Éric Ciotti: Ein Mann der inneren Sicherheit und der kulturellen Identität

Éric Ciotti ist der neue Vorsitzende der konservativen Republikaner in Frankreich. Er will weniger wackelnde Parteifreunde halten, als frühere Wähler zurückgewinnen. Das geht nach Ciottis Überzeugung nur mit klarer Distanz zu Macron und seiner Minderheitsregierung.

IMAGO / IP3press
Éric Ciotti zum Vorsitzenden der Partei Les Republicains LR gewählt, 11.12.2022, Paris, Frankreich

Mit 53,7 Prozent, also ziemlich knapp, wurde Éric Ciotti an die Spitze der konservativen Républicains (LR) gewählt. Der 57-Jährige ist dennoch zufrieden mit dem Sieg, will die Partei kraftvoll führen und zugleich „unsere politische Familie“ zusammenführen. Er konnte vor allem dank der Themen innere Sicherheit und kulturelle Identität an Profil gewinnen.

Ciotti Konkurrenten waren: der junge Sozial-Konservative Aurélien Pradié und der liberal-konservative Gegner eines EU-Föderalismus Bruno Retailleau, der auch gegen die Geltung von supranationalen Gerichtsurteilen opponiert. Insgesamt könnte man das Votum der Parteimitglieder als Abstimmung über die wichtigsten Fragen der Zeit auffassen. Ciotti hätte auch und vor allem durch seine Themen gewonnen, die sich im Übrigen nicht ausschließen müssen mit denen seiner Konkurrenten. Innere Sicherheit und kulturelle Identität waren offenbar, was die konservativen Parteimitglieder derzeit am meisten bewegt.

Ganz unsinnig ist das nicht: Erst am Samstag war es erneut zu Ausschreitungen von Marokkanern nach dem Spiel gegen Portugal gekommen, für den heutigen Mittwochabend, wenn die französisches Mannschaft gegen die marokkanische spielt, werden noch größere befürchtet. Der Polizeireporter des Fernsehsenders CNews fasst zusammen: „Motorrad-Rodeos“ und Angriffe auf Fahrzeuge, Busse und eine Reitanlage in Fontainebleau; in Vaulx-en-Velin in der Lyoner Banlieue attackierten 200 Fußballfans zwei öffentliche Busse und die herbeieilenden Polizisten; in der Mittelstadt Chambéry wurden zwei Autos angezündet; in Roubaix im Norden des Landes wurden Polizisten von rund 50 Personen mit Feuerwerkskörpern angegriffen; in Lille wurden 16 Polizisten durch Feuerwerkskörper verletzt; in Straßburg wurden Autos angegriffen und Barrieren umgerannt. Das dürfte nur ein Ausschnitt sein. Besonders umlagert waren zuletzt die Champs-Élysées, die so laut einigen zu gewissen Zeiten zu einem Ort des Unrechts wurden. Éric Zemmour sprach von einem Gefühl der „Enteignung“ bei den Franzosen. Die Bürgermeisterin des achten Pariser Arrondissements verlangt aktuell eine Sperrung der Champs-Élysées für das Spiel Frankreich–Marokko an diesem Mittwoch.

Ciotti hält nicht mit Kritik am politischen Islam und an der Einwanderung zurück. So sagte er letztes Jahr: „Für mich ist die Sicherheit die erste unserer Freiheiten, aber heute bin ich besorgt. In Frankreich gibt es Hunderte von Stadtvierteln, die von Islamisten beherrscht werden, 4000 Drogenverkaufsstellen, und jedes Jahr kommen fast 500.000 Ausländer ins Land.“ Zum islamischen Kopftuch schrieb er im vergangenen November: „Wenn man nach Frankreich kommt, hat man wie die Franzosen zu leben.“ Damit verband Ciotti die Forderung nach einem Verbot des Schleiers im öffentlichen Dienst, für Minderjährige und Schulbegleiter.

Die jüdisch-christlichen Wurzeln Frankreichs möchte er in der Verfassung festschreiben. Frankreich sei kein multikulturelles Land und solle nie eines werden. Die abgekapselten Parallelgesellschaften und der politische Islam seien zu bekämpfen. Er wandte sich auch gegen den Gruß „Einen phantastischen Dezember“ (statt „Frohe Weihnachten“), der von einer grünen Bürgermeisterin in Besançon in Leuchtschrift angebracht worden war.

Kein Abkommen mit irgendjemandem

Stéphane Séjourné, der Fraktionsvorsitzende der Renew-Fraktion im EU-Parlament, kritisierte die Wahl Ciottis umgehend in scharfem Ton: Marine Le Pen und Éric Zemmour gewönnen damit „ein Trittbrett an der Spitze der Rechten“ – auch wenn längst nicht mehr klar ist, dass der Parteivorsitzende der konservativen Républicains dieses rechte Lager in Frankreich anführt. Le Pens Rassemblement National (RN) hat bei den letzten Wahlen fast 50 Prozent mehr Sitze gewonnen als die Republikaner. Mit der Neuausrichtung der Republikaner rückt jedenfalls auch ein Regierungsabkommen von Macrons Minderheitsregierung mit den Konservativen in unerreichbare Ferne.

