Im Sechs-Parteien-System gelten alte Gewissheiten nicht mehr

Das Sechs-Parteien-System hat eine fatale Konsequenz: Der Wähler weiß vor der Wahl so gut wie nie, was er mit seiner Stimmabgabe bewirkt.

© Adam Berry/Getty Images

In der guten alten Bonner Republik war es schön einfach. Da gab es seit den 1980er-Jahren zwei Lager: Schwarz-Gelb und Rot-Grün. Die einen regierten, und die anderen opponierten, je nach Wahlausgang. Falls es aber für eine Zweier-Koalition nicht reichte, galt das Bonner Grundgesetz: Für eine Große Koalition reicht es immer.

Das waren noch Zeiten. Heute ist nicht alles anders, aber vieles. Zunächst einmal gilt die Gleichsetzung von Großer Koalition mit Schwarz-Rot oder Rot-Schwarz nicht mehr. Denn unter Großer Koalition verstand man jahrzehntelang ein Bündnis der beiden stärksten Parteien. Das sind aber nicht zwangsläufig CDU und SPD. So fiel die CDU 2009 in Brandenburg hinter den Linken auf den dritten Platz zurück, in Bremen 2011 hinter den Grünen. Die damals gebildete rot-rote und rot-grüne Regierung war also genau genommen jeweils eine Große Koalition. Auch die seit Frühjahr 2016 in Baden-Württemberg regierende grün-schwarze Koalition ist eine GroKo: Denn Grüne und CDU sind die beiden stärksten Parteien.

Jenseits der politischen Semantik hat sich noch viel Gravierenderes getan. CDU und SPD können keineswegs überall, selbst wenn sie wollten, eