Der Freihandel hätte den Friedensnobelpreis verdient

Die Asylkrise gefährdet die Freizügigkeit von Personen, Waren- und Dienstleistungen und Kapital.

Viele haben darüber spekuliert, ob Angela Merkel wegen ihrer Flüchtlingspolitik den Friedensnobelpreis bekommt. Nun ist doch nichts daraus geworden, und sie muss sich jetzt wohl wieder mit den Folgen ihrer einladenden Geste an die Flüchtlinge in Ungarn beschäftigen. Deren Konsequenz ist wohl viel weitreichender als der aktuelle Flüchtlingsstrom nach Deutschland. Ihr Handeln stellt das wesentliche Element der europäischen Einigung infrage. Dies ist die Freizügigkeit von Personen, Waren- und Dienstleistungen sowie Kapital.

Auf diesen vier Grundfreiheiten basiert die Idee der europäischen Einigung. Die Flüchtlingskrise rüttelt am Fundament dieser Idee. Denn wenn auf der einen Seite die Außengrenzen der EU zu löchrigem Käse werden und gleichzeitig die Flüchtlinge durch halb Europa reisen können, um in die Sozialsysteme ihrer Wahl einwandern zu können, dann mag das durch den Appell der Kanzlerin („Wir schaffen das!“) eine Weile gutgehen, aber schon bei näherer Betrachtung sprengt diese Entwicklung das Fundament der europäische Idee hinweg. Wenn die Personenfreizügigkeit in Europa durch den Bruch der Regeln des Schengener Abkommens infrage gestellt wird, dann dauert es nicht mehr lange, bis auch Waren wieder an der Grenze gestoppt werden und Investitionen im europäischen Ausland von der dortigen Regierung genehmigt werden müssen. Es wäre nicht nur der Schritt in die Vorkriegsjahre des letzten Jahrhunderts, sondern sogar ein Rückfall ins frühe 19. Jahrhundert.

Aus diesem Grund wäre es ein starkes Signal des norwegischen Nobelpreis-Komitees gewesen, wenn es die Chance genutzt hätte, den Freihandel als friedensstiftendes Element des Zusammenlebens auf dieser Welt herauszustellen. Vielleicht hätte das Komitee, den vor 150 Jahren verstorbenen geistigen Vater der Freihandelsidee, den Briten Richard Cobden, postum damit ehren sollen. Damit hätte es den stockenden Verhandlungen der Welthandelsorganisation WTO wieder Lebensmut einhauchen und einen aktiven Beitrag gegen die Armut in dieser Welt leisten können.

Cobden, der in ärmlichsten Verhältnissen als viertes von elf Kindern eines Farmers in Sussex aufwuchs, bekam früh zu spüren, welche Folgen Zölle und Exportsubventionen für die Menschen haben. Sie führten zur Verarmung weiter Teile der Bevölkerung und zu Hungersnöten in England. Doch damals, und in weiten Teilen auch heute noch, glaubten Ökonomen und Politiker, dass die wachsende Zahl der Bevölkerung durch die landwirtschaftliche Produktion nicht ernährt werden könne. Der Glaube, dass dies nur durch eine Politik der staatlichen Geburtenkontrolle erreicht werden kann, ist bis in die heutige Zeit zum Beispiel der Geist der Ein-Kind-Politik in China.

Die Theorie ist nicht nur durch den technischen Fortschritt in der Landwirtschaft, sondern auch durch den Freihandel seit langer Zeit widerlegt. Es herrschen in Teilen dieser Welt nicht deshalb Hungersnöte, weil es zu wenig zu essen gibt, sondern weil sich Länder und Regionen abschotten, ihre Unternehmen einseitig subventionieren und Entwicklungs- und Schwellenländer hindern, ihre Waren auf dem Weltmarkt anzubieten. Viele Länder tragen durch Kriege, Korruption und Vetternwirtschaft zu dieser Mangelwirtschaft bei. Und auch die Politik der Abwertung der eigenen gegenüber der fremden Währung ist eine moderne Form der Subvention. Sie ist die subtile Art, der Exportwirtschaft einen ungerechtfertigten Vorteil zu verschaffen.

Offene Märkte, so Cobdens Botschaft, nutzen dagegen nicht nur wenigen Privilegierten, sondern allen. Denjenigen, die Waren produzieren, und denjenigen, die diese kaufen wollen. Dabei ist es unerheblich, ob diese im eigenen Land beheimatet sind oder in einem fremden Land. Und sein entscheidendes Erbe für die heutige Zeit ist, dass wahrscheinlich keine Entwicklung friedensstiftender ist, als der Freihandel. Wer Handel treibt, sich austauscht, sich als Unternehmer in die Abhängigkeit der Konsumenten begibt, greift nicht zur Waffe, damit die Waren gekauft werden, sondern er hegt und pflegt seine Kunden, damit sie wiederkommen und noch mehr Waren von ihm kaufen.

Der verhinderte Preisträger Cobden schrieb schon im April 1842: „Der Freihandel wird unweigerlich, indem er die wechselseitige Abhängigkeit der Länder untereinander sichert, den Regierungen die Macht entreißen, ihre Völker in den Krieg zu stürzen.“

Erschienen in der FZ vom Samstag, 10. Oktober 2015

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