Ciotti will nichts dergleichen anstreben: „Es wird kein Abkommen mit wem auch immer geben.“ Macrons „Titanic“ werde er nicht betreten. Seine Partei habe „die großartigsten Seiten der Fünften Republik geschrieben“, fügte Ciotti etwas vergangenheitsselig an. Dem Macronisten Séjourné warf er vor, einen „Schiffbruch des Sowohl-als-auch“ zu erleiden: Einerseits gebe er sich den Anschein, an die Republikaner im Sinne staatspolitischer Vernunft zu appellieren, zugleich greife er sie mit großer Schärfe an. Ciotti will durch einen klaren Kurs der Unabhängigkeit von der macronistischen Regierung gewinnen und legt sich so eine alte Einstellung von Franz Josef Strauß zu: „Wenn die Rechte rechts ist, braucht es keine extreme Rechte.“

Éric Ciotti will „die Einheit und den Zusammenschluss“ in seiner Partei stärken. Doch einige haben schon den Austritt aus der traditionsreichen Partei mit gaullistischen Wurzeln angekündigt, so auch fünfzehn gewählte Politiker aus Ciottis Geburtsstadt Nizza. Ciottis Vorhaben ähnelt dabei ein wenig den Plänen von Friedrich Merz, wie er sie vor seiner Wahl zum CDU-Vorsitzenden äußerte, etwa dass er in großer Zahl Wähler von der AfD zurückgewinnen wollte.

Ciotti will vor allem die Wähler, nicht seine Parteifreunde gewinnen

Anders als in der deutschen CDU, wo sich die alten Merkel-Seilschaften sicher zu sein scheinen, dass sie den Bannerträger der Parteirechten zähmen können, verlassen die unzufriedenen Geister das Schiff von Ciotti lieber gleich. Es sind allerdings bisher wenige und eher lokale Amtsträger wie der Bürgermeister von Metz, François Grosdidier, der sich auf die gaullistischen Wurzeln der Partei und die Amtszeit Jacques Chiracs berief: „Ich verlasse Les Républicains, nicht um meinen Standort zu wechseln, sondern um ich selbst zu bleiben.“ Aber was würde wohl ein Charles de Gaulle heute zu den politischen Problemen des Landes sagen? Grosdidier hat sich noch zu keiner neuen Partei bekannt, andere wählen die liberale Horizons-Partei von Ex-Premier Édouard Philippe – so wie schon vor einem Jahr der Bürgermeister von Nizza, Christian Estrosi, der sich dergestalt an das Macron-Lager annäherte und als dessen Mitarbeiter auch Ciotti einst seine politische Karriere begonnen hatte.

Ciotti gibt sich ungerührt ob dieser Verluste, auch wenn sie ganz in seiner Nähe einschlagen, in der eigentlich leidgeprüften Stadt Nizza, die immer wieder zum Schauplatz terroristischer Attentate wurde. Ciotti will keinen der Fahrenden aufhalten, nennt die Parteiaustritte ein bloßes „Zusammenzucken“. Stattdessen gibt er sich optimistisch, diejenigen zurückzuholen, die in Macrons „neuer Mitte“ nicht das fanden, was sie gesucht hätten. Tatsächlich gab es schon früher Übertritte, der prominenteste ist vielleicht der Innenminister Gérald Darmanin, der einst bei den Konservativen war.

Vor allem will Ciotti aber die Wähler rechts der Mitte hinter sich vereinen, wie er gegenüber dem privaten Radiosender RTL sagte: „Meine Herausforderung besteht darin, jene 90 Prozent der Wähler zurückzugewinnen, die uns verlassen haben und die uns leider zu dem Ergebnis der vergangenen Präsidentschaftswahlen geführt haben. Ich möchte diejenigen zurückholen, die wir enttäuscht haben. Wir müssen die Wähler der Rechten durch Entschlossenheit und Klarheit zurückgewinnen.“ Rechts – das ist in Frankreich ganz selbstverständlich der Teil des politischen Spektrums, der der Linken gegenüberliegt, also ein Gemisch aus Konservativen, sozial denkenden Popularen, Wirtschaftsliberalen und Vorkämpfern von Nation und kultureller Identität. Ob Ciotti oder irgendjemand sonst diesen Wählerpool bald einen kann, bleibt freilich offen. Auch Éric Zemmour war mit dieser Ambition angetreten und schuf doch nur eine weitere Partei im politischen Spektrum.

Offene Fragen zur Sach- und Bündnispolitik des neuen Parteichefs

Sachpolitisch kündigt Ciotti eine verantwortungsvolle Politik an, zeigt sich auch offen für die von Macron geplante Rentenreform, soweit sie „das System retten kann“. In dem Fall werde man, wie bisher auch, durch Änderungsvorschläge in Nationalversammlung und Senat eigenes beitragen.

