Drei antikirchliche Megatrends – Kirche am Kipp-Punkt

745.000 Abgänge durch Kirchenaustritt oder Tod; dem stehen nur 185.000 Zugänge durch Taufe oder Wiedereintritt gegenüber. Auf katholischer Seite werden die Zahlen nicht besser erwartet. Beide Kirchen zusammen dürften gut über eine Million Mitglieder in einem einzigen Jahr verloren haben.

IMAGO / Jan Eifert

Nun sind die vorläufigen Mitgliedszahlen der evangelischen Kirchen in Deutschland für das Jahr 2022 bekannt gegeben worden. Es sind katastrophale Zahlen: 745.000 Abgänge durch Kirchenaustritt oder Tod; dem stehen nur 185.000 Zugänge durch Taufe oder Wiedereintritt gegenüber. Auf katholischer Seite werden die Zahlen nicht besser erwartet. Beide Kirchen zusammen dürften gut über eine Million Mitglieder in einem einzigen Jahr verloren haben.

Diese Zahlen wurden mit Häme aufgenommen. Viele lästern genussvoll über alles, was sie an Kirche schon immer gestört hat. Dabei kommen mir als Christ die positiven Seiten des (gemeinschaftlichen) christlichen Glaubens zu kurz.

Lassen Sie mich versuchen, in diese Gefühls- und Meinungswallungen etwas Nüchternheit hineinzubringen. Meines Erachtens sind es drei Megatrends, die die Fundamente der Volkskirche zerstören:

Der erste antikirchliche Megatrend: Der Trend zur Gottesferne

Es gibt immer mehr Menschen, die konfessionslos und wohl auch religionslos glücklich sind. Sie können mit „Gott“ nichts anfangen; oder sie verstehen unter „Gott“ ein Konstrukt, das sie selbst nach eigenem Gutdünken passend zu ihrem Leben zusammenbasteln. Ganz im Sinne einer Baumarktkette: „Respekt, wer’s selber macht.“

Die christliche Kirche dagegen ist an einen Gott gebunden, der als heiliges Gegenüber mit seinem Wort „furchterregend und faszinierend, fesselnd und bedrohlich“ in mein konkretes Leben hineinsprechen kann (Rudolf Otto). Das entspricht nicht unbedingt der menschlichen Nachfrage. In diesem Sinne kann es Kirche mit ihrer Verkündigung zuweilen so schwer haben wie ein leidenschaftlicher Metzger bei einem Treffen von Veganern.

Kirche ist darum versucht, ihr Angebot der Nachfrage anzupassen. Dann subjektiviert auch sie den Gottesglauben oder schiebt ihn wie einen Gummibaum an den Rand, um sich als Dienstleister von Gemeinschaftserlebnissen, Lebensorientierung und sozialem Engagement zu profilieren. Doch ohne das ernstgenommene Korrektiv des Wortes Gottes wird Kirche schneller als gedacht zu einer Sympathiegemeinschaft von Gutmenschen, in der die gesellschaftlich dominierenden Moralvorstellungen und Binsenweisheiten religiös verbrämt wiedergekaut werden. Ich bezweifle, dass eine solche Kirche ihr Geld wert ist, zumal infolge von Inflation und politischen Fehlentscheidungen die Gürtel enger geschnallt werden müssen.

Eine Kirche, die ihr Kerngeschäft der biblischen Gottesbeziehung vernachlässigt, verliert den großen Goldschatz, der sie reich und einzigartig macht: den Goldschatz einer unendlichen Geborgenheit, die Gott in Jesus Christus schenkt und die zur Selbst- und Nächstenliebe befreit. „Unruhig ist unser Herz, bis es ruht in Dir, o Gott“ (Augustin).

