisoldaten sind denn schon unterwegs zu unseren Senioren und Seniorinnen, um ihnen bei „der wahrnehmung ihrer demokratischen Rechte“ zu helfen, weil diese nicht zum Wahllokal können oder einfach nicht wissen, was sie wählen sollen. Die „Wahlhelfer“ wissen dann schon, wo Oma ihr Kreuz machen soll……
Der Rest – siehe die letzte Präsidentenwahl in den USA!

Rob Roy
2 Jahre her

Zum Glück haben die meisten derer, die Sie meinen, keine deutsche Staatsangehörigkeit und somit kein Recht, an der Bundestagswahl teilzunehmen.
Doch die Grünen arbeiten ja daran, allen „Menschen, die hier leben“ dieses Recht zu verschaffen. In der Hoffnung damit Stimmen für sich zu generieren.
Die Grünen werden sich dann die Augen reiben, wenn syrische, irakische oder afghanische Parteien gewählt werden.

Rob Roy
2 Jahre her

Ich habe aus verschiedenen Gründen lange Zeit Briefwahl bevorzugt. Dieses Mal werde ich bewusst von meinem Recht Gebrauch machen, meine Stimme im Wahllokal abzugeben.

Johann Vetter
2 Jahre her

Guter Artikel.
Ich mache es mit der Wahl entgegen des Trends:

Früher habe ich immer Briefwahl gemacht. Ich wollte mich nicht binden am Sonntag in das Wahllokal zu gehen.
Seit ein paar Jahren gehe ich bei jeder Wahl ins Wahllokal.
Ist einfach für mich. Ich kann mich bei den Formalien und Umschlägen/Eintüten nicht vertun.

Und der Wahlvorstand schüttet nach 18 Uhr die Urne aus und zählt aus. Dabei kann ich sogar in meinem Wahllokal zusehen, wenn ich will.

Das ist mir die Demokratie schon wert.

Deutscher
2 Jahre her

Ich denke, dass die linken Parteien durchaus vom Fanatismus ihrer Wähler profitieren, indem diese ihre Partnerzu Hause unter Druck setzen.

Last edited 2 Jahre her by Deutscher
Deutscher
2 Jahre her

„Öffentlich sind Wahlen aber nur noch in Teilen, wenn jeder Zweite sein Kreuz in den eigenen vier Wänden, im Garten oder sonst wo, jedenfalls nicht im Wahllokal macht.“ Wenn er es denn selber macht. Sonnenklar ist jedenfalls, dass die Wähler bei der Briefwahl einem höheren Anpassunsgdruck durch den Ehepartner ausgesetzt sind, denn der schützende Raum der öffentlichen Wahllokale ist zu Hause am Küchentisch nicht gegeben. Und weil die Linksgrünrotwoken auch jene sind, die aggressiver missionieren, ist auch klar, warum linksgrünrotwoke Parteien die Briefwahl forcieren. Sie wissen genau, dass ihre Wähler zu Hause die Politik dominieren. „Auch das Private ist politisch“, jaja,… Mehr

Gisela Fimiani
2 Jahre her

Ist das so überaus bedeutende Wahlrecht des Bürgers nicht auch deshalb zum lapidaren Kreuzchen geworden, wenn man es mal eben überall, sei es am Küchentisch, im Garten oder anderswo ausüben kann? Formlosigkeit wird zu Bedeutungslosigkeit, welche Form be-in-haltet Inhalt? Bedarf nicht das Wahlrecht der Ernsthaftigkeit des Wählenden, der einen bedeutenden Akt vollzieht? Vielleicht hat der „Akt“ keine Bedeutung mehr?