Frankreich: Nicht mehr Le Pen allein fordert Änderungen im Recht

Emmanuel Macrons eindeutige Positionierung im Karikaturenstreit könnte mittelfristig tausende Schläfer im Land wecken. In Nizza und Umgebung sprechen auch Konservative inzwischen vom Kriegszustand mit dem radikalen Islam und fordern die Ausrufung des Kriegsrechts, Verfassungsänderungen und ein »französisches Guantánamo«.

imago images / PanoramiC
Vor der Kathedrale von Nizza am Sonntagabend

Die Antwort des öffentlichen Frankreich auf den Terrorakt von Nizza ist eindeutig. Abbé Grosjean, ein landesweit bekannter Priester in Versailles, stellte auf Twitter fest, dass die drei Opfer des Anschlags in der Kathedrale von Nizza »ermordet wurden, weil sie Christen sind. Ihr Martyrium bindet uns.« Der jüdische Philosoph Alain Finkielkraut sagte: »Der Feind verzeiht uns nicht, dass wir das sind, was wir sind.«

Für Christian Estrosi, den Bürgermeister von Nizza, ist klar, dass man den »Islamofaschismus« nicht mit den aktuell geltenden Gesetzen bekämpfen kann: »Zu viel ist zu viel, es ist Zeit, dass sich Frankreich der Friedensgesetzgebung entledigt, um den Islamofaschismus endgültig auf unserem Territorium auszulöschen.« Auch Verfassungsänderungen müssten diskutiert werden. Die Stadtverwaltung hat für das Wochenende Extra-Sicherheitskräfte angefordert.

Landesweit sollen 7.000 Sicherheitskräfte zum Einsatz kommen, darunter 3.500 Reserve-Gendarmen (die Gendarmerie ist Teil des Militärs) und mehrere tausend Soldaten der Operation Sentinelle, die nach dem Attentat auf Charlie Hebdo eigens für die Terrorabwehr gegründet worden war. Man will dem Terrorismus keinen Fußbreit mehr nachgeben. Vor allem Kirchen und Schulen sollen Schutz erhalten. Allein nach Nizza wurden so zusätzlich 120 Polizisten geschickt. Die Mittelmeerstadt war schon einmal, am 14. Juli 2016, der Schauplatz eines radikal-islamischen Anschlags. Am französischen Nationalfeiertag fuhr damals ein 31-jähriger Tunesier mit einem LKW in die Menschenmenge auf der Promenade des Anglais und tötete dadurch 86 Menschen. Der Mann lebte seit 2005 in Frankreich und war als Kleinkrimineller bekannt.

Das neue Attentat vom vergangenen Donnerstag geschah am diesjährigen Mawlid, dem Geburtstag des Propheten Mohammed. Am selben Tag wurde ein Sicherheitsmann des französischen Konsulats im saudi-arabischen Jeddah durch einen Messerangriff verletzt. Und in Lyon nahm man am selben Tag einen Bewaffneten fest, bevor sich eine weitere Tragödie ereignen konnte. Der in eine Djellaba gekleidete Afghane war den Nachrichtendiensten bereits als radikaler Muslim bekannt, an einer Tramstation zog er sein Messer. Erst nach einigen Notrufen der Anwohner erreichte die Polizei den Ort, um den Aggressor festzunehmen. Zufall scheint das alles nicht mehr.

Hotspot Nizza

Die Terrorgefahr wurde für das ganze Land hochgesetzt auf die dritte, zugleich höchste Stufe (»Urgence attentat«). Doch die Lage im südöstlichen Zipfel Frankreichs scheint noch einmal angespannter zu sein als andernorts. Warum ausgerechnet Nizza? Ist die Stadt ein Einfallstor für gefährliche Immigranten aus dem Süden? Der tunesische Attentäter (21) war erst im Oktober aus dem angrenzenden Italien eingereist. Tunesien versucht derzeit zu ermitteln, ob das Bekennerschreiben einer »Mahdi-Organisation« auf eine real existierende Struktur zurückgeht.

