Marginalisierung first, Versenken second

Es wäre im besten Deutschland Angela Merkels eigentlich nicht besonders schwer, Opposition zu sein. Trotzdem schafft es niemand im Bundestag. Am wenigsten die einzige Partei, die diese Rolle 2017 bewusst gewählt hat: die FDP.

imago images / Christian Spicker
Vor einiger Zeit hatte ich mit einem nicht unbekannten Unionspolitiker ein Gespräch. Eigentlich handelte es sich um eine Gesamtdarstellung der Bundespolitik in Gestalt eines Monologs. Er begann mit der ziellosen Migrationspolitik, den unterlassenen Abschiebungen, dem Kontrollverlust, der ab und zu auffällt, wenn die Polizei einen Migranten mit vielen Identitäten festnimmt, es ging weiter mit dem Zustand der Bundeswehr und endete mit der Praxis, für alles mögliche „europäische” Lösungen zu versprechen, von denen jeder weiß, dass sie nie kommen. Der Vortrag endete mit dem Satz: „Ich dürfte nicht Oppositionsführer in Deutschland sein.“

In die Situation kam der betreffende Politiker nie. Das Gespräch – wie gesagt, schon eine Weile her, aber die Lage besteht ja unverändert – führt zu dem Punkt: Wer organisiert eigentlich die Opposition gegen die Bundesregierung? Nicht nur der Posten des Oppositionsführers ist unbesetzt, sondern das gesamte in einer Demokratie nicht ganz unwichtige Feld.

In der größten Oppositionspartei, der AfD, kämpft gerade der Teil Jörg Meuthens gegen den so genannten Flügel und umgekehrt, es ist längst nicht klar, wer und was am Ende übrig bleibt. In Niedersachsen zerfällt gerade die AfD-Landtagsfraktion. Bis auf weiteres verbraucht die Truppe gerade ihre gesamte Energie für ihren Gärprozess.

Die Grünen regieren faktisch schon länger mit. In den Talkshows, also dort, wo die eigentlichen politischen Reden gehalten werden, stellen sie eine stabile Mehrheit. Ihr Geschäft sehen sie darin, die Bundesregierung zu mehr von dem Gleichen anzutreiben, also zu mehr Regulierung der Wirtschaft, besonders der Automobilindustrie, mehr Aufnahme von Migranten aus Griechenland und mehr Geldumverteilung in der EU.

Die Linkspartei wiederum steht nicht in spezieller Opposition zur Bundesregierung, sondern zur Bundesrepublik, solange sie nicht bis in alle Winkel zum sozialistischen Staat umgestaltet ist. Auf ihrer von ARD und ZDF freundlich begleiteten Strategiekonferenz in Kassel am Anfang des Jahres ging es nicht nur um das Erschießen beziehungsweise Zwangsarbeitenlassen der Reichen; ein Mitglied ordnete dort auch die Grünen konsequent als halbrechte Partei ein. Demnächst stehen mit Janine Wissler und Susanne Hennig-Wellsow eine Neotrotzkistin und eine Neostalinistin an der Linksparteispitze.

Die eine Partei also kann keine Opposition betreiben, die nächste braucht es nicht, und für die dritte stellt Opposition nur eine lästige Phase vor der Machtergreifung dar.

Es bleibt eine einzige Kraft, die nicht nur opponieren könnte, sondern sich diese Rolle im Jahr 2017 auch in vollem Bewusstsein suchte. Als Christian Lindner damals die Jamaika-Sondierungsverhandlungen mit der Feststellung beendet, es sei besser, nicht zu regieren als falsch, hatte er seinen besten Moment. Wer sich die FDP-Spitze und die Bundestagsfraktion im Spätsommer 2020 ansieht, der steht vor der Frage, ob es tatsächlich besser ist, nicht zu opponieren statt schlecht zu opponieren. Beziehungsweise, ob der Unterschied eine Rolle spielt.

Eine Legende lautet seit 2017, Lindner habe damals die Koalitionsverhandlungen platzen lassen. Das stimmt schon deshalb nicht, weil es nie zu Koalitionsverhandlungen zwischen Union, Grünen und Liberalen kam, sondern nur zu einer sehr ausgedehnten Sondierung, vor der jede der vier Parteien erklärte, sie wollte feststellen, ob die Gemeinsamkeiten reichen, und das Ergebnis sei offen.

