Milei statt Merz

Während Milei als gefeierter Volkspräsident Argentinien radikal umbaut, wirkt Merz im Schatten europäischer Politik weitgehend machtlos – ein krasser Kontrast zwischen internationaler Ikone und absteigender Kanzlerfigur.

picture alliance / ASSOCIATED PRESS | Rodrigo Abd

Am Ende fiel selbst die Provinz Buenos Aires. Argentinien, das Land, in dem der Peronismus mehr als ein halbes Jahrhundert gewütet hat, hat seine Peronisten ein zweites Mal vor die Türe gesetzt. Sieger ist Javier Milei, der Kettensägenmann, der Ministerien und Staatsverschuldung seit Amtsantritt rücksichtslos zerschreddert. Und das, obwohl die Medien – mal wieder – ein enges Kopf-an-Kopf-Rennen, wenn nicht gar ein Scheitern Mileis ankündigten.

Mehr als 40 Prozent erhielt seine Partei La Libertad Avanza (LLA) in den Zwischenwahlen, bei denen die Hälfte der Sitze nee vergeben wurden. Die Möglichkeiten, seine libertäre Politik durchsetzen, sind so gestiegen, auch wenn er die Zustimmung anderer Parteien dazu benötigt. Zahlreich sind die Reflexe der Medien – vor wie nach der Wahl. X-User Argo Nerd, berüchtigt für seine Zusammenschauen des „Vorher-Nachher“-Effekts bei Internet-Schlagzeilen hat bereits eine ansehnliche Sammlung angelegt, wie Journalisten und Redakteure neuerlich ihre Fantasie zum Richtwert der Realität erhoben.

— Argo Nerd (@argonerd) October 27, 2025

Wie bei Meloni und bei Trump hat über Nacht wieder der rechte Gottseibeiuns gewonnen. Vor Milei hat sich kein Blatt für den Zustand Argentiniens interessiert; außer, wenn Inflation und Überschuldung das gebeutelte Land so sehr drückten, dass es zu Aufständen und Ausschreitungen kam – und dann lediglich als eine Meldung unter vielen. Das stolze Argentinien, einst die südamerikanische Vorzeigenation schlechthin und Traumziel deutscher wie italienischer Auswanderer – Milei selbst ist Nachfahre vornehmlich italienischer wie kroatischer Abstammung – hat einen epochalen Niedergang hinter sich.

Milei ist Geschöpf dieser kolossalen Niederwirtschaftung einer großen Nation, die noch in der Nachkriegszeit die wohlhabendste des Kontinents war.

Auffällig die Popstar-Auftritte des Präsidenten nach der Wahl. Da läuft das Staatsoberhaupt zu einer jubelnden Menschenmenge, hüpft in schwarzer Lederjacke auf und ab wie bei einem Rock-Konzert. Das kann man sich nur leisten, wenn klar ist, dass es genügend Leute gibt, die diese Emotion goutieren. Und offenbar ist es eine deutliche Mehrheit im Land.

An 40 Prozent kommt keiner vorbei. National wie international. So „umstritten“ – man sollte den Begriff exakt deswegen verwenden, um ihn möglichst umstritten zu machen – Mileis Reformen sind, so sehr scheint sie Argentinien als letzte Lösung zu akzeptieren. Acht Staatspleiten hat das Land am Río de la Plata hinter sich. Das Risiko einer weiteren nimmt man in Kauf. Das Milei-Experiment ist deswegen ein Strohhalm. Den Argentiniern machen die Auslandsberichte über größere Armut keine Angst. Armut, Verschuldung und Wirtschaftskrise sind ein Dauerzustand.

Insofern sind bereits die argentinischen Erfolgsmeldungen der Vergangenheit genug, um die Wähler zu überzeugen. Kürzlich lästerten deutsche Medien noch über das einbrechende Wirtschaftswachstum Argentiniens. Das bringt die merkwürdige Argentinien-Berichterstattung auf den Punkt: Deutsche Medien sitzen beim Thema im Glashaus. Die Scholz-Habeck-Rezession wurde niemals so kritisch begleitet, obwohl sie vor der Haustüre steht. Dasselbe in der Causa Friedrich Merz.

Sieg entgegen der Umfragen
Milei triumphiert: Seine Partei La Libertad Avanza erzielt einen historischen Triumph
Apropos Merz. Der deutsche Kanzler hatte bekanntlich Milei heftig kritisiert, als der damalige FDP-Chef Christian Lindner dazu aufrief, „mehr Milei und Musk“ zu wagen. Der damalige Oppositionspolitiker Merz sagte: Der argentinische Präsident „ruiniert das Land“ und „er tritt wirklich die Menschen mit Füßen“. Wahlkampf hin, Wahlkampf her: Bis heute ist der Sauerländer nicht zurückgerudert. Der stellvertretende Regierungssprecher Steffen Meyer sagte am Montag auf Nachfrage der dts-Nachrichtenagentur, er wolle die früheren Äußerungen nicht kommentieren.

Aber bleiben wir beim Vergleich zwischen dem hochrossigen Deutschland. Wirtschaft, Finanzen, Armut, Arbeitslosigkeit: Der Milei-Trend zeichnet sich ab, inwiefern der Kurs weitergeht, steht in den Sternen.

Dennoch gibt es offensichtliche Unterschiede, die Merzens Worte unangebrachter denn je erscheinen lassen.

  • Mileis Partei hat einen Volksparteistatus, den die CDU seit über einem Jahrzehnt eingebüßt hat.
  • Der argentinische Präsident ist eine internationale Ikone, während Merz beim diplomatischen Treffen verloren dasteht.
  • Zwei Jahre nach seiner Wahl haben die Argentinier ihren Präsidenten indirekt bestätigt, indes die Union in den Umfragen absackt und die Beliebtheitswerte des Bundeskanzlers im Souterrain übernachten.
  • Milei hat einen direkten Draht zum Weißen Haus und kann sogar auf Finanzhilfen hoffen, um seine Regierung zu stabilisieren, während Merz als Vorsteher Europas größter Volkswirtschaft im Schatten der italienischen Ministerpräsidentin Giorgia Meloni steht.
  • In Argentinien steht eine junge Generation an der Spitze, während im deutschen Kabinett mit Merz weiterhin die Merkel-Generation waltet. Nicht Merkels Erben. Neuerlich: Merkels Generation.
  • Und die Aussicht, dass Merz einmal frenetisch gefeiert wird wie ein Milei, wenn er die frische Luft der Öffentlichkeit sucht, dürfte höchstens in Fantasy-Romanen als Ausdruck einer alternativen Geschichte Platz finden.
  • Besonders bitter: Niemand weiß, wie lange die zerstrittene Koalition aus Union und SPD noch hält. Unkenrufe lesen im Kaffeesatz das vorzeitige Ende dieses Kabinetts. Wenn Merz Pech hat, könnte er bereits aus dem Amt scheiden, während Milei seine nächste Amtszeit als Präsident anvisiert.
  • Die südamerikanische Milei-Lokomotive rast über die patagonischen Gleise in voller Fahrt. Teilweise weiß niemand, wohin. Die deutsche Dampflok steht dagegen auf dem Abstellgleis. Der Besatzung bleibt nur der Geifer.

Noch nie wurde etwas Großes erreicht ohne Risiko. Milei ist dieses Risiko eingegangen.

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