Wie Putin den Traum von der „postsowjetischen Idylle“ selbst zum Zerplatzen brachte

Die militärischen Rückschläge Russlands in der Ukraine verleiten Wladimir Putins Bündnispartner dazu, sich allmählich von ihm abzuwenden. Die Anführer Kasachstans, Armeniens und Kirgistans können es sich zwar noch nicht leisten, Moskau demonstrativ den Rücken zu kehren, doch deren kritische Signale sind unmissverständlich.

IMAGO / SNA
Der russische Präsident Wladimir Putin beim OVKS-Gipfel am 23. November 2022 in Jerewan, Armenien

Vor den Kameras versucht der russische Staatspräsident den Eindruck zu vermitteln, dass er nach wie vor an die Richtigkeit der Kausalketten glaubt, die er konstruiert. Täglich kommen neue Erklärungen hinzu, die der aktuellen Kriegssituation in der Ukraine angepasst werden müssen. Doch die Fassade bröckelt. Und zwar nicht nur deshalb, weil Wladimir Putin erstmals seit zehn Jahren die traditionelle Jahrespressekonferenz im Dezember ausfallen lässt. Nun droht obendrein sein Anti-Nato-Bündnis zu zerfallen, dessen Unterstützung er eigentlich immer gewiss sein durfte. Es sollte das Einfallstor für die russische Vorherrschaft in der Region sein. Eines, welches die Rückkehr zu einer Idylle versprach, die es nie gegeben hat. Und auch nie geben wird.

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Russland und Armenien pflegen seit Jahrzehnten intensive Beziehungen, insbesondere hinsichtlich der Kooperation innerhalb der Organisation des Vertrags über kollektive Sicherheit (OVKS). Die in Jerewan leise angestimmte Kritik ist aber inzwischen unüberhörbar geworden. Beim letzten OVKS-Gipfel im November brüskierte Armeniens Ministerpräsident den Kreml-Chef vor laufenden Kameras. Bereits vor dem Treffen ging Nikol Paschinjan auf Distanz zu Putin. Beim Gruppenfoto klaffte zwischen den beiden Politikern eine Lücke, auf die augenscheinlich der armenische Gastgeber Wert legte. Dagegen könnte man einwenden: Was hat dies schon zu bedeuten? Sehr viel. Das politische Tagesgeschäft kommt bekanntlich mit nur wenigen Bildern aus. Die symbolischen Gesten, die uns erreichen, spielen jedoch eine zentrale Rolle.

Paschinjan war sicherlich deshalb unzufrieden, weil nach den Angriffen Aserbaidschans auf armenische Grenzstädte im Konflikt um die Region Bergkarabach eine dezidierte Reaktion der OVKS ausblieb. Moskau hat sich zudem nie von Baku distanziert, jedenfalls nicht in der Form, die dem armenischen Premier gefiele. Selbstredend hat Putin derzeit andere Probleme, hat er sich doch in der Ukraine in eine äußerst diffizile Situation gebracht. Er steckt schon so tief in dem von ihm fabrizierten Misthaufen, dass ein Akt der Gesichtswahrung gar nicht mehr möglich ist.

Indessen schwächen ihn die militärischen Rückschläge am Dnepr auch innerhalb des Anti-Nato-Bündnisses. Vor der russischen Invasion in der Ukraine hätte es Armeniens Regierungschef kaum gewagt, den Kreml-Chef derart ostentativ bloßzustellen. Putin hatte schon vorher seine Schwierigkeiten mit Paschinjan. Während der Revolution in Armenien im Jahr 2018 spielte er eine überaus wichtige Rolle. In Moskau werden ihm bis heute Sympathien für den Westen attestiert. Dennoch wurde er von Putin toleriert, weil er sich selten zu russlandfeindlichen Wortkaskaden hinreißen ließ. Ein im postsowjetischen Raum durch eine soziale Erhebung herbeigeführter Machtwechsel (wie in Jerewan) wird im Kremlpalast allerdings immer Misstrauen erwecken. Und wie gestalten sich die Beziehungen Russlands zu den anderen OVKS-Mitgliedsstaaten?

