Gebt den Briten mehr Zeit

Es ist doch ein Perversion des Friedens- und Freiheitsprojektes, wenn die Nichtmitglieder tributpflichtig werden, nur damit sie mit der Bevölkerung der EU Handel treiben dürfen.

© Leon Neal/AFP/Getty Images

Der Brexit wird zunehmend zur Tragödie. Nichts drückt die aktuelle Stimmung auf der Insel so präzise aus, wie die lädierte, krächzende Stimme von Theresa May. Wenn sie im Unterhaus vor die Abgeordneten tritt und für ihre Vereinbarung mit der EU wirbt, dann schwankt man zwischen Bewunderung für ihre Kraft und Ausdauer und Entsetzen über ihre Ignoranz gegenüber den Mehrheitsverhältnissen im Parlament.

Gestern erreichte ein Antrag, einen harten Brexit abzulehnen, mit 312 zu 308 Stimmen nur eine knappe Mehrheit. Aktuell hat also weder der ausgehandelte Vertrag mit der EU eine Mehrheit, noch ein harter Brexit. Erst heute Abend wird man sehen, ob eine kleine Verschiebung des Austrittsdatums eine Mehrheit findet. Es ist nicht ausgeschlossen, dass auch dafür keine Mehrheit besteht. Dann kommt es zur verrückten Situation, dass es einen harten Brexit am 29. März gibt, obwohl eine Mehrheit im Parlament das eigentlich nicht will.

Mit Häme auf diese verfahrene Situation zu reagieren, wäre falsch. Denn eigentlich zeigt die Lage zweierlei. Zum einen, dass einfache Mehrheiten für so grundsätzliche Fragen nicht geeignet sind. Abstimmungen müssen strittige Fragen klären, aber anschließend auch Frieden stiften. Dies Bedingung hat das Brexit-Votum nicht erfüllt. Die Mehrheiten dafür waren zu knapp. Besser wäre es gewesen, wenn für den Austritt eine qualifizierte Mehrheit in der Bevölkerung notwendig gewesen wäre. Das letzte Votum über den Verbleib Großbritanniens in der damaligen EG erfolgte mit einer Zweidrittel-Mehrheit. 67,2 Prozent der Wähler votierten 1975 für den Verbleib in der EG. Das hatte das kritische Verhältnis weiter Teile der britischen Bevölkerung gegenüber dem Kontinent und der EU nicht verstummen lassen, aber die Lage über viele Jahrzehnte beruhigt.

Die aktuelle Lage zeigt aber auch, dass die EU nicht unschuldig ist an der verfahrenen Situation. Der EU-Kommission ging es von Anbeginn an um eine Disziplinierung nicht nur der Briten, sondern aller potentiellen Austrittskandidaten. Nie wieder sollte ein Land auf die Idee kommen, den Austritt in Erwägung zu ziehen. Die Hürden hierfür sollten möglichst hoch und schmerzhaft sein. In diesen Chor stimmten auch viele in Deutschland mit ein. Es dürfe kein Rosinenpicken zugelassen werden, also die Vorteile des gemeinsamen Marktes nutzen, aber zur Finanzierung nichts mehr beitragen wollen. Das sind keine besonders überzeugenden Argumente, insbesondere wenn man davon spricht, dass die EU ein Friedens- und Freiheitsprojekt sei. Zur Freiheit gehört die Auswahl aus verschiedenen Angeboten. Warum muss jemand der am Binnenmarkt teilnimmt, gleichzeitig die Forschungspolitik der EU oder für Agrarsubventionen mitbezahlen? Durch den Austritt kann das Land die Geschicke in der EU nicht mehr mitbestimmen, was richtig ist, aber dieses Land sollte diese Politik dann nicht auch weiter mitbezahlen müssen.

Es ist doch ein Perversion des Friedens- und Freiheitsprojektes, wenn die Nichtmitglieder tributpflichtig werden, nur damit sie mit der Bevölkerung der EU Handel treiben dürfen. Die EU sollte daher ihre Märkte für Großbritannien öffnen, ohne dass die Briten weiter Beiträge in den EU-Haushalt leisten müssen. Das wäre für viele Bürger und Unternehmen auf dem Kontinent und der Insel gut. Es wäre eine win-win-Situation in einer derzeit verfahrenen Lage. Es würde auch die EU als Freiheitsprojekt wieder attraktiv machen und andere einladen, gleiches zu tun. Vielleicht entsteht dadurch sogar einen Bewegung für Freihandel und gegen den wachsenden Protektionismus. Man mag das als Illusion abtun, so nach dem Motto: überall auf der Welt ist man gerade auf einem anderen Dampfer unterwegs. Aber vielleicht ist solch ein historischer Einschnitt, wie es der drohende Brexit aktuell ist, ein Weckruf zur Vernunft. Nicht die Abschottung und die Demütigung des anderen hat zu Frieden und Wohlstand in Europa geführt, sondern die Rücksichtnahme und das Verständnis für den anderen.

