Politik als Beruf: „Leidenschaft, Verantwortungsgefühl, Augenmaß“

Der große Soziologe Max Weber, vor 100 Jahren gestorben, hat 1919 in einem Essay skizziert, welche drei Fähigkeiten den guten Politiker auszeichnen.

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Robert Leicht, langjähriger Leitartikler der Süddeutschen Zeitung und späterer Chefredakteur der Zeit, stuft den Vortrag des großen Soziologen Max Weber zum Thema „Politik als Beruf“, den er mitten im Revolutionswinter 1918/19 an der Münchner Universität hielt und der im Herbst 2019 als Essay publiziert wurde, als „Eingangstext am Beginn der modernen Demokratie in Deutschland“ ein. Bei mir lag der kleine Band über Jahre meiner Abgeordnetentätigkeit in Bonn und Berlin buchstäblich unter dem Kopfkissen, weil ich immer wieder fasziniert war von diesem eindrucksvollen Leittext politischen Denkens und Handelns. 100 Jahre alt und taufrisch auch für die Gegenwart.

Weber benennt in seinem Aufsatz jene Charaktereigenschaften, die auch heute als Maßstab für Politiker dienen sollten: „Man kann sagen, dass drei Qualitäten vornehmlich entscheidend sind für den Politiker: Leidenschaft – Verantwortungsgefühl – Augenmaß.“ Leidenschaft bedeutet für Weber keine „sterile Aufgeregtheit“, auch keine „Romantik des intellektuell Interessanten“, der alles sachliche Verantwortungsgefühl fehlt. Leidenschaft zur Sache setzt Kompetenz voraus. Man muss die Fähigkeit und den Willen haben, sich mit den komplexen Wirkungsmechanismen unserer Gesellschaft und Wirtschaft auseinanderzusetzen. Unser Land braucht Politiker, die den Problemen auf den Grund gehen und Standpunkte entwickeln – ohne bornierte Rechthaberei.

Stattdessen dominieren Standpunktlosigkeit und Beliebigkeit den Politikbetrieb. Weil Politiker sich alle Möglichkeiten offenhalten wollen, fehlt vielen von ihnen jede Leidenschaft für die Sache. Denn sie würde ja voraussetzen, dass man sich zuvor einen Standpunkt auch wirklich zu eigen gemacht hat. Leidenschaft nicht als gepflegte Gesinnung, sondern als eine aus der Sache begründete Haltung, ist deshalb eine wichtige Voraussetzung für Glaubwürdigkeit. Ein Politiker, der sich mit einem Thema leidenschaftlich auseinandersetzt und eine wenn auch vorläufige Position dazu einnimmt, wird immer glaubwürdiger argumentieren als derjenige, der das eigene Parteiprogramm nachplappert oder blind auf die Konkurrenz eindrischt.

Bei uns Bürgern herrscht eine Sehnsucht nach Authentizität. Wir wünschen uns Politiker, die sagen, was sie denken, und tun, was sie sagen. Im guten Politiker muss ein inneres Feuer brennen, das sich aus Lebenserfahrung, sachlicher Kompetenz und Herzensbildung speist. In meinen aktiven Jahren im Bundestag und auch im Landtag von Baden-Württemberg habe ich einige Kollegen aus den unterschiedlichsten Fraktionen erlebt: Franz Müntefering etwa, aber auch Wolfgang Bosbach, Winfried Kretschmann oder Boris Palmer. Ausstrahlung ist immer eine Frage der persönlichen Glaubwürdigkeit, nicht der politischen Gesinnung. Deshalb reflektieren die genannten Politiker auch einen Riss, der quer durch die Parteien geht. Sie kämpften (oder kämpfen immer noch) mit Leidenschaft, während andere sich vorrangig um Karriere und Einfluss kümmern. Gute Politik wird genauso wenig nur mit dem Kopf gemacht, wie sie auch beim Bürger, wenn sie wirklich überzeugen will, nicht  nur den Kopf erreicht.

