„Mehr Flüchtlinge aufnehmen“ – und wenn ja, wie viele?

Die jüngste Flüchtlingskatastrophe vor der libyschen Küste hat eine heftige Debatte ausgelöst. Kann Europa tatenlos zusehen, wie Menschen vor unseren Augen ertrinken, nur weil sie Krieg und Elend zu entfliehen versuchen oder für sich und ihre Familien schlichtweg ein besseres Leben anstreben? Die ebenso brisante Frage lautet: Macht Europa sich durch seine als „Abschottung“ gebrandmarkte Politik nicht mitschuldig am Tod von Menschen? 




Natürlich kann eine sich als Wertegemeinschaft verstehende Union dem Flüchtlingselend auf dem Mittelmeer nicht tatenlos zuschauen. Deshalb sind die Pläne, die Seerettung zu verbessern, im Prinzip richtig. Ebenso wichtig wäre, dass sich die europäischen Länder endlich darauf verständigen, wie viele Flüchtlinge jedes Mitgliedsland entsprechend seiner Bevölkerungszahl und Wirtschaftskraft aufnimmt.

Deutschland kommt seinen Verpflichtungen nach

Zur Erinnerung: Rund 630.000 Menschen haben im vergangenen Jahr in der EU Asyl beantragt, davon 203.000 allein in Deutschland. In der Rangliste der Aufnahmeländer folgen Schweden (81.000), Italien (65.000), Frankreich (64.000), Ungarn (43.000) und Großbritannien (32.000). Drei Viertel aller Asylsuchenden konzentrierten sich 2014 also auf diese sechs der 28 EU-Staaten.

Vertreter der These, die Bundesrepublik müsste aufgrund seiner Größe und seines Wohlstands viel mehr Schutzsuchende ins Land lassen, verweisen gerne darauf, wir lägen im Verhältnis zur Bevölkerungsgröße im Europa der 28 „nur“ auf Platz 6. Was aber gerne übersehen beziehungsweise bewusst verschwiegen wird: Bei der Wirtschaftskraft, gemessen am Bruttoinlandsprodukt je Kopf, liegt die Bundesrepublik innerhalb der EU nach Luxemburg, Norwegen, Dänemark, Schweden und anderen lediglich auf Platz 9. Davon, dass die „reiche Bundesrepublik“ ihren humanitären Verpflichtungen nicht nachkäme, kann also nicht die Rede sein.

Die humanitär notwendige Seenotrettung hat freilich eine Kehrseite. Mit jeder Rettung eines Flüchtlings vor dem Ertrinken wird das „Geschäftsmodell“ der kriminellen Schleuser stabilisiert und mit dem Geld der Steuerzahler eine schmutzige Milliarden-schwere Branche subventioniert. Denn diese Menschenhändler, die Schutzsuchende auf seeuntauglichen Schiffen auf die Reise schicken, können dies nur tun, weil sie die Rettungsmaßnahmen der Europäer kühl einkalkulieren. Je mehr Flüchtlinge gerettet werden, umso besser fürs Geschäft.

Es ist deshalb richtig und wichtig, wenn die Europäer über ein „robustes“ Mandat für den Einsatz von Kriegsschiffen gegen die Schlepper-Boote nachdenken. Solche Schiffe sollen gestoppt und nach Rettung der Insassen zerstört werden. Noch besser wäre es, die Schiffe würden gleich nach dem Auslaufen aufgebracht und dorthin zurückgeschickt, wo die Schiff abgelegt haben. Auf diese Weise würde das ebenso schmutzige wie gefährliche Geschäft der Schlepper stark beeinträchtigt. Wer würde Tausende Dollar zahlen, wenn die Wahrscheinlichkeit, jemals übers Mittelmeer zu kommen, viel geringer wäre als heute?