Deshalb wäre es klug und im wahrsten Sinne europäisch, wenn die EU den Briten mehr Zeit gäbe, um im britischen Unterhaus und in der britischen Bevölkerung einen breiten gesellschaftlichen Konsens herzustellen. Mehr Zeit ohne Vorbedingungen. Man mag sich über die Briten noch so ärgern, für die gute Idee eines europäischen Freiheitsprojektes darf es nicht auf einige Wochen mehr oder weniger ankommen. Weniger Häme und mehr politische Klugheit wären daher angebracht.

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Kommentare ( 35 )

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Hans Nase
5 Jahre her

Das „Friedens- und Freiheitsprojekt“ ist schon lange pervertiert. Denn dafür hätte die alte EWG vollkommen ausgereicht. Denn in der EWG waren bereits alle Kandidaten vorhanden, die groß genug sind, um überhaupt einen Krieg vom Zaun brechen zu können. Das hätte genügt. Alles danach war Friedensschädigend. Speziell die durch die unheilige Allianz von Linken (wegen ihres Traums der Vereinigten Staaten von Europa und der Auflösung der Nationalstaaten) und dem „Kapital“ (Absatzmarktvergrößerung und Zugriff auf billige Arbeitskräfte) betriebene EU-Osterweiterung hat den inneren Frieden in den ursprünglichen EWG Ländern empfindlich gestört: Z.b. Abwanderung von Millionen von Industriearbeitsplätzen aus D mit entsprechenden Langzeitfolgen. Oder… Mehr

Nichzufassen
5 Jahre her

Ich bin mir ziemlich sicher, dass dieses monatelange Spektakel bzgl Brexit nur deshalb aufgeführt wird, um am Ende sagen zu können: „Wir haben alles versucht, es gab keine Einigung, wir müssen ein weiteres Referendum machen, so leid es uns tut“, in der Hoffnung, dass dann anders abgestimmt wird. Ich halte das Ganze für ein abgekartetes Spiel.

Petra Horn
5 Jahre her

Die EU-Freaks „Projekt Europa“, „ever closer union“ sollten endlich ihre Krallen vom UK nehmen. Sie sollten respektieren, daß das UK ein souverändes Land ist, welches, knapp, aber immerhin, gehen möchte.
Der feuchte Traum, daß die alten dummen weißen Männer wegsterben und bei einer Neuabstimmung die smarten (durchgeknallten) weiblichen Schreihälse die Mehrheit stellen würden, entbehrt der Grundlage. Auch die Nachwachsenden bleiben nicht ewig EU-Phil, viele fangen irgendwann selbst zu denken an.

Umkehr
5 Jahre her

Der Leitartikel in der Daily Mail von heute spricht eine deutliche Sprache. Weite Teile der englischen Wähler fühlen sich von ihrer Regierung und besonders von ihren Unterhausabgeordneten verraten. Das Versprechen das Ergebniss des Referendums umzusetzten wurde nicht eingehalten. Und noch mehr – sie fühlen sich von der EU gedemütigt und vorgeführt. Die Eurokraten in Brüssel mögen jetzt triumphieren, aber es ist ein Pyrrhussieg. Es führt zu einer schwelenden innenpolitischen Krise in UK und stärkt die die Anti EU Fraktion nicht nur bei den Tories. Eine neue Partei des ehemaligen UKIP Günders Farage steht schon bereit den Brexit erneut auf die… Mehr

derAlte
5 Jahre her

Sehr geehrter Herr Schäffler, ** Betrachten Sie nur die Interessenlage: Sowohl Irland als auch GB haben Interesse, die Grenze zwischen ihren Ländern vernünftig zu gestalten und würden das ohne EU-Bevormundung auch tun. Nur die EU hat Interesse, dieses „Problem“ zu eskalieren und tut dies vehement – und das bei all den Vorgängen an der südlichen EU-Außengrenze. Wo bitte ist hier irgendein Friedensprojekt? Die Polen sind nationalistisch und rechtsgerichtet, die Ungarn – reden wir nicht davon, die Italiener können nicht wirtschaften, die Griechen müssen ewig gerettet werden, die Östereicher haben den falschen Kanzler, die Franzosen bürgerkriegsähnliche Zustände, die Deutschen sterben morgen… Mehr

Herold Hansen
5 Jahre her

Wie angenehm für die EU-Verwaltung, dass die Briten die alleinigen Sündenböcke sind und die triftigen Gründe für ihren Austritt keinerlei Diskussion und Öffentlichkeit erfahren.