Laut einem hohen Verwaltungsbeamten ist die gesamte Region von Avignon bis zur Côte d’Azur eine Art radikal-islamischer Hotspot. Die Gefahr sei »mehr als scharlachrot«. Die radikalen Muslime seien bereit zum Losschlagen. Das berichtet die Tageszeitung Le Figaro. Die Terrorgefahr durch sunnitische Muslime sieht auch der konservative Innenminister Gérald Darmanin (Les Républicains, LR) als wichtigste Bedrohung des Landes. Im Innenministerium weiß man: »Frankreich wird angegriffen, weil es eine Frontlinie ist, weil es ein laizistisches Land ist, das nicht alles mit sich machen lässt.«

Dabei lassen sich nicht alle Gefährder radikalen Gruppierungen zuzuordnen. Es gibt demnach auch Einzeltäter, die Anhänger des radikalen Islams und empfänglich für seine Propaganda sind, ohne einer festen Gruppe anzugehören. In der entsprechenden Liste finden sich inzwischen tausende Einträge. Wie überwacht man so etwas? Sechs-, zehn-, vielleicht zwanzigtausend Gefährder, über deren ›Fortschritte‹ im Radikalisierungsprozess man auf dem Laufenden bleiben muss?
Daneben sind auch die beiden großen Dachorganisationen des radikalen Islams, Al-Qaida und der IS, vermutlich in Frankreich aktiv. Al-Qaida steckte hinter dem Anschlag auf Charlie Hebdo im Januar 2015. Der Islamische Staat hat sich nach seiner Niederlage im Nahen Osten in den Untergrund zurückgezogen. Die »klandestine Immigration« bleibt laut Experten ein wichtiger Übertragungsweg des internationalen Terrors.

Die Gesetzesanpassungen im Gefolge von Macrons Kampf gegen den »Separatismus« des radikalen Islams werden noch auf sich warten lassen. Doch der französische Staat muss heute und jeden Tag erneut der Gefahr standhalten. Außenminister Jean-Yves Le Drian hat die Terrorwarnung auf alle Botschaften Frankreichs in allen Ländern ausgedehnt.

Gesunkenes Vertrauen der Franzosen

Nach den Freitagsgebeten der vergangenen Woche haben zehntausende Muslime in Bangladesh, Pakistan und den Palästinensergebieten zum Teil gewaltsam gegen die Politik von Emmanuel Macron protestiert. Französische Fahnen brannten, in Islamabad zogen die Demonstranten zur französischen Botschaft, mit den Parolen »weist den französischen Hund aus« und »köpft den Gotteslästerer«. Im afghanischen Herat rief man: »Tod für Frankreich! Tod für Macron!« Die französischen Botschaften in Islamabad und London gerieten unter die Belagerung von Allahu-akbar-Rufern.

Ein säkularer Pakistani zeigt ein Video, in dem die Enthauptung Samuel Patys als religiöse Pflicht bezeichnet wird. Daneben gibt es ein Video aus einer Landschule in Pakistan. Dort wird angeblich Kindern an einer Puppe mit aufgeklebtem Macron-Photo das Enthaupten vorgemacht.

Der Mufti von Tschetschenien warnte die in Russland lebenden Franzosen, sich nicht mit Macron zu solidarisieren. Dann könnten sie in Ruhe weiterleben, anderenfalls würden sie zum Feind. Der diktatorisch herrschende Präsident von Tschetschenien, Ramsan Kadyrow von der Putin-Partei Einiges Russland hat einen besonders verqueren Vorwurf formuliert, indem er Macron selbst als »Terroristen« bezeichnete, der »die Muslime insgeheim zu Straftaten aufruft« – andere übersetzen Kadyrow gar so, dass Muslime durch die Satirefreiheit »zum Terrorismus gezwungen« seien. Noch eine originelle Umkehr der Realität.