Dann zogen sich die Gespräche sehr viel länger hin als geplant, es blieben am Ende noch 337 Punkte entweder ganz offen, oder es standen nur Überschriften im Papier, zu denen die Details fehlten. Manche Streitpunkte muten drei Jahre später merkwürdig an, etwa, dass selbst die Grünen damals nicht den kompletten Kohleausstieg verlangten, sondern nur eine Kraftwerkstilllegung mit der Kapazität von insgesamt sieben Gigawatt – was Armin Laschet und damit die Union nach längerem Hin und her akzeptierte, und damit auch die FDP. Lindner bestand darauf, den damals ausgesetzten Familiennachzug für Migranten zu verlängern, und musste zusehen, dass sich die CSU hier kompromissbereit zeigte. Die Freidemokraten glaubten, sich bei der Union unterhaken zu können, stellten aber fest, dass es vor allem eine sehr starke Achse zwischen Merkel und den Grünen gab. Vor allem Merkel und Kauder behandelten die FDP an vielen Stellen wie eine Unterabteilung der Union.

In der Nacht vom Donnerstag, dem 16. November zum 17. blieben die Unterhändler bis zur Erschöpfung wach, um die Streitpunkte wenigstens zu reduzieren. Ein Bundesminister legte sich in den frühen Morgenstunden auf den Teppich, um den Rücken zu entspannen. Am Freitag vor dem Abbruch sah es nach einer Wende im letzten Augenblick aus. Es kam – immer noch mit vielen Leerstellen – ein Kompromisspapier zustande. Es war der Moment, an dem Wolfgang Kubicki sagte, es sei bei ihm nur ein Gefühl, kein wirkliches Urteil, aber er glaube jetzt, es könnte doch etwas werden. An dem vorletzten Tag der Verhandlungen meldeten die Grünen bei mehreren Themen Bedenken an. In der Frage sogenannter europäischer Finanzierungsinstrumente, also eines EU-Haushalts, wollte Merkel selbst die Formulierung ändern, auf die sich alle Unterhändler schon geeinigt hatten, nämlich den Ausschluss neuer Transfermechanismen.

Die FDP war mit dem Versprechen in den Wahlkampf gezogen, selbst den ESM wieder zurückzustutzen und auf keinen Fall, wie sich Lindner ausdrückte, eine neue deutsche Geldpipeline in die bedürftigen Länder zuzulassen. Merkel wünschte dagegen weniger Festlegung, sondern mehr Spielraum. Sie höchstpersönlich schnürte das Paket auf, das zwar schon von sich aus nicht richtig zusammenhielt, das aber die erschöpften Verhandler wahrscheinlich akzeptiert hätten. Spätestens in diesen Stunden wurde Lindner und seine Truppe klar, dass sich die Kanzlerin in jedem Konflikt über die Liberalen hinweg mit den Grünen verständigt und die Themen medial so gespielt hätte, dass die Freidemokraten entweder als Europafeinde dagestanden hätten (bei neuen Geldumverteilungen), als hartherzig (bei der Migration) oder als Marktradikale (bei jeder kommenden Wirtschaftsregulierung). Am Sonntag, den 19. November 2017 kurz vor Mitternacht erklärte Lindner öffentlich das Scheitern der Verhandlungen mit der Formel, es sei besser, nicht als falsch zu regieren.

Damit legte er die Grundlage für einen runderneuerten Hass des linken Milieus auf seine Partei. Zum einen bei den Grünen, die ihre Kabinettsposten schon verteilt hatten, zweitens bei dem großen linken Flügel der SPD, die nun doch in eine Koalition gezwungen wurde, drittens bei den Hauptstadtjournalisten, die ihren Lesern versichert hatten, am Ende würde es trotz des Verhandlungsgeruckels natürlich das Jamaika-Bündnis geben. Und bei allen maßgeblichen Leuten in der Union von Merkel bis Altmaier, die er um deren Wunschkoalition mit den Grünen brachte. Die Liste der Gegner und Feinde war also beachtlich. Aber aus allen Streitpunkten von der Energiepolitik bis Europa ergab sich das bürgerliche Oppositionsprogramm eigentlich wie von selbst.