Der zweite antikirchliche Megatrend: Der Trend zum Zerfall der Gesellschaft

Unsere gegenwärtige Gesellschaft zerfällt durch immer mehr Konfliktthemen, in denen Menschen durch machtvoll ausgetragene Moraldebatten in Schwarz-Weiß-Lager auseinanderdividiert werden. Statt politischen Pluralismus als Bereicherung wertzuschätzen, werden Andersdenkende diffamiert und ausgegrenzt.

Dieser Zerstörung der Gesellschaft kann entgegengewirkt werden, indem man gegen alles Trennende das Verbindende in einem übergeordneten Dritten stärkt. Das übergeordnete Dritte ist zum Beispiel das Grundgesetz. Oder das übergeordnete Dritte könnte von kirchlicher Seite die Betonung eines gemeinsamen Seins vor Gott sein, das alle Menschen miteinander verbindet. Die Kirchen könnten daher einen großen Beitrag zum Miteinander in unserer Gesellschaft leisten.

Doch gerade an diesem Punkte versagt die EKD jämmerlich. Statt durch das Bekenntnis zu einem übergeordneten Dritten das gesellschaftliche Miteinander zu stärken, gießen die Kirchen polarisierendes Öl ins Feuer:

  • „Klimagerechtigkeit durch Tempolimit“,
  • „Impfen ist Nächstenliebe“,
  • „2G-Apartheidsgottesdienste“, „keine AfD auf dem Kirchentag“,
  • „Gendern in Kirchenzeitungen selbst bei Artikeln, die ungegendert eingereicht werden“, „kirchliche Schiffe zur Seenotrettung im Mittelmeer“,
  • „gemeinsamer Kampf mit der Antifa gegen Rechts“,
  • „Waffen in die Ukraine als Christenpflicht“.

Solche einseitige Kirchenpolitik verstärkt die gesellschaftlichen Spaltungen und zementiert sie klerikal-spirituell. Zudem trägt die Kirche die gesellschaftlichen Spaltungen in ihre eigene Institution hinein. Damit zerstört sie sich selbst als Volkskirche, indem sie sich als politisch tendenziös-illiberale Gesinnungskirche positioniert.

Der dritte antikirchliche Megatrend: Der Trend zur Individualisierung und Institutionsfeindlichkeit

„Glauben kann ich auch für mich alleine, dafür brauche ich keine Kirche“, sagen viele. Da jede Institution als Gemeinschaft von sündigen Menschen Dreck am Stecken hat, kann man die Privatheit des Glaubens sogar noch moralisch legitimieren: Ist es angesichts des Missbrauchsskandals und vieler anderer kirchlicher Missstände nicht geradezu eine Pflicht, aus so einer Institution auszutreten? Und dann glauben Menschen individuell, was sie für richtig halten und für den Moment als stimmig empfinden, ohne dabei die Tücken dieses Ansatzes wahrzunehmen: Ein individuell-privater Glaube, der nicht im kritischen Austausch mit anderen steht und der nicht die Korrektur durch das unzeitgemäße Bibelwort kennt, ist anfällig für gesellschaftliche Ideologie und zeitgeistliche Manipulationen.

Wenn schon der christliche Gott nicht für sich alleine sein will, sondern trinitarisch-dialogisch orientiert ist, dann ist es konsequent, dass auch Jesus Christus niemals privat-individualistisch gewirkt hat, sondern immer nur inmitten einer Jüngergemeinschaft. „Es ist nicht gut, dass der Mensch allein sei“ (Genesis 2,18), gilt auch für unseren Glauben, damit wir nicht im eigenen Mief ersticken.

Dabei schält sich heraus, dass die kirchliche Organisationsform der traditionellen Volkskirche an ihr Ende kommt. Antikirchliche Megatrends und schwere kirchliche Fehler auf Makro- und Mikroebene scheinen diesen Trend zu besiegeln. Ich bin gespannt darauf, wie sich die Menschen, die von Jesus Christus und seiner Botschaft berührt sind, in Zukunft institutionell, analog und digital organisieren werden. Die Zukunft der Kirche wird bescheidener sein; vielleicht sogar bis hin zu kleinen „Wohnzimmerkirchen“ wie in den Anfängen der Christenheit. Aber ich bin fest davon überzeugt, dass Gott weiterhin Wunderbares in Menschen bewegen wird. Der christliche Glaube ist keine Asche, sondern auch im 21. Jahrhundert ein Goldschatz für Geborgenheit, Freiheit und Hoffnung.

