Regierungskrise in Großbritannien: Liz Truss tritt zurück – kandidiert Johnson wieder?

Der Rücktritt der Innenministerin Suella Braverman zeigte, dass Truss die Unterstützung der Parteirechten verloren hatte. Die Wahl eines neuen Premiers soll in der kommenden Woche erfolgen. Ex-Premier Boris Johnson sondiert schon seine Chancen.

IMAGO / ZUMA Wire

Am Ende konnte Liz Truss dem Druck nicht standhalten. Am Donnerstagmittag erklärte sie ihren Rücktritt als konservative Parteichefin nach nur sechs Wochen im Amt. Sie wird damit zum britischen Premierminister mit der kürzesten Amtszeit seit einigen hundert Jahren. Zuvor hatte sie den König über ihre Entscheidung informiert. Ein neuer Parteichef soll innerhalb der kommenden Woche bestimmt werden. Es scheint also auf einen schnellen Wahlprozess durch die Fraktion hinauszulaufen, aber auch eine Online-Abstimmung der Parteimitglieder soll möglich sein. Labour-Chef Keir Starmer forderte Neuwahlen, um dem „extremen Chaos“ ein Ende zu machen. Vorausgegangen war ein Krisengespräch mit dem Vorsitzenden des Fraktionskomitees der Hinterbänkler („1922 Committee“), Graham Brady, an dem auch die stellvertretende Premierministerin Thérèse Coffey und der Parteivorsitzende Jake Berry beteiligt waren.

Laut einer Meldung der Zeitung The Times sondiert auch Boris Johnson, dessen Rücktritt im September erst den Weg für Truss freigemacht hatte, seine Chancen. Nach Aussagen des Times-Redakteurs Steven Swinford glaubt Johnson, dass seine Kandidatur „eine Angelegenheit von nationalem Interesse“ sei.

I'm told that Boris Johnson is expected to stand in the Tory leadership contest

He's taking soundings but is said to believe it is a matter of national interesthttps://t.co/SuApE3RmIr

— Steven Swinford (@Steven_Swinford) October 20, 2022

Johnson führt auch in den Umfragen. Demnach wünscht sich ein Drittel der konservativen Parteimitglieder Boris Johnson zurück. 63 Prozent würden ihn „zu diesem Zeitpunkt“ für einen guten oder sogar sehr guten (42 Prozent) Premier halten. Johnson führt damit erneut die innerparteiliche Beliebtheitsskala vor Verteidigungsminister Ben Wallace (32 Prozent) und Ex-Schatzkanzler Rishi Sunak (29 Prozent) an. Aber dass es zu einer Wahl kommen wird, ist laut Beobachtern keineswegs sicher.

Spätestens mit Suella Bravermans Rücktritt war klar geworden, dass die Amtszeit von Liz Truss im Grunde schon beendet war. Als heimlicher Premierminister galt der neue britische Schatzkanzler. Jeremy Hunt hat fast alle Steuerentlastungen zurückgenommen, die sein Vorgänger Kwasi Kwarteng angekündigt hatte. Es bleibt aber beim Energiepreisdeckel, der bis April kommenden Jahres gelten soll und eine der kostspieligsten Entlastungen darstellt. Auch die Begrenzung für Bonuszahlungen soll wie geplant fallen. Aber 32 Milliarden Pfund wandern so wieder – oder eher weiterhin – in die britische Staatskasse. Die angebotsorientierte Politik des Duos Truss–Kwarteng ist damit offiziell beendet. Die Senkung des Spitzensteuersatzes von derzeit 45 Prozent wurde, wie erwartet, von der linken Opposition scharf angegriffen, aber auch „die Märkte“ zeigten sich nicht begeistert, was irgendwie neu scheint: Waren nicht sonst die wirtschaftsliberalen Tories Lieblinge der Finanzmärkte?