Wer wirklich verhindern will, dass kriminelle Schleuser mit seeuntauglichen Schiffen Flüchtlinge in Lebensgefahr bringen, müsste konsequenter die Flüchtlinge selber mit Schiffen und Fähren an der nordafrikanischen Mittelmeerküste abholen. Das ist aber leichter gesagt als getan. Denn je mehr Schiffe wir schickten, umso mehr Flüchtlinge kämen. Zurzeit fliehen nämlich nur die, die es sich leisten können, pro Person mehrere Tausend Dollar die Schleuser zu zahlen. Auf die EU-Schiffe würden aber auch die Armen drängen, denen das Geld für eine Flucht unter den derzeitigen Bedingungen fehlt.

Eine so von der EU gesteuerte Überfahrt von Flüchtlingen setzte voraus, dass vor Betreten der Schiffe geprüft würde, ob hinreichende Gründe für die Gewährung von Asyl oder für ein Aufenthaltsrecht gemäß Genfer Konvention vorliegen. Wer durch dieses Raster fällt, würde sich – sofern er es sich leisten kann – weiterhin Hilfe bei Schleusern suchen. Das Ergebnis: Parallel zu einem geordneten Zuzug von Flüchtlingen gäbe es weiterhin illegale Versuche, nach Europa zu kommen. Die Folge: Insgesamt kämen noch mehr Menschen aus Afrika und Asien nach Europa als bisher.

Rationales und humanitäres Denken kollidieren

Hier prallen also rationales und humanitäres Denken aufeinander. Bei nüchterner Betrachtung kommt man zu dem Ergebnis, dass Europa und insbesondere das bei Flüchtlingen so beliebte Deutschland nicht alle Menschen, die – aus welchen Gründen auch immer – hierher wollen, aufnehmen können. Das überstiege unsere Ressourcen – nicht zuletzt auch mit Blick auf die Integrationsfähigkeit einer Gesellschaft. Die Bereitschaft der Bevölkerung, Flüchtlingen zu helfen, ist erfreulicher Weise viel größer als noch zu Beginn der neunziger Jahre. Aber die Bürger unterscheiden – anders als viele Politiker und Meinungsmacher – sehr genau zwischen Flüchtlingen, die Schutz vor Krieg und politischer Verfolgung suchen, und solchen, denen es „nur“ um eine bessere Lebensperspektive geht.

Bei allen Überlegungen muss gelten: Für politische Flüchtlinge, die bei uns Asyl suchen, kann und darf es keine zahlenmäßige Obergrenze geben. Das widerspräche dem Asyl-Artikel im Grundgesetz. Wir kennen auch keine zahlenmäßige Begrenzung der Kriegsflüchtlinge, die nach der Genfer Konvention zu uns kommen. Deshalb bekommen rund 30 Prozent derer, die Asyl beantragen, ein Bleiberecht – 70 Prozent aber nicht.




„Mehr Flüchtlinge“ ist unehrlich

Wer dennoch fordert, wir dürften aus humanitären Gründen nicht zwischen politischen Flüchtlingen, Kriegsopfern und sogenannten Armutsflüchtlingen unterscheiden, soll zuerst einmal sagen, wie viel Flüchtlinge insgesamt Deutschland pro Jahr aufnehmen soll – 200.000, 500.000, eine Million oder noch mehr? Er soll sagen, nach welchen Kriterien – jenseits von Artikel 16a Grundgesetz und Genfer Konvention – die Auswahl und Aufnahme erfolgen soll. Und er soll sagen, was das kosten wird. Erst dann kann man über die Forderung, „endlich mehr für Flüchtlinge zu tun“, ernsthaft diskutieren. Genau dies aber vermeidet die „Mehr-Flüchtlinge-Fraktion“: weil sie eine ehrliche Auseinandersetzung über die Möglichkeiten und Grenzen unserer Aufnahmebereitschaft scheut. Deshalb ist die Forderung, „mehr Flüchtlinge“ aufzunehmen, auch typisch gutmenschlich – nämlich unaufrichtig und unehrlich.

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