DER SPIEGEL Nr. 31 – Sind wir stärker?

Was tun, wenn eine eigens beauftragte Umfrage dem selbstgewählten Titel-Thema widerspricht? Dumm gelaufen, lieber Spiegel. Jetzt wird geeiert.

Sind wir stärker als was? Als die Angst, als die Anschläge? Sind wir stärker als Gemeinschaft, als Staat, als Sicherheitsbehörden? Der SPIEGEL bleibt seiner Linie treu, auf dem Cover mehr zu versprechen, als die Redaktion inhaltlich halten kann. Das ist nicht unüblich; der Leser hat sich daran gewohnt. Allerdings darf die Leserenttäuschung auch nicht zu groß werden. Das könnte diese Woche beim SPIEGEL der Fall sein.

Wenn eine Umfrage das Thema entwertet

Denn das hat Chefredakteur Klaus Brinkbäumer sich offenbar allzu einfach vorgestellt: Die Deutschen sind verunsichert nach den Anschlägen in München, Ansbach und Würzburg. Eine Umfrage soll zeigen, dass das Titelthema den Bürgern unter den Nägeln brennt. Die vom Umfrageinstitut TNS Forschung befragten 942 Personen bekundeten nun aber keineswegs, dass die Deutschen jetzt allesamt panisch gestimmt sind: 36 Prozent der Befragten gaben an, dass sie jetzt mehr Angst hätten, selber einmal von einem Anschlag betroffen zu sein. Immerhin 63 Prozent der Befragten bekundeten, dass bei ihnen die gefühlte Gefahr nicht zugenommen habe. Für mich ist dies ein Grund, meinen Mitbürgern für ihre Besonnenheit auf die Schulter zu klopfen. Für mich ist es auch ein Statement, für Wachsamkeit einerseits, aber gegen politische und publizistische Vereinnahmung.

Für die Redaktion ist das ein undankbares Ergebnis: nicht Fisch, nicht Fleisch. Bei einer panisch gestimmten Mehrheit hätte die Redaktion die Chance gehabt, mit Vorabmeldungen eine Hysterie-Spirale in den öffentlich-rechtlichen Medien in Bewegung setzen können. So mussten acht Redakteure, angeführt von Maik Baumgärtner ausschwärmen und Belege zusammentragen. Immerhin fanden sie Wiesn-Wirte, die bereits Stornierungen für das Oktoberfest erhalten haben. Ansonsten beäugten die Spiegel-Reporter jede verdächtige Äußerung, die aus AfD- und CSU-Kreisen kam. Das Titelthema ist dürftig unterfüttert und legitimiert.

Morden im Rampenlicht

Ein Muss für SPIEGEL-Leser dagegen ist der Essay „Morden im Rampenlicht“ von Martin Altmeyer über die öffentlichen Inszenierungen von Allmacht und Größenwahn.

„Der psychosoziale Ursachendiskurs“, so der Psychoanalytiker, führe nicht nur weg vom eigentlichen Tatgeschehen, „sondern entbindet den Täter von seiner Verantwortung, die nun den Umständen zugeschrieben wird. Die Suche nach der wahren Ursache ist deshalb immer eine Suche nach dem wahren Täter und nach der eigentlichen Schuld. Wer sich auf die Suche begibt, hat sich dafür entschieden, das Gewaltphänomen selbst zu ignorieren und dem wirklichen Akteur die Zurechenbarkeit seiner Tat zu bestreiten. Unter der Hand wird er zu einer Marionette gemacht, an der andere ziehen, nur er selbst nicht. Wir gewähren damit dem Gewalttäter jenen Bonus an Unverantwortlichkeit, den er sich längst selbst zugeschrieben hat“.

Und weiter: „Die Mörder verstecken sich nicht. Sie weiden sich an der Angst ihrer Opfer.“ Wichtig sei ihnen, möglichst viele Menschen umzubringen, denn eine hohe Opferzahl hebe das Selbstwertgefühl und steigere die Bedeutsamkeit ihrer Taten. Für das als „rampage killing“ bezeichnete öffentliche Morden sind Zuschauer und Berichterstatter unverzichtbar. Ich stelle mir schon seit Längerem die Frage: Wie fühlt man sich, wenn man sich als Journalist dafür missbrauchen lässt? Gerade hat Le Monde verkündet, Terroristen keine Bühne mehr zu bieten und künftig darauf zu verzichten, Fotos von Attentätern zu zeigen. Verzichten will die Zeitung laut Mediendienst turi2 auch auf IS-Propagandamaterial.

Noch eine Energie-Wende-Schwindelei

Das Privileg eines Journalisten ist es, mit jeder Story dazuzulernen. Das muss auch für mich als Leser gelten. Was also kann ich aus der aktuellen Ausgabe lernen? Interessant ist der Bericht „Stromfresser im Keller“, in dem Matthias Bartsch der Frage nachgeht, ob Passivhäuser auf die gesamt Energiebilanz gerechnet besser sind als andere Neubauten. Offenbar nicht, wie die städtische Wiesbadener Wohnungsbaugesellschaft das an Vergleichsobjekten herausgefunden hat.
Eine Dresdner Firma bietet nicht nur Cloud-Leistungen an, sondern will die Hitze seines Rechenzentrums zum Heizen weiterleiten. Doch Mittelstand und Wohnungsbaugesellschaften verweigern sich, wie Hilmar Schmundt in „Wärme aus der Wolke“ berichtet.

Miriam Olbrisch beglückt uns in „Am Tropf der Länder“ mit ihrer Erkenntnis, dass viele Doktoranden keine Chance haben, jemals eine Professur zu ergattern. Hört, hört: Das war zu meinen Uni-Zeiten auch schon so. Und ist es so schlimm? Möglicherweise braucht eine Gesellschaft nicht nur Professoren, wobei der Beamtenstatus noch dazu kommt.

Bei Martin Hesse vermisse ich in „Die neue Planwirtschaft“ Biss und fundierte Argumente, um die Politik der EZB richtig zu zerpflücken. Gute Absicht allein reicht bei so einem Thema nicht.

Da ist der von Alexander Jung zum Thema Brexit im Interview „Angela May und Theresa Merkel“ gewählte Gesprächspartner David Marsh doch ein viel beachtlicheres ökonomisches Kaliber.

Der größte Dank für die Ausgabe wird von Ronald Pofalla kommen. Sven Böll beschreibt in „Böses Spiel“ genau das, wofür der ehemalige Kanzleramtsminister Pofalla als Vorstand zur Deutschen Bahn kam: als Vorstand für Wirtschaft, Recht und Regulierung dafür zu sorgen, dass keine Gesetze gegen den Staatskonzern verfasst werden. Auftrag erfüllt. Bisher jedenfalls. Ob das volkswirtschaftlich vernünftig ist, ist ein anderes Thema. Insofern ist der Beitrag von Böll eher eine Hommage.

Zum Schluss: Ob in Goslar der 1000. Geburtstag von Heinrich III. nun ein Jahr zu spät gefeiert wird, juckt mich offen gestanden wenig. Wen interessieren Abweichungen im Promillebereich?

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