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Kasachstan wird seit Jahrzehnten gleichfalls autoritär regiert. Korruption gehört zum Alltag, die politische Führung hat ihren Vertrauenskredit längst verspielt. Zwar gab Staatschef Nursultan Nasarbajew nach 30 Jahren der Alleinherrschaft im März 2019 sein Zepter ab, viel hat sich aber seitdem nicht geändert. Im Gegenteil: Kurz vor dem Ukraine-Krieg kam es in Kasachstan wegen der dortigen Menschenrechtslage zu größeren Protesten, die mit militärischer Unterstützung Russlands gewaltsam niedergeschlagen wurden. Putin wollte dieses „Problem“ erledigt wissen, bevor er sich an die „Entnazifizierung“ Kiews machte. Diese verlief nun anders als erwartet und es kann sogar sein, dass auch Kasachstan für ihn zu einer „zweiten Ukraine“ wird.

Nach dem 24. Februar folgte eine vorsichtige Distanzierung Astanas vom langjährigen Verbündeten. Der neue kasachische Staatschef Qassym-Schomart Toqajew verurteilte Putins „Spezialoperation“, weil sie die Handelsbeziehungen mit der Ukraine erheblich erschwerte. In einer ebenso unverblümten Weise hat er die Annexionspläne des russischen Regimes kritisiert. Toqajew hat Putin bereits früh zu verstehen gegeben, dass die von ihm in den Oblasten Luhansk, Donezk, Saporischschja und Cherson hervorgehobenen Machtpositionen rechtswidrig und dauerhaft nicht zu halten seien. In vielerlei Hinsicht ist Kasachstan jedoch weiterhin auf die Unterstützung Russlands angewiesen. Dafür sorgt allein schon die Tatsache, dass beinahe 90 Prozent des kasachischen Erdöls aus russischen Pipelines fließen.

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Deshalb wird Toqajew gewiss nicht jede Gelegenheit nutzen, um seiner Empörung gegenüber Moskau Ausdruck zu verleihen. Erst recht nicht während eines OVKS-Gipfels. Kasachstans Präsident beherrscht das polyphone Klavierspiel der Diplomatie: Einerseits spricht er den Angehörigen der ukrainischen Opfer sein „tiefstes Mitgefühl“ aus und einige Stunden später echauffiert er sich über den Ausschluss Russlands aus dem Europarat sowie die „drakonischen“ Maßnahmen der USA und der EU. Toqajews mehrdeutige Deklarationen irritieren Moskau zunehmend. Der kremltreue Politologe Dmitrij Drobnicki sagte kürzlich, dass nach der „erfolgreichen Mission“ in Kiew schließlich auch Astana „entnazifiziert“ werden müsse.

Sorgenfalten bereitet Wladimir Putin auch das OVKS-Mitgliedsland Kirgistan. Die zentralasiatische Ex-Sowjetrepublik versucht sich weiterhin zu emanzipieren. Wenn es nach den Parlamentariern in Bischkek ginge, sollen bald alle russischen Straßennamen aus den kirgisischen Städten verschwinden. Das Außenministerium in Moskau habe dem Präsidenten der Kirgisischen Republik Sadyr Dschaparow bereits davon abgeraten, den „ukrainischen Weg“ zu beschreiten. Seine Antwort mag aus russischer Sicht verblüffend gewesen sein: Er sagte prompt die Teilnahme an gemeinsamen militärischen Manövern ab.

Eigentlich ist nur noch der belarussische Machthaber Alexander Lukaschenko völlig linientreu. Manchmal wirkt er deshalb etwas orientierungs- und fassungslos, kann die glaubensschwachen Bekenntnisse anderer Kollegen zum Sicherheitsbündnis nicht begreifen. Vermutlich ist dessen Erosion aber nicht mehr aufzuhalten. Obschon sich Putins Verbündete noch nicht für den endgültigen Treuebruch entschieden haben, werden langsam Risse erkennbar. Die westlichen Sanktionen gegenüber Russland treffen ebenso den wirtschaftlichen Nerv der OVKS-Staaten, die nicht einmal an der „Spezialoperation“ in der Ukraine teilnehmen. Manche von ihnen bezweifeln derweil die militärische Einsatzfähigkeit des Bündnisses, die zwar offensichtlich dafür ausreicht, Kasachstan vor einem Bürgerkrieg zu bewahren, jedoch nicht einmal Armenien vor Aserbaidschan zu schützen vermag. Ein französischer Präsident hat die Nato einst als „hirntot“ bezeichnet. Nein, das ist sie nicht. Die OVKS aber schon.