Die Premierministerin hatte im Interview mit der BBC öffentlich Fehler eingeräumt: „Ich wollte etwas tun … Menschen bei ihren Energierechnungen helfen und das Thema der hohen Steuerlast angehen. Aber wir sind zu weit gegangen.“ Mit dieser lauen Entschuldigung wollte Truss versuchen, im Amt zu bleiben, um „weiter daran zu arbeiten, Wirtschaftswachstum für das Land zu erzeugen“.

Doch die Ablösungsforderungen mehrten sich, die nur mit der Benennung Jeremy Hunts als neuer Finanzminister leicht abebbten. 100 Briefe von konservativen Abgeordneten lagen bereits beim zuständigen „1922 Committee“, obwohl die gerade erst gewählte Truss laut Statuten eine Galgenfrist von einem Jahr hatte. Aber es gibt eben auch andere Wege, eine Premierministerin zum Rückzug zu bewegen. Der Druck auf Truss wuchs in den letzten Tagen unaufhörlich. Und auch der Streit mit Braverman zeigt, dass das Regierungsgebäude langsam, aber sicher unter Truss‘ Händen zusammenbrach. Laut einer aktuellen Umfrage forderten zuletzt 55 Prozent der Parteimitglieder Truss’ Rücktritt, 38 Prozent waren dagegen. Ebenso knapp war die Mehrheit, die Truss nach wie vor bei ihren eigenen Unterstützern hat: 52 Prozent gegenüber 39 Prozent, die ihren Rücktritt forderten, also ihre Wahl diesen Sommer bereits bereuten.

Braverman: Zentrale Wahlversprechen gebrochen

Suella Braverman nannte auch inhaltliche Gründe für ihren Rücktritt: „Es ist für jeden offensichtlich, dass wir eine stürmische Zeit durchmachen. Ich bin besorgt über den Kurs dieser Regierung.“ Man habe bereits jetzt zentrale Versprechen an die Wähler gebrochen. Braverman hatte die Truss-Regierung zuletzt daran erinnert, dass das Wahlmanifest von 2019, das den Konservativen eine Mehrheit von 80 Sitzen und viele Wahlkreise in der einstigen „Red Wall“ im Norden Englands eingebracht hatte, eine Verringerung der Netto-Zuwanderung und „die Beendigung der illegalen Migration, insbesondere der gefährlichen Überfahrten mit kleinen Booten“ vorsah. Eine niedrigere Zuwanderung bedeutet nach ihr höhere Löhne. Außerdem verwies sie auf neun Millionen Briten im arbeitsfähigen Alter, die aber nicht arbeiten, 5,3 Millionen auch dank Sozialleistungen statt Lohn. Dass die 1,25 Millionen unbesetzten Stellen, die es seit langem im Königreich gibt, nicht aus diesem Pool besetzt werden können, konnte sich Braverman nicht vorstellen. Aber die Unterstützung von Truss war an dieser Stelle nicht eindeutig. Stattdessen erwog die Premierministerin sogar, die Visa-Bedingungen für einzelne Länder zu lockern – etwa für Indien im Austausch für ein Handelsabkommen.

Die britische Zuwanderungskrise besitzt nicht die Größenordnung der deutschen. Bis Ende August kamen knapp 23.000 Migranten illegal über „kleine Boote“ auf die Insel. Bis zum August dieses Jahres waren daneben laut dem britischen Innenministerium 1.741 ausländische Delinquenten abgeschoben worden, darunter 487 Albaner. Weitere 500 Albaner wurden wegen illegaler Einreise zurückgeführt. In Deutschland wurden es im selben Zeitraum laut Bamf-Statistik gut 115.000 Erstanträge auf Asyl gestellt.