Mit seiner Entscheidung setzte Lindner allerdings auch einen Standard, den er lange Zeit möglicherweise selbst nicht überblickte: Wer mit einem Wahlergebnis von 10,7 Prozent nicht in eine Koalition geht, weil er dort eine bürgerliche Politik nicht ausreichend durchzusetzten meint, der kann 2021 schlecht erklären, dass er mit der Hälfte der damaligen Stärke bereit ist, noch sehr viel mehr Kröten zu schlucken, als sie 2017 an Merkels Büffet angeboten wurden. Wahrscheinlich kommt der Chef der FDP, wer immer dann die Position besetzt, im nächsten Jahr um diese Entscheidung herum. Zurzeit stehen die Liberalen demoskopisch bundesweit bei fünf Prozent mit Tendenz nach unten. In Berlin finden die Wahlen zum Abgeordnetenhaus am gleichen Tag statt wie die Bundestagswahl. Auch hier ist der Abschied aus dem Parlament wahrscheinlich.

Noch sitzt Lindners Partei in drei von 16 Landesregierungen und in neun von 16 Landtagen. Aber selbst der größte Optimist in der FDP glaubt nicht, dass dieser Boden zum Überleben in der APO reicht, wenn die Partei zum zweiten Mal in acht Jahren aus dem Bundestag fallen sollte. Bleibt die Truppe außerparlamentarisch, dann versiegen nach vier Jahren übrigens auch die staatlichen Gelder für die Friedrich-Naumann-Stiftung.

Im Jahr 2020 müsste sich eine bürgerliche Opposition eigentlich nicht um Themenbeschaffung kümmern. Am 11. September verkündete Bundeswirtschaftsminister Peter Altmaier den Aufbruch in die Planwirtschaft mit einem 20-Punkte-Papier, das nicht nur die „Klimaneutralität” Deutschlands bis 2050 vorsieht, sondern auch jährliche Teilpläne zur C02-Reduzierung, außerdem die Gründung von mehreren Behörden, die Scoreboard, Zertifizierungsstelle für Klimaneutralität, Haus der Energiewende und ‚Agentur Climate global’ heißen sollen.

Die Geldverteilungsmaschine EEG, die selbst die CDU einmal abschaffen wollte, soll zum „europäischen Instrument“ umgestaltet werden. Altmaier als Spätnachfolger von Ludwig Erhard begründet die neue Politik der ökonomischen Planung und Steuerung übrigens nicht nur im tiefsten Konjunktureinbruch der Nachkriegszeit, sondern auch genau 63 Jahre nach der ersten Ausgabe von „Wohlstand für alle“. Eine ähnliche planwirtschaftliche Wende leitete Ursula von der Leyen zeitgleich für die EU-Ebene ein. Oppositionell wäre ein Politiker in Deutschland also schon, wenn er kein Sozialist ist.

Gesellschaftspolitisch kämpft die Bundesregierung gerade für eine Verschärfung des illiberalen Netzwerkdurchsetzungsgesetzes, eine Verschärfung, die sowohl Juristen der Bundestagsverwaltung als auch des Bundespräsidialamts für verfassungswidrig halten.

Während die Parteien in Berlin debattieren, wie viele Migranten sie in Deutschland aufnehmen sollten, müssten eigentlich gut 250.000 Migranten aus Deutschland abgeschoben werden, weil sie kein Aufenthaltsrecht besitzen. In der Hauptstadt plant der Senat, nachdem er mit der Zerschlagung der Marktwirtschaft auf dem Wohnungssektor durch ist, eine Neufassung des Demonstrationsrechts, das dann faktisch nur noch linke Kundgebungen erlaubt. Vorangetrieben wird dieses Projekt von einem Senator, der die Frage nach eventuellen Kontakten zur Staatssicherheit nicht beantwortet.

Dass das alles passiert, liegt auch an der Leerstelle, die sich dort auftut, wo eigentlich die Opposition trommeln müsste.