Die Ausstrahlung des guten Politikers, sein Charisma, das Vertrauen begründet, sind unabdingbare Voraussetzungen, um die Wähler für Politik zu begeistern. Leidenschaftliche Politiker müssen Menschen mögen. Wer als Politiker kein Herz für die Mitmenschen hat, wer Bürgerkontakt als lästige Zumutung empfindet, in Wahlkämpfen regelmäßig daran leidet, sich persönlich einem undankbaren Publikum stellen zu müssen, der taugt schlicht nicht für diesen Beruf. Denn zur Leidenschaft gehört auch das Einfühlungsvermögen. Die meisten Berufspolitiker können viel reden, ohne etwas zu sagen. Das Zuhören und das Verstehen sind ihnen fremd. Der leidenschaftliche Politiker aber nimmt die Menschen nicht dadurch mit, dass er ihnen möglichst viel verspricht, sondern dass er sie ernst nimmt.

Allein mit Leidenschaft kommt der gute Politiker nicht weit. Seine Aufgabe verlangt von ihm ein Verantwortungsgefühl gegenüber dem Gemeinwohl. Er darf den eigenen Standpunkt, die Position der eigenen Partei niemals überhöhen. Wem gegenüber ist er eigentlich verantwortlich? Seiner Partei, seinen Wählern, seinem Wahlkreis, seinen Überzeugungen? Welche Rolle spielt das eigene Gewissen? Lebt der Politiker für die Politik oder von der Politik? Der gute Politiker wird sich trotz des politischen Meinungsstreits immer im Klaren darüber sein, dass die Dämonisierung der Konkurrenz – zumal in Wahlkampfzeiten – verantwortungslos ist, nicht nur, weil „verfeindete“ Parteien nach Wahlen gelegentlich wieder gemeinsam regieren müssen. Gute Politiker sind Manager des Gemeinwohls, nicht Sprachrohre ihrer Gesinnung oder gar ihrer Partei. Der gute Politiker muss aber auch die Fähigkeit besitzen, sich selbst und seine Rolle in Frage zu stellen. Hauptfeind bei der notwendigen Selbstreflexion des guten Politikers sei die Eitelkeit, warnt Max Weber. Politiker stehen im Rampenlicht, in der heutigen Medienwelt so sehr wie nie zuvor. Sie kokettieren nur zu gern mit der öffentlichen Aufmerksamkeit, nach der sie permanent gieren. Ich will mich selbst nicht davon freisprechen, weil ich in meinen aktiven Zeiten auch auf dieser Klaviatur zu spielen gelernt habe.

Politiker zelebrieren und inszenieren sich, wechseln mit professioneller Unterstützung immer mal wieder ihr Image. Sie spielen Rollen und verlieren dabei zunehmend ihren inneren Kompass. Sie benötigen Augenmaß, um zu erkennen, dass die öffentliche Aufmerksamkeit der formalen Macht, aber nicht der Person gilt. Oft zeigt sich erst beim Verlust der Macht, welches Zerstörungspotential diese narzisstische Kränkung entfalten kann.

Wenn Glaubwürdigkeit das wichtigste Kapital in der Politik ist, weil sich nur daraus das Vertrauen der Wähler speisen kann, ohne das in einer Demokratie keine Veränderung möglich ist, dann werden politische Charakterköpfe gebraucht, die genau über die genannten Eigenschaften verfügen. Wir als Wähler wollen mitgenommen werden, aber nicht als Verführte, sondern als verantwortungsbewusste Citoyens, die auch ihrer eigenen Verantwortung als mündige Staatsbürger gerecht werden. Denn in der Demokratie ist Politik nicht nur die Sache politischer Führungspersönlichkeiten, sondern Angelegenheit der ganzen Gesellschaft. Ob wir uns in unserer Gesellschaft wohl fühlen, hängt ganz entscheidend von uns selbst ab. Denn für das Gemeinwohl sind nicht exklusiv der anonyme Staat zuständig oder gar die Politik, sondern wir Bürger, die sich füreinander einsetzen: in der Familie, in der Nachbarschaft, in Vereinen und Organisationen, am Arbeitsplatz.