In vier Jahren überquerten laut der Londoner Regierung „nur“ 75.000 illegale Migranten den Ärmelkanal. Wie es aussieht, hat aber der September einen enormen Ansturm auch auf die englische Kanalküste ergeben. Gemäß neuesten Zahlen kamen allein im vergangenen Monat rund 12.000 illegale Migranten hinzu. Die Dynamik erklärt, dass auch in Großbritannien heiß über das Thema gesprochen wird. Braverman war eine offene Anhängerin des Plans, Asylbewerber nach Ruanda auszufliegen und ihnen dort ein Asylverfahren zu gestatten, wofür sie auf dem Parteitag breiten Applaus erhielt. Vor der Presse sprach sie auch von einem Traum, den sie habe.

Das wirklich Wesentliche an diesem Rücktritt der Innenministerin war wohl sein nichtiger Anlass: Braverman hatte nach eigenem Bekunden ein dienstliches Dokument über eine private E-Mail-Adresse verschickt. Truss soll sich ungnädig gezeigt haben, obwohl das Versenden solcher Dokumente den parlamentarischen Alltag in London prägt. Auch Braverman stilisierte das Versenden am Ende zur ernstlichen Verfehlung: „Ich habe einen Fehler gemacht. Ich übernehme die Verantwortung.“ Und diese Worte konnte man leicht auf andere Politiker beziehen, wie auch die begleitenden Worte zeigen: „So zu tun, als ob wir keine Fehler gemacht hätten, so weiterzumachen, als ob nicht jeder sehen könnte, dass wir sie gemacht haben, und zu hoffen, dass die Dinge auf magische Weise in Ordnung kommen, ist keine ernsthafte Politik.“

Nigel Farage: Jeremy Hunt ist jetzt der Präsident des Vereinigten Königreichs

Das hörte sich nun schon fast nach einem Porträt der Premierministerin an, der Braverman damit ziemlich öffentlichkeitswirksam den Rücktritt nahelegte. Braverman war als Kandidatin der euroskeptischen European Research Group in das Rennen um den Parteivorsitz gezogen. Nach ihrem Ausscheiden reichte sie die Stimmen der Gruppe quasi an Truss weiter. Mit dem Rücktritt der Innenministerin hatte Truss gewissermaßen die Unterstützung der Parteirechten verloren. Braverman könnte sich nun auf den hinteren Bänken des Unterhauses weiter als Hardlinerin profilieren oder – wer weiß – schon bald wieder ein Amt übernehmen. Das wird der künftige Partei- und Regierungschef zu entscheiden haben. Schatzkanzler Hunt wird nach eigenen Angaben nicht zur Verfügung stehen. Genannt werden die Namen von Rishi Sunak, Ben Wallace, Ex-Ministerin Penny Mordaunt, Kemi Badenoch und von Suella Braverman selbst.

Braverman war eine der ersten, die die Einwechslung Jeremy Hunts als „Coup“ bezeichnet hat. Dasselbe tat Nigel Farage, der gar von einem „globalistischen Coup“ sprach. „Jeremy Hunt ist jetzt der Präsident des Vereinigten Königreichs. Truss kann bleiben oder gehen – sie ist vollkommen irrelevant.“ Dann erging sich Farage in der Frage, wer Truss diesen britischen „Präsidenten“ diktiert habe: „Der IWF? Das Weiße Haus? Bundeskanzler Scholz? Es ist klar, sie sind alle hocherfreut, dass er da ist.“ Es sei auch ein Remainer-Coup, und das zeige, folgert Farage, dass die konservative Partei nie an den Brexit geglaubt habe. Das aber kann wohl nur für die Führungsebene und da auch nur für einen Teil gelten – für die zentristischen, „moderaten“ Remainer in der Partei. Für Farage ist die konservative Partei tot, da die Partei die Grundwerte des kleinen Staats und der Unternehmerfreundlichkeit verraten habe. Vielleicht werden die Ereignisse dieser Tage aber auch zeigen, dass die öffentliche Kritik der Politik in Großbritannien noch funktioniert und zur Auswechslung von Politikern führt, denen die nötige Autorität nicht mehr zugetraut wird.

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