Der neue Generalsekretär der FDP Volker Wissing gab kurz vor seiner Wahl in einer Illustrierten ein Interview, dessen Überschrift lautete: „Der Staat kann vieles besser als der Markt“. Nämlich „einen Ordnungsrahmen setzen, um Menschen dort zur Verantwortung zu zwingen, wo sie diese nicht freiwillig übernehmen“, und „soziale Gerechtigkeit herstellen“.

Beides verlangt kein Mensch vom Markt. Und zum Ordnungsrahmen würde es gehören, Recht durchzusetzen, wenn Leute nicht freiwillig gehen.

Zu den Migranten von Moria, die ihre Übersiedlung mit NGOs und Brandstiftung beschleunigen wollen, fällt Christian Lindner der Ruf nach einer „europäischen Lösung“ ein, die weder die anderen EU-Ländern noch die Migranten wollen.

Wenn Lindner 2020 kaum anders klingt als Merkel 2015 – warum unterschrieb er dann nicht 2017 einen Koalitionsvertrag? Das gehört zu den Rätseln der Republik, und die Auflösung spielt eigentlich schon keine Rolle mehr.

Was die FDP statt Opposition treibt, beschreibt der neue Bundesvorsitzende der Jungliberalen Jens Teutrine, 27, in einem Gespräch mit der FAZ.
„Er spricht offen Fehler an, die seine Partei aus seiner Sicht nach dem Wiedereinzug in den Bundestag gemacht hat. Er nennt den Fall Thüringen, bestimmte Äußerungen in Richtung Fridays for Future und Personaldebatten: ‚Wir haben uns von unserer liberalen Botschaft ablenken lassen’, sagt er. ‚Das war ein Fehler.’ Und dann spreche noch der aktuelle Zeitgeist während der Pandemie den liberalen Vorstellungen entgegen, was alles verkompliziere.“

Welche liberale Botschaft?

Der aktuelle Zeitgeist von Bundesregierung und einem großen Teil der Medien weht nicht erst seit Corona antiliberal und riecht mittlerweile nach Plaste und Elaste, das stimmt soweit. Allerdings gibt es in jeder Gesellschaft Menschen, die den politisch-medial dominanten Geist gerade nicht wollen, sondern das Gegenprogramm. Das sollte liberale Politik eigentlich nicht komplizierter machen, sondern leichter. Zumal der FDP ja schon zehn Prozent der Wähler reichen würden, um zu überleben. Sie stirbt nicht am Zeitgeist, sondern daran, dass sich FDP-Politiker wie Teutrine und andere bei jeder Äußerung erst einmal für die Existenz der FDP entschuldigen, zur Buße dafür knien, dass im Februar 2020 ein FDP-Mann in Thüringen zum Ministerpräsidenten gewählt wurde, auch dafür, nicht immer freundlich zu Luisa Neubauer und Fridays for Future gewesen zu sein, und dann hoffen, anderen nach dem Schambekenntnis noch den einen oder anderen Kritikpunkt an der Regierung unterjubeln zu können.

Apropos, was ist nun seine liberale Botschaft? Sein Gespräch mit der FAZ nutzte Teutrine, dessen Studienabschluss in Sozialwissenschaften und Philosophie noch aussteht, vor allem für den Hinweis, dass er 2021 in den Bundestags möchte.

Kein Ereignis formte die heutige FDP mehr als die Reaktion auf die Wahl von Thomas Kemmerich zum Thüringer Kurzzeitministerpräsident mit Stimmen der AfD. Unvergessen, wie damals der FDP-Innenpolitiker Konstantin Kuhle per Twitter bei Kevin Kühnert um Milde bat, nachdem das Haus einer FDP-Politikerin in Mecklenburg-Vorpommern mit Steinen beworfen wurde. Den „Druck der Straße“ (Saskia Esken) sieht man den Freidemokraten und ihrem Spitzenpersonal immer noch an.

Druck kann einen Politiker auf verschiedene Weise formen. Bei Christian Lindner scheint er ähnlich wie bei einem Auto-Prototyp den Widerstandswert so lange gesenkt zu haben, bis aus ihm endgültig jener optimierte CL wurde, der jeden Luftzug über sich hinweggehen lassen kann und notfalls noch die kleinsten Angriffsflächen einklappt.