Ciotti sagte in verklärender Weise, aber wiederum ohne Beweise in der Hand zu haben: „Wir sind eine Partei, die dazu berufen ist, Frankreich zu regieren. Wir sind die Erben des Generals de Gaulle. Wir werden immer eine verantwortungsvolle Politik betreiben.“ Man darf nach all den Bekundungen annehmen, dass der neue LR-Vorsitzende die absolute Mehrheit für seine geschwächte Partei anstrebt, was derzeit kaum denkbar scheint. Das Wahlbündnis aus LR und UDI lag bei den Parlamentswahlen bei 11,3 Prozent Stimmanteil und konnte sich 10,7 Prozent der Sitze sichern. Aber vielleicht wird Ciotti sich nach einer Anstandsfrist doch dazu verstehen, Wahlbündnisse mit anderen einzugehen, die in Frankreich umso nötiger werden, je gespaltener sich die Parteienlandschaft darstellt.

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Kommentare ( 8 )

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fatherted
1 Jahr her

Die Woke-Mehrheit der Wähler wird einen ruck nach rechts nicht zulassen. Am Ende wird wieder gejammert und geklagt, dass man sich mit Macron vereint gegen rechts stellen müsse…wie immer. Bei uns kommt der Wähler erst gar nicht in den Genuss mehrere Parteien rechts der Mitte zu haben….und die stagnieren unter 20%….was bedeutet….80% für die anderen…egal welche Koalition.

Richard28
1 Jahr her

Wenn Herr Ciotti konservativ ist, was ist denn Frau Marine Le Pen ?
Gehört sie nicht auch zum konservativen Lager ?

Richard Z
1 Jahr her

Die Franzosen haben wenigstens Herrn Ciotti, die Italiener, die Osteuropäer und viele andere haben zumindest eine Stimme die Ihre tatsächlichen Probleme benennt. Ob den Worten wirklich Taten und Veränderungen folgen, das wird sich zeigen. Wir schauen insbesondere gespannt auf Frau Meloni. So und jetzt stellt unsere konservative „Gallionsfigur“ Friedrich Merz und die Unionsparteien daneben. Merz der Wähler von der AFD zurückgewinnen wollte. Lächerlich, das mit dem Annähern an das Rotgrüne Lager wird nicht funktionieren. Ich denke da spüren alle vernünftigen und anständigen Menschen in unserem Land eine Art Ohnmacht. Es wird noch lange so weiter gehen im „besten Deutschland aller… Mehr

RMPetersen
1 Jahr her

Frankreich sei kein multikulturelles Land und solle nie eines werden.“

Zu spät.

Und wenn er es nicht schafft, wirklich die ganze Rechte zu vereinen, auch im Parlament mit Bündnissen, dann wird es mit +500.000 mehr Problemfälle jährlich so weiter gehen.

imapact
1 Jahr her

Frankreich hat es, ebenso wie Italien, besser als Deutschland. In den ersteren beiden Ländern gibt es mehrere (rechts-)konservative Parteien, die dem linken/woken Lager Paroli bieten können, in Deutschland gibt es im Grunde nur noch eine (rechts-)konservative Partei, die jedoch völlig von echter politischer Teilhabe ausgegrenzt ist. Die Union steht ideologisch mit zumindest einem Bein im grünen Lager und ist überdies aufgrund ihrer Abgrenzung zur AfD stets auf einen linken Koalitionspartner angewiesen. Eine politische Wende ist unter diesen Voraussetzungen nicht möglich. Solange das wichtigste Ziel von Merz und seiner Merkelunion es ist, „die AfD zu halbieren“, braucht man auf diesen Mann… Mehr

Montesquieu
1 Jahr her

Ciotti kommt – wie u. a. auch Sarkozy und Macron – aus den elitären Kaderschmieden des gesellschaftlichen Juste Milieus Frankreichs.
Von ihm zu erhoffen, er würde grundsätzlich vom globalistischen Konsens der europäischen Eliten abweichende Positionen durchzusetzen versuchen, ist naiv. Ciotti ist kontrollierte Opposition, wie auch die AfD {ich weiß, das hören hier viele nicht gern} .
Auf Erlösung durch irgendeine Partei zu hoffen, erheitert mich.

Last edited 1 Jahr her by Montesquieu
luxlimbus
1 Jahr her
Antworten an  Montesquieu

Zu ihrem letzten Satz:
Wenn das Verderben und Zerstören durch bestimmte Parteien bittere Realität ist, wäre es töricht diese gewähren zu lassen!

Roland Mueller
1 Jahr her

Der Herr Macron wollte mit seinem Europa-Geschwätz lediglich französische Probleme mit dem Geld der Steuerzahler in den anderen EU-Mitgliedsländern lösen, weil er die Auseinandersetzung mit seinen Widersachern in Frankreich scheut wie der Teufel das Weihwasser. Der Plan ist aber auf der ganzen Linie gescheitert, weil auch die anderen EU-Mitglieder über beide Ohren verschuldet sind. Echte Reformen von Macron sind gleich Fehlanzeige und nun verlassen die ehemaligen Freunde das sinkende Schiff.