Marc Hofmann
5 Jahre her

Hr. Schäffler…von welchen Konsens sprechen Sie denn…von einen Konsens der England zum Sklaven der EU Bürokratie macht?! Ich Glaube, Sie und viele andere haben noch immer nicht verstanden um was es bei diesen Abkommen überhaupt im Kern geht!!! Die EU will mit diesem Abkommen ihre Fremdbestimmung über England festigen…der Brexit will aber das Gegenteil…England aus der Fremdbestimmung der EU zu befreien…dafür steht der Brexit. Da kann es KEINEN KONSENS geben! Und das englische Parlament inkl. May spielen das Spiel mit der EU um die freie Selbstbestimmung (Befreiung Englands von der EU Diktatur) so, wie es England immer spielt…mit kühlen Kopf.… Mehr

Nibelung
5 Jahre her

Die gehen alle bewußt am Thema vorbei und diskutieren eine Entscheidung der Briten zu Tode und das ist gewollt und wenn man sich die Berichterstattung jeglicher Coleur ansieht, dann wird von keinem Verantwortlichen der Satz in den Mund genommen, wir müssen uns an den Wählerauftrag halten, egal wie schwierig sich dieser gestaltet und hier kann man exemplarisch sehen, wie man versucht an den Bürgern vorbeizuhandeln und das ist zutiefst antidemokratisch und wird ihnen noch schwer auf die Füße fallen, denn sie unterschätzen die Urteilskraft vieler Zeitgenossen und handeln noch wie Apparatschiks aus früheren Tagen, lernfähig scheinen die nicht zu sein,… Mehr

Juergen Behm
5 Jahre her
Antworten an  Nibelung

Meine Frage bzgl. des Wählerauftrags: Sollte bei einer solchen existenziellen Frage wie dem Verbleib oder Austritt aus der EU oder als Provinz aus einem Land, z.B. Katalonien/Spanien, Schottland/UK nicht ein notwendiges Votum vom weit über 50 % der Stimmen, vielleicht eine 2/3-Mehrheit von allen Beteiligten vereinbart werden? Ich meine, nur mit einer solchen Vereinbarung kann doch letztlich die Spaltung von Gemeinschaften in solchen Fragen vermieden werden.

BK
5 Jahre her

„Die aktuelle Lage zeigt aber auch, dass die EU nicht unschuldig ist an der verfahrenen Situation.“ Das trifft es auf den Punkt, denn so wie ich die Sache verstehe, war es von Anfang an ein Austrittsdiktat der EU. Erpressung, und mit Erpressern kann man nicht verhandeln. Da muss man sich auch auf der Insel im Klaren sein, dass das Prinzip: „Wasch mir den Pelz, aber mach mich nicht nass“, nicht funktionieren wird. Sich mit Erpressern einzulassen, beinhaltet immer, dass man selbst nicht ungeschoren davon kommt. Von daher hätte man vor 2 Jahren die Verhandlungen gleich abbrechen, den harten Brexit ankündigen,… Mehr

humerd
5 Jahre her

„Die EU ist nicht Europa“ – wie wahr. Und dennoch schreiben deutsche Journalisten immer von Europa, wenn sie das korrupte Eurokratenmonster EU meinen. Es ist erschreckend, wie die deutsche Presse über Theresa May herzieht. Frau May nahm den Auftrag ihres Volkes an und ernst, obgleich sie selbst nicht zu den Brexit-Befürwortern gehörte. Frau May verhandelt und lässt über das Verhandlungsergebnis abstimmen. Alles eine demokratische Verhaltensweise. Kanzlerin Merkel traf dagegen einsame Entscheidungen mit weitreichenden folgen für die EU Länder. Die demokratische Theresa May wird in der deutschen Presselandschaft verrissen, Kanzlerin Merkel dagegen hoch gelobt. Das zeigt, wie weit sicher der deutsche… Mehr