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Kommentare ( 22 )

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November Man
1 Jahr her

Seinen wir froh, dass Russland mit der Ukraine, dem Westen, der USA und der NATO nur spielt. Würde er Ernst machen, gäbe es die Ukraine schon längst nicht mehr. Und Europa, die Europäer richten sich so ganz nebenbei selbst zugrunde. Die USA wird aber letztendlich der Gewinner sein. Cui Bono.

Nibelung
1 Jahr her

Das kann man auch anders sehen, denn einen Krieg beginnt man in der Regel erst, wenn man die Sachlage begutachtet hat und dann zu dem Schluß kommt, daß die ganze Angelegenheit berechenbar ist und so sind sie auch verfahren, wobei sich dann die Fehleinschätzung und die falsche Taktik hinzu gesellt hat, was nicht förderlich war und nun eine neue Strategie erforderlich machte. Fehlschläge sind doch nicht neu in der Geschichte und wer daraus was lernt, der kann am Ende auch der Sieger sein, mal ganz von dem abgesehen, daß 130 000 Km² besetztes Land ja auch kein Pappenstiel ist und… Mehr

Waldorf
1 Jahr her

Putin entwickelt sich zum neuen Medienliebling, wie vormals Trump. Liebling? Ja, Liebling! Trump war für zb CNN der Zaubertrank, der CNN prächtigen Umsatz garantierte, der medial ausgelebte Trump-Hass hatte eine stabile Anhängerschaft. Jetzt kämpft CNN um sein überleben. Putin ist der neue Trump. Alles ist sehr wichtig, wer sich gegen ihn erklärt, wer sich nicht deutlich genug gegen ihn erklärt, wer Zeichen gegen ihn setzt, wer nicht genug starke Zeichen gegen ihn setzt, seine Gesundheit, seine Frisur und überhaupt. Natürlich denken ein paar Post-SU Autokraten an Geschäfte mit dem Westen, bzw wurden schon umworben, wenn sie Öl oder Gas zu… Mehr

giesemann
1 Jahr her

Niemand soll sich von Russland abwenden (müssen) – nur wenn Russland übergriffig wird, dann ist gegen zu halten. Zur Zeit geschieht dies in der UA; mit den meisten slawischen Staaten und deren Anrainern hat es Russland bereits verdorben, die sind schon lange geflohen und für Russland verloren – durch sein eigenes Fehlverhalten. Nur wenn Russland seine paranoide Antiwesthaltung aufgibt, hat es eine gute Chance zur eigenen Entwicklung. Die jungen Russ*Innen sind schon lange so weit. Sie wollen Europäer*Innen sein und nicht Chinesen. Der Kreml scheint das gerade zu lernen, lernen zu müssen. WENN er es lernt, dann ist eine unschlagbar… Mehr

November Man
1 Jahr her

Macron hat die NATO als hirntot. Es fällt schwer diesem Präsidenten recht zu geben, aber wo er recht hat, hat er recht. Die NATO ist der Aggressor, der seit seiner Gründung 1949 Russland bis zum heutigen Tag bedroht. Die NATO wurde 1949 mit dem Ziel und Zweck gegründet die USA oben zu halten, Russland draußen zu halten und Deutschland unten zu halten. Genau so läuft es im Moment. Man muss nur mit offenen Augen hinsehen.  

November Man
1 Jahr her
Antworten an  November Man

Gezwungen wurden diese Staaten bestimmt nicht. Sie wurden mit vielen Versprechungen, Zusagen und vielen Milliarden gekauft und bezahlt.