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Kommentare ( 26 )

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elly
3 Jahre her

Es ist schwer die Eigenschaften “ Leidenschaft – Verantwortungsgefühl – Augenmaß“ zu vertreten, wenn man ausschließlich eine Parteikarriere gemacht und Angst haben muss, jemals im richtigen Leben zu arbeiten. Ich glaube der Fehler liegt darin, dass nur noch Parteikarrieristen, Anwälte, Selbständige , Beamte im Parlament sind. Normale Arbeitnehmer können sich eine Wahlkampf weder zeitlich noch monetär leisten. Müntefering hatte zwar mal gearbeitet, aber er kam über die IG Metall in Amt & Würden. Und bei Rentnern verlor selbst Münte jegliches Augenmaß. Den späten Renteneintritt und das Absenken des Rentenniveaus ist Müntes Werk. Franz Müntefering, der damals als Bundesminister für Arbeit… Mehr

Maja Schneider
3 Jahre her

Ein sehr aufschlussreiche Beitrag, nur leider wird auch überdeutlich, dass wir von diesen Merkmalen, die einen gute Politiker auszeichnen, unendlich weit entfernt sind, sie sind nicht einmal mehr in Sichtweite. Leidenschaft und Verantwortungsgefühl scheint es nur zu geben hinsichtlich des eigenen Wohlergehens und der Karriere, Augenmaß ist zu einem Fremdwort verkommen, dafür gibt es in den letzten Jahren genügend Beispiele, angefangen beim Ausstieg aus der Kernkraft, über die Migrationspolitik bis hin zur Coronapanik und dem Rassismuswahn, hier zählt nur Haltung und der deutsche Hochsitz der Moral, Menschen mit Augenmaß sind nicht erwünscht.

EinBuerger
3 Jahre her

Das Wort zum Sonntag von Pastoren mit gesichertem Gehalt bis zum Tode.
In Wahrheit geht es um Geld, Geld und Geld. Und um Netzwerke, um noch mehr Geld zu bekommen. Das ist der Sinn der Parteien, der Politik und der „Demokratie“.

Alfonso
3 Jahre her

Ein Politiker braucht die Eigenschaft „Verantwortungsgefühl“.

Schön, wenn jemand in seinem Berufsleben nur „Verantwortungsgefühl“ braucht.
Besser wäre es, wenn Politiker auch Verantwortung für ihr Tun übernehmen müssten, dann würden sie auch verantwortungsvoll handeln.

Verantwortung übernehmen hat zwangsweise zur Folge, im Schadensfalls für verantwortungsloses Handeln schadensersatzpflichtig zu sein. Das trifft jedoch auf Politiker nicht zu. Insofern sind Politiker in der glücklichen Lage, verantwortungslos zu sein. Entsprechend handeln sie dann natürlich auch.

Diese Verantwortungslosigkeit lässt sich allerdings nicht mit noch so schönen „Verantwortungsgefühlen“ ausgleichen.

Gottfried
3 Jahre her

Die Abgeordneten vertreten in erster Linie nicht die, die sie gewählt haben, sondern nur das, was ihnen die Partei vorgibt. Wer aus der Deckung kommt, weil er eine andere Meinung vertritt, ist schnell einen Kopf kürzer oder anders gesagt, politisch erledigt. Einige wenige wie der Bosbach werden als Hofnarren geduldet. Es würde sich in unserem Politbetrieb nur das was ändern, wenn wir die Unabhängigkeit der Abgeordneten stärken würden. Eine Sache, die hier schnell helfen würde, wäre, wenn alle Abstimmungen geheim erfolgen würden. Die Abgeordneten könnten dann ohne Angst vor Repressionen so abstimmen, wie sie es für richtig halten und die… Mehr