Inzwischen hat eine Umfrage ergeben, dass nur noch 26 Prozent der Franzosen darauf vertrauen, dass ihre Regierung sie wirksam vor terroristischen Akten schützen könne. Die Umfrage wurde nach der Enthauptung des Geschichtslehrers Samuel Paty durchgeführt. Im Juli waren es noch 44 Prozent. 57 Prozent der Franzosen glauben, dass die Polizei nicht ausreichend sichtbar an Orten des religiösen Kults sei.

Konservative fordern eine Anpassung des rechtlichen Rahmens: Kriegsrecht gegen den radikalen Islam?

Marine Le Pen forderte die Ausrufung des Kriegsrechts, eine alte Forderung ihrer Partei. Das aktuelle Recht beschütze die schlimmsten Feinde Frankreichs, anstatt das Land gegen sie zu beschützen. Jean Messiha, Sohn eines christlichen Ägypters und eine vernehmliche Stimme des Rassemblement National (RN) seit 2016, fügt hinzu, die Terroristen seien häufig »Personen, zu deren Aufnahme man uns verpflichtet«. Wer ist aber dieses »man«? Sicher kein abstrakter Rechtsbegriff, sondern die gesetzgebende Gewalt der Franzosen selbst. Es sind ja immer Menschen und Bürger, die die Regeln eines Staates und seine Grenzen bestimmen.

Die Kontrolle über diese Regeln und Grenzen zu übernehmen, das fordert Messiha.
Auf France Info fordert er, alle dem Geheimdienst bekannten Gefährder mit französischer Staatsangehörigkeit präventiv zu inhaftieren und alle anderen abzuschieben. Bei den binationalen Gefährdern könne es etwas komplizierter werden. Außerdem brauche es einen generellen Einwanderungsstopp, denn die Immigration sei vor allem eine muslimische, sie sei es also, die den »Separatismus« und den Terrorismus in Frankreich nährt.

Doch die Le-Pen-Partei ist inzwischen nicht mehr allein mit diesen Forderungen. Der Ruf nach einer grundsätzlich anderen Herangehensweise findet mehr und mehr Widerhall in den Reihen der Konservativen. Den Rufen Christian Estrosis (Les Républicains, LR) schloss sich nun auch sein Parteifreund Eric Ciotti an. Ciotti ist Abgeordneter für das Département Alpes-Maritimes, dessen Hauptstadt Nizza ist. Auch er fordert eine »Veränderung der rechtlichen Rahmens«, um den Islamismus auszurotten. Die derzeitige Ohnmacht des französischen Staates müsse beendet, der rechtliche Rahmen angepasst werden, um den Krieg gegen den radikalen Islam zu führen. Für Ciotti (LR) wie für Messiha (RN) ist klar: Die terroristischen Angriffe auf Frankreich haben schon jetzt den Kriegszustand herbeigeführt.

Auch Ciotti will den Umgang mit bekannten Gefährdern verändern. Man müsse hier größere Vorsicht walten lassen, zum Nutzen der Gesellschaft. 4.000 radikalisierte Terroristen ohne französischen Pass seien bekannt, 2.500 weitere warten darauf, aus den französischen Gefängnissen entlassen zu werden. Insgesamt gebe es 20.000 Gefährder im Land. Für die gefährlichsten unter ihnen schlug Ciotti ein »französisches Guantánamo« vor – wohlgemerkt für verurteilte Terroristen ebenso wie für bloß Verdächtigte. Kritiker fragen, wie das mit Rechtsstaat vereinbart werden kann.

Emmanuel Macron steht nun vor der Aufgabe, diese Zahl zu reduzieren und so für die Sicherheit der Franzosen zu sorgen. Dabei können kurzfristig vielleicht auch Interviews auf Al Jazeera helfen. Doch die eigentliche Antwort muss der französische Staat im Innern und an den Außengrenzen der EU geben.

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