P. Pauquet
1 Jahr her

Was ist zu Putin schon Alles gesagt, berichtet und durchgehechelt worden. Jeder wusste was, Nichts genaues aber davon reichlich. Die Anzahl der Putinkenner, -versteher und die Anzahl der „Experten“, deren Legion nicht mehr zu überschauen ist, dröhnen durch die Medien, was sag‘ ich, durch’s ganze Land und die Welt. Die Aussagen sind zu großen Teilen nicht das Papier wert, auf denen sie geschrieben wurden. Ich würde mir hier auf Tichy mal einen wirklichen kompetenten Beitrag wünschen (kann auch Mehrteiler sein) mit wirklicher Tiefe, Profil und günstigstenfalls einem persönlichen Kenner Putins. – Da wüßte ich schon Jemand auf den ersten Blick,… Mehr

StefanB
1 Jahr her

1. Gerade muss ich im Einheitsvideotext lesen, dass Selenski erklärt hat, er (44) stehe jederzeit für einen persönlichen Zweikampf mit Putin (70) zur Verfügung. „Ein echter Mann, wenn er jemandem etwas sagen will oder, wenn er – wie sagt man das, ihm eine in die Fresse hauen will – dann macht er das selber und schickt keine Mittelsleute“. Das sagt einer, der mit fremden Mitteln einen Stellvertreterkrieg für die USA gegen Russland führt.

2. Ebenfalls im Einheitsvideotext: Selenski will eine Weltfriedenskonferenz einberufen. Frage: Warum führt er dann einen Stellvertreterkrieg für die Amis?

Evelyn Beatrice Hall
1 Jahr her

Durch nichts hätten Sie die eigentliche Ursache des Krieges besser darlegen können als durch Ihr „heiliges Mütterchen Rußland“. Die Russen halten sich für eine von Gott auserwählte Nation mit überlegener Kultur und nehmen deshalb für sich das Recht heraus, ihren Nachbarvölkern Vorschriften machen zu dürfen. Und wenn sich ein Volk wie das der Ukrainer unbotmäßig verhält, wird es eben gezüchtigt. Dabei kann ich nicht erkennen, daß Rußland tatsächlich überlegen ist. Ich schätze durchaus die großen kulturellen Leistungen Rußlands, etwa in der Musik, aber bis heute ist es Rußland nicht gelungen, für sein Staatswesen stabile und gerechte Strukturen zu errichten. Es… Mehr

Schmidtrotluff
1 Jahr her
Antworten an  Evelyn Beatrice Hall

Byzantinismus ist gut. Es ist Ehrlichkeit, Treue und Spiritualität.
Das Gegenteil sind Lüge, Betrug und Satanismus.
Es gibt kein Volk der Ukrainer. Es ist eine russische Farbe, so wie die Bayern in Deutschland.

Evelyn Beatrice Hall
1 Jahr her
Antworten an  Schmidtrotluff

„Es ist Ehrlichkeit, Treue und Spiritualität.“
Mir kommen die Tränen ob solchen Edelmuts.
„Es gibt kein Volk der Ukrainer.“
Das entscheide nicht ich, das entscheiden nicht Sie, und das entscheidet nicht Wladimir Putin. Das entscheiden nur die Bewohner des ukrainischen Staates.
Beihilfe zur Nationwerdung leistet allerdings gerade der Große Verwirrer im Kreml.

Kuno.2
1 Jahr her

Kasachstan und Weißrussland werden schon bei der Stange bleiben. Und China bleibt solange ein Verbündeter wie der Hader mit den USA um die Vorherrschaft im chinesischen Meer andauert. Sollte Taiwan angeschlossen werden können und die USA die Chinesen als gleichwertig ansehen, dann kann es für Russland eng werden. Denn Peking hat die militärischen Siege der zaristischen Russen gegen die „Mongolen“ nicht vergessen. Da gibt es auf chinesischer Seite mit Sicherheit territoriale Forderungen.

Georg J
1 Jahr her

Was mich an dem Ukraine-Konflikt am meisten stört – unabhängig davon welche Position man einnimmt – ist die Tatsache, dass es egal scheint wie es den Menschen, die auf dem Territorium der Ukraine leben, mit diesem Krieg geht. Sie leiden, aber wofür eigentlich? Es gibt zwar „die Ukraine“ als Staat, aber im Osten (Krim, Donbass) leben Menschen, die sich eben mehr zu Russland hingezogen fühlen als zum Westen. Ist das verwunderlich, wenn sie seit Jahrhunderten Russen sind, die russische Sprache sprechen und deren Kultur leben? Glaubt wirklich jemand, dass die Mehrheit der Bewohner auf der Krim gegen ihren Willen an… Mehr

Last edited 1 Jahr her by Georg J