Nibelung
3 Jahre her

Es menschelt in allen Ecken, wo man hinblickt. Der gute Mensch spricht vielleicht weniger und handelt fürsorglich und der andere ist nur auf eigene Vorteile bedacht, was ja auch in Ordnung ist, solange es das andere nicht überwiegt. Die Verlogenheit ist allerdings keine Erfindung der Neuzeit, schon mein Vater, ein Mann der Presse hat in den fünfziger und sechziger Jahren Politik und Wirtschaft in ihren abweichenden Verhaltensmustern in Bezug auf Seriosität und Ehrlichkeit gegeiselt und das täglich beim Mittag -und Abendessen, mit endlosen Monologen über die verkommene Gesellschaft, insbesondere auch im regionalen Bereich gesprochen. Das ging sogar soweit, daß damals… Mehr

teanopos
3 Jahre her

es ist bereits zu spät,
das bestehende politische Personal, bzw. die Regierung ist bereits derart korumpiert dass dieses gar mit Freude den gemein dummen Bürger gutheißt bzw. gar fördert. Siehe Bildungspolitik.
Dumme Menschen lassen sich gerne beherschen.
Intelligente Bürger sind eine Gefahr für all die Nichtskönner und Taugenichtse in Berlin.

Gisela Fimiani
3 Jahre her

Danke, Herr Metzger, für einen erhellenden Beitrag , dem jeder aufrichtige Demokrat zustimmen wird. Auch ist Ihrer Auffassung, dass jeder Bürger Verantwortung für das Gemeinwohl trägt, zuzustimmen. Dennoch gebe ich mit Karl Popper etwas zu bedenken. Er sagt: „Ich glaube, daß wir zu gut sind und zu dumm. Wir werden zu leicht von Theorien beeindruckt, die direkt oder indirekt an unsere Moral appellieren, und wir stehen diesen Theorien nicht hinreichend kritisch gegenüber; wir sind ihnen intellektuell nicht gewachsen und werden ihre gutwilligen und opferbereiten Opfer.“ Daraus folgt, dass den (akademischen) Intellektuellen eine besondere Verantwortung zukommt. Sie nehmen sie nicht wahr,… Mehr

Vogelfrei
3 Jahre her
Antworten an  Gisela Fimiani

Die Intellektuellen und Akademiker sind in besonderer Weise anfällig für Ideologien, oder für „Haltung“, wenn es für ein gewisses theoretisches Niveau nicht mehr reicht.
Erfrischenderweise werden mancherorts sogenannte „Populisten“ gewählt, die sich oft als erstaunlich resistent gegen dis die gerade in Mode befindlichen Denkmuster erweisen. Also sollte man sie eher Pragmatiker oder Volkstribunen nennen. In Deutschland sind solche Leute dünn gesät.

Reimund Gretz
3 Jahre her

#RealistenVernunftbürgerwehrensich Man muss die Systematik, die dahinter steckt, erkennen lernen! Spalte und herrsche zum eigenen Vorteil! Nehmt Ihnen die Macht und sie werden aufhören über Euch zu bestimmen!!! WIR MÜSSEN ÜBER UNS SELBST BESTIMMEN UND DÜRFEN ES NICHT LÄNGER PARTEIEN ÜBERLASSEN!!!! Der Mensch ist das Wesen mit den niedrigsten Instinkten auf dieser Welt, wenn es zu seinem Vorteil ist! Wer Phrasendrescher, Geringqualifizierte, Studienabbrecher, Ideologen, Lobbyisten, Absahner usw. zu seinen Interessensvertretern wählt hat nicht verstanden, dass ER/SIE… selbst das Problem ist! Entweder das wird erkannt, oder ihr werdet weiter mit den Folgen leben müssen! Direkte Demokratie oder ewig Untertan! Ihr müsst… Mehr

Ananda
3 Jahre her

„Denn für das Gemeinwohl sind nicht exklusiv der anonyme Staat zuständig oder gar die Politik, sondern wir Bürger, die sich füreinander einsetzen: in der Familie, in der Nachbarschaft, in Vereinen und Organisationen, am Arbeitsplatz.“ Ach „die Politik“ führt sich auf als wäre der Bürger eine aufsässige Zumutung, die nun mal gebraucht wird um die ganzen Phantasieprojekte zu finanzieren, die sich irgendwelche kompetenzlosen Welt“verbesserer“ ausgedacht haben. Die Politiker spalten die Gesellschaft indem sie von linker Gewalt nicht genug bekommen können und den bei Verstand gebliebenen Bürger als Pack oder Nazi beschimpfen. Die Versuche dem Bürger per „Gesetze“ , plumpen Manipulationen und… Mehr