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Kommentare ( 67 )

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Durchschnittsmensch
1 Jahr her

Die Spaltung des Landes kommt doch durch den Unglauben bzw. Ungehorsam der Masse gegenüber Gott. Der Herr Jesus hat gesagt, ein jedes Reich, dass mit sich selbst uneins ist, kann nicht bestehen (Mt12,25/Mk3,24/Lk11,17). Ich schließe daraus, das jeder der nicht an Jesus glaubt und nicht zu Gott umkehren will Mitschuld ist am Niedergang. (Das würde ich nicht auf wenige Protagonisten herunterbrechen.) Schuld daran, dass aus dem einst christlichen Deutschland ein Atheistischer Staat wird. Ein gottloses Volk wählt gottlose Herrscher. Gottlose Herrscher fahren eine antigöttliche Agenda. Dann wundern sich alle, dass der Muezzin seinen Machtanspruch laut ausrufen darf… Wenn wir als… Mehr

Andreas Meier
1 Jahr her

Die gedankliche Grundlage ist immer noch die Staatskirche. Alles ist Staat, außerhalb des Staates ist nichts. Das bedeutet allerdings, daß man Mitglieder mit selbstgebastelter Religion nicht ‚hinausbegleiten‘ kann. Mehr noch, nach dem Demokratieprinzip kann jeder Träger einer pluralistischen Meinung in der Hierarchie nach oben steigen. Die Gemeinde, als Braut Christi definiert, schwärmt von anderen Bräutigamen. Was wird der Bräutigam der Hochzeit dazu sagen? Gläubige treten um ihres Glaubens willen aus der EKD aus. Ich schon vor 40 Jahren. Ich mache mir keine finanziellen Sorgen um die EKD. Das Kirchensteueraufkommen ist trotz Mitgliederschwund gestiegen. Dazu staatliche Zuschüsse (für’s Mitmachen?) und die… Mehr

Deutscher
1 Jahr her

Es gibt immer mehr Menschen, die konfessionslos und wohl auch religionslos glücklich sind. Sie können mit „Gott“ nichts anfangen; oder sie verstehen unter „Gott“ ein Konstrukt, das sie selbst nach eigenem Gutdünken passend zu ihrem Leben zusammenbasteln.

Natürlich ist der christliche Patent-Gott, wie er im Buche steht, jeder eigenen Erfahrung stets vorzuziehen. Sagte doch schon Jesus: „Selig sind die Schriftgelehrten – Gott kommt durch das Buch zu Dir oder gar nicht!“

Lieber Herr Zorn, sollten in der Fastenzeit nicht auch dem missionarischen Eifer die Zügel etwas angezogen werden? Ich fürchte, Sie haben sich ein wenig vergaloppiert!

ErikaR.
1 Jahr her

Individuelle, subjektive Spiritualität entspricht der Lehre Giordano Brunos, den die Kirche für so gefährlich hielt, dass sie ihn lebendig verbrannte, ebenso wie die vielen Hexen und Ketzer, die es wagten, Spiritualität als individuelle Erfahrung für sich zu reklamieren. Der Gott der Kirche war für Giordano Bruno ebenso wie für Nietzsche ein toter Gott, der getötet werden musste, um die Menschen geistig unfrei zu halten, sie machtpolitischen Dogmen zu unterwerfen und an die Interessen geldgieriger Institutionen anzupassen. Während Nietzsche den Tod Gottes verkündetete und in den Nihilismus abdriftete, lehrte Giordano Bruno den lebendigen Gott. Nur individuelle, subjektiv erfahrbare Spiritualität gebe dem… Mehr