FDP-Politiker weisen immer wieder darauf in, dass sie ja das eine oder andere Liberale sagen. Es stimmt, die Partei fragt im Bundestag, ob es richtig ist, angesichts von bundesweit etwa 270 stationär behandelten Covid-19-Fällen noch von einer Epidemie von nationaler Tragweite zu sprechen. Sie verlangen die Abschaffung des Solidaritätszuschlags. Sie kritisiert Altmaiers Plan- und Verarmungspolitik. In der Lage der FDP allerdings – es geht ums Überleben – müsste sie sich auf eine Handvoll Kernbotschaften beschränken, auf ihr Kernpublikum, überhaupt auf einen Kern. Und zwar auch dann, wenn 90 Prozent im Land dieser Kern für unwichtig halten. Vielleicht scheitert das einfach daran, dass die meisten Freidemokraten nicht mehr wissen, wo dieser Kern liegt.

Der neue Generalsekretär Volker Wissing erklärte nicht nur, der Staat könne vieles besser als der Markt. Seine erste größere Auseinandersetzung führte er mit einem Hamburger CDU-Bundestagsabgeordneten, der erklärt hatte, die Einführung gendergerechter Rangbezeichnungen sei den meisten Bundeswehrangehörigen nicht so wichtig.

— Volker Wissing (@Wissing) September 11, 2020

„Ist ‚Kanzlerin’ auch #Genderwahn, @christophploss? Eine #CDU, die weibliche Dienstgrade für Genderwahn hält, verachtet unsere Soldatinnen“, twitterte Wissing. Verachtung ist vor allem deshalb ein großes Wort, weil der Widerstand gegen gegenderte Dienstbezeichnung aus der Bundeswehr selbst kam. In der „#Socialmedia Division“, der Stimme der Truppe im Netz, sprachen sich gerade Frauen in der Bundeswehr dagegen aus. „Tatsächlich kennen wir allerdings fast nur Frauen, die eine solche Änderung ablehnen“, meinte der Vorsitzende des Bundeswehrverbandes André Wüstner. Genau deshalb kassierte Verteidigungsministerin Kramp-Karrenbauer ihren Plan für die Feldwebelin auch wieder. Wissing hatte also das Antiliberalste überhaupt versucht, nämlich die Beglückung von Menschen gegen deren Willen.

Aber nicht nur die Missionierung unwilliger Frauen durch die FDP läuft, sondern auch Kritik einer anderen Partei, die gerade als Opposition ausfällt. Nach dem Mord an 10 Menschen in Hanau im Februar durch einen offenbar geistesgestörten Täter twitterte der FDP-Politiker Kuhle:

„Das Pamphlet des Täters von Hanau liest sich wie eine Rede von Gottfried Curio (AfD) im Deutschen Bundestag. Natürlich rückt die Gesamtpartei immer näher an eine Beobachtung durch den Verfassungsschutz. Alles andere wäre grob fahrlässig.“

Der Schütze unterhielt keine wie auch immer gearteten Verbindungen zur AfD. Welche Passagen aus seinem Pamphlet seiner Meinung nach Bundestagsreden der AfD ähneln, teilte Kuhle nicht mit. Die Sache mit den unterirdischen Folterzentren in den USA? Oder der Gedankensteuerung durch Geheimdienste? Das Manifest des Täters enthielt überhaupt keinen Bezug zur deutschen Politik und nur einen sehr indirekten Bezug zu Deutschland, nämlich die Erwähnung von Jürgen Klopp, dem der Schütze vorwarf, seine Gedanken gestohlen zu haben.

