Der Westen im Stresstest

Der Glaube der EU-Unkritischen auf noch mehr EU als Lösungspfad führt ebenso in eine Sackgasse wie der Glaube, dass im alten Nationalstaat das Heil liegt. Vielfalt braucht gerade auch die Struktur des Politischen mit einem Maximum in den Händen der Bürgergesellschaft selbst.

Echte Sozialisten sind davon überzeugt, dass die Idee des Sozialismus die einzig wahre ist. Logisch, sonst wären sie ja keine Sozialisten (mehr). Dass die bisherigen sozialistischen Staaten keine waren, jedenfalls keine tatsächlichen, gehört zu diesem Befund. Ob Sie und ich diese Sicht der Dinge teilen, spielt keine Rolle: In sich ist die Sicht der Sozialisten konsistent.

Übrigbleiben ist kein Sieg

Als um 1990 der Eiserne Vorhang fiel, setzte sich in den positiv wie negativ paralysierten Köpfen ein Irrtum fest, der immer noch lebt: Der Kapitalismus – der Westen – hat gewonnen, der Kommunismus, der Sozialismus – der Osten – hat verloren. Leute, die wie ich sagen, der Westen hat 1990 gar nicht gewonnen, er ist nur übrig geblieben, als der Osten implodierte, fanden kein Gehör.

Für die Linken im Westen war 1990 der Schock total. Geistig gelähmt sahen sie zu, wie ohne jede Selbstkritik jene, die übrig geblieben waren, das, was sie bis dahin in ihrer politischen Hemisphäre errichtet hatten, allen überstülpten, die der anderen politischen Hemisphäre angehört hatten. Politisch-wirtschaftlich wurden die zwei deutschen Teilstaaten nicht „wiedervereinigt“, das DDR-Territorium – vorübergehend Beitrittsgebiet genannt – wurde der Bundesrepublik angeschlossen. Ich vergesse nie, wie verständnislos mich der damalige FDP-Vorsitzende Klaus Kinkel ansah, als ich ihm sagte, das ist die Stunde der Liberalen: Jetzt das etatistische System Bundesrepublik nüchtern und gründlich auf den Prüfstand, alles fort, was die Freiheit durch Herrschaft des Rechts, vor allem auch in Wirtschaft und Gesellschaft knebelt.

Doch das war kein deutsches Thema allein. Westeuropa und auch Nordamerika hatten sich in falscher Konkurrenz zum Sozialismus des Ostens selbst sehr weit sozialistisch-sozialdemokratisch, etatistisch-protektionistisch organisiert, als es mit den Ideen des Liberalismus, offener Gesellschaften, Marktwirtschaft und Kapitalismus vereinbar war. „Dritte Wege“ waren überall im Westen gesucht und gefunden worden, in denen der Staat mächtige Interessen protegiert, statt die Herrschaft des Rechts zu gewährleisten. Mit dem schnellen Ausbau der europäischen Institutionen bis hin zur EU fand der Nationalstaat als Agentur mächtiger Interessen von Konzernen, Gewerkschaften und anderen Großorganisationen nicht seinen Gegenpart, sondern seine Ergänzung. Nur noch sehr wenige duchschauen das komplizierte Machtgeflecht, das da im Verein mit der UN und den anderen internationalen Institutionen enstanden ist und als permanente Zusammenkünfte undurchschaubar die Welt regiert. Nach dem vergessenen Bonmot des vergessenen Walter Scheel: Alle wirklich wichtigen Dinge werden ausnahmslos in Gremien entschieden, die es nicht gibt.

Das Missverständnis von 1990

25 Jahre später besichtigen wir die Folgen des Missverständnisses von 1990: Eine Herrschaftsschicht, die sich mit Siebenmeilenstiefeln von denen entfernt hat und weiter entfernt, die man je nach politischem Geschmack Volk, Nation, Bevölkerung oder Bürger nennt. Egal, wo wir hinschauen in diesen Tagen, die Symptome sind unübersehbar. Als ewig angesehene Ordnungen sind schon zerbrochen oder zeigen unübersehbare Risse: der Zerfall der Sowjetunion, das gewaltsame Auseinanderbrechen Jugoslawiens, die einvernehmliche Trennung von Tschechien und Slowakien, der Dauer-Krisenherd Belgien, der ganze Nahe Osten im Krisen-Modus, Russlands Versuch, verlorenen Territorien zurückzuholen oder unter Kontrolle zu bringen, und nun die mögliche Auflösung Britanniens durch seine vier Nationen. Was vordergründig wie Nationalismus aussieht und auch vielfach in seiner Gestalt auftritt, hat für mich als gemeinsamen Kern die Entfremdung der politischen Eliten von ihren Bürgern.

Wir sind Teilnehmer und Zeugen eines historischen Prozesses zugleich. Fest steht im Moment nur, das nichts bleibt, wie es ist. Fest steht für mich auch, dass in der Rückkehr zu früheren Zuständen nirgendwo die Lösung zu finden ist. Je länger desto mehr bin ich sicher, für die Dinge des Zusammenlebens braucht es neue Formen der Ordnung, radikal dezentrale: Formen, die regionalen, nationalen und supranationalen politischen Ebenen das meiste an Macht abnimmt, das sie sich in der Bevormundung der Bürger unter der Überschrift Effizienz angeeignet und zu immer größeren und ineffizienteren Bürokratien entwickelt haben, zu Wasserköpfen, die sich mit sich selbst beschäftigen – und die Bürger, für die sie da sein sollen, längst aus dem Blick verloren haben. Der Glaube der EU-Unkritischen auf noch mehr EU als Lösungspfad ist ebenso eine Sackgasse wie der Glaube ans zurück zum alten Nationalstaat. Vielfalt braucht gerade auch die Struktur des Politischen mit einem Maximum in den Händen der Bürgergesellschaft selbst.

Wir stehen noch nicht einmal am Beginn dieses Prozesses, aber er ist unabweisbar. Davon in mehr Beiträgen in den kommenden Wochen und Monaten.

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