Mediator
1 Jahr her

Spätestens mit ihrer vollen Unterstützung der sinnlosen „Coronamaßnahmen“ hat die Kirche bewiesen, dass sie selbst nicht an Gott glaubt. Sollte er denn seine Schäfchen nicht beschützen und führen? Wozu dann Masken und an der Schöpfung frevelnde genmanipulierende Spritzen? Die Kirche hat ihren Glauben verraten und sich somit selbst abgeschafft! Das ist alles, sie ist eine leere Hülle.

Freiheit fuer Argumente
1 Jahr her

Ich bin nur noch aus Sentimentalität in den Verein.
Wer die Kernbotschaften des Christentums, wie den Auftrag zur Feindesliebe (Mt 5, 42 ff.) so missachtet wie die EKD, der hat m.E. das Recht verwirkt, im Namen der Gläubigen zu sprechen.

Es wird ja noch nicht einmal problematisiert oder versucht, aus diesem zunächst schwer verdaulichen Konzept Handlungen abzuleiten.

Tägliche kirchliche Mahnwachen für doe Opfer, von mir aus vor den Botschaften Russlands und ggf. auch den USA und der Ukraine, hätten Wirkung zeigen können.

Stattdessen fast kritiklose Solidarisierung mit einer der beiden Kriegsparteien.

Waldorf
1 Jahr her

Wohlstand bis Reichtum sind die größten Feinde von Glaube und Kirchen. Das für diese optimale Umfeld ist durch Not, Elend, Krieg, Unterdrückung, Tod und Gewalt geprägt – also dort wo persönliche Ohnmacht Hoffnung braucht. Bei uns erleben nur noch Betagte und Kranke den nahen Tod als persönliche, existenzielle Ohnmachtserfahrung, die breite Masse der Jüngeren und überwiegend Gesunden ist davon befreit. Als Folge dieser Sorgenfreiheit im Wohlstand, mit Überdruss und Dekadenz haben sich viele eine Art Ersatzreligion mit ihrer Ersatzapokalypse gebastelt. Als moderner Zeitgeistgötze wird dem Klima gehuldigt und geopfert, um es milde zu stimmen, egal was Deutsches Wirken, Tun oder… Mehr

H.Arno
1 Jahr her

Charlie hat vom sozialistischen Terror gegen die Christen der DDR von 1952 bis 1989 „keine“ Ahnung. Ohne persönliche Leidensbereitschaft die täglichen Diskriminierungen zu überstehen und schwerste Benachteiligungen bereits als Jugendlicher auf sich zu nehmen, hätte es keine standhafte Basis für die friedliche Revolution 1989 gegen die übermächtige sozialistische STASI- Diktatur gegeben.In dem Glaubens-bekämpfenden SED-Staat gab es keine Linken NGOs in den Kirchen. Getarnt als Kirche kam die LINKS-GRÜNE Ideologie nach der Wiedervereinigung aus Westdeutschland – um den Glauben der Kirchen im Osten zu zersetzen und mit ihren Linken Theologen die feministische Links-Grüne Weltreligion zu infiltrieren! Abschreckendes Beispiel ist der Linke… Mehr

Maria Jolantos
1 Jahr her

Der erste Punkt ist der Wichtigste: „Trend zur Gottesferne“, besonders stark zu spüren bei den bezahlten Funktionären der evangelischen Kirchen.

moorwald
1 Jahr her

Der Autor kann nur von einer Innensicht aus argumentieren. Er setzt den Glauben bereits voraus.
Daß es entschiedene Ungläubige geben kann, liegt außerhalb seines Vorstellungsvermögens. Allenfalls kann er sie als Irrende akzeptieren.
Im Grunde möchte er bekehren, wie es alle religiösen Menschen – teils unbewußt – versuchen.