Auch fundamentale Regierungskritik gehört zum Portfolio der neuen FDP, zumindest dann, wenn es sich um die Regierung von Donald Trump handelt. Dann kann Außenexperte Alexander Lambsdorff auch auf rechtsstaatliche Feinheiten keine Rücksicht nehmen. Unter der Überschrift „Trump gießt Öl ins Feuer“ meinte Lambsdorff: „Der Mord an George Floyd empört Menschen in den USA und in Europa gleichermaßen. So unähnlich sind wir uns nicht. Es ist ja auch nicht so, dass es in Europa keine gewalttätigen Proteste gäbe.“
Vom Protest zum gewalttätigen Protest – vulgo Plünderungen und mehr – war es früher in der Rechtsstaatspartei noch mehr als ein Gedankenschritt. Und gegen die Polizisten, die für Floyds Tod verantwortlich gemacht werden, ermittelt die Staatsanwaltschaft nicht wegen Mord, sondern second degree murder, Tötung mit bedingtem Vorsatz, was ungefähr dem Totschlag im deutschen Recht entspricht – beziehungsweise wegen Beihilfe. Verurteilt ist noch niemand.

Ein FDP-Generalsekretär, der mitten in einer großen etatistischen Drift meint, der Staat könne vieles besser als der Markt, und dann Gebiete nennt, auf denen gar keine Konkurrenz zwischen Staat und Markt besteht, erzeugt sicherlich mediale Aufmerksamkeit. Wenn er sich dann noch für Genderpolitik in einer Organisation einsetzt, in der selbst die Frauen sie gar nicht wollen, macht er sich richtig bekannt.

Die Frage ist nur: wählt deshalb auch nur ein Einziger FDP? Wer als Politiker nach den Morden unhaltbare Behauptungen gegen die AfD twittert oder aus Aufmerksamkeitsgeheische vom Mord spricht, bevor es überhaupt einen Prozess gab, erhält wahrscheinlich Lob von hundert Berliner Hauptstadtjournalisten, von denen sehr wahrscheinlich neunzig nicht für die FDP stimmen.

Gastronomen, die wegen der Corona-Politik auf die Pleite zusteuern, wählen aus den oben genannten Gründen nicht Freidemokraten, haben aber auch sonst wenig Motive dafür. Daran ändert vermutlich auch der Vorstoß nicht, das Wahlalter auf 16 zu senken (das Jugendstrafrecht aber nicht entsprechend zu ändern):

Es bräuchte noch einmal eine eigene Tiefenanalyse, warum vormals bürgerliche Organisationen ihr Heil darin sehen, ihrem alten Publikum den Rücken zu kehren, um stattdessen dort um Liebe und Aufmerksamkeit zu betteln, wo es für sie nichts zu holen gibt. Das Phänomen gibt es in Politik wie in Medien.

Auch im Handel folgt man mittlerweile dem Trend. Keine Frage, auch das KaDeWe in Berlin kommt dadurch ins Gespräch, wenn sie mit einer taz-Kolumnistin für einen High-End-Uniformmantel für 3.900 Euro wirbt, die vor kurzem alle Polizisten in Deutschland auf den Müll wünschte.

Allerdings wird das KaDeWe wahrscheinlich auch nach 2021 noch existieren.

Als hätte die FDP einen Überfluss an Talenten, servierte Parteichef Lindner kürzlich Linda Teutenberg ab, eine der wenigen in der Truppe, die Zeitgeist weder für eine intelligente Erklär- noch eine Entschuldigungsformel hält. Im Berliner Abgeordnetenhaus schloss die FDP-Fraktion mit Marcel Luthe ihren populärsten Abgeordneten aus, und weigerte sich, eine Begründung zu geben. Luthe dagegen gibt eine. Und sie beginnt mit der Feststellung, dass er Kassenwart der Fraktion war und am Umgang der Fraktionsspitze mit Geld Kritik übte. Auch diese Affäre dürfte noch ihren Lauf nehmen.

Wahrscheinlich gibt es nur zwei Grundarten von Politikern. Die einen, die notfalls für bestimmte Überzeugungen auch Gegendruck aushalten. Und die anderen, die vor allem beliebt sein möchten. Noch nicht einmal bei ihren alten Wählern, sondern innerhalb des politisch-medialen Biotops, in dem sie sich den ganzen Tag bewegen.

Nehmen die Zustimmungsraten in den Umfragen ab, dann ziehen sie den Schluss daraus, ihre Anstrengungen für mehr Beliebtheit woanders zu verdoppeln.

Sollte die FDP ganz verschwinden, dann würden sich wahrscheinlich Leute zusammentun, um eine liberale Partei zu gründen. Sie hätte einen ganzen Themenpark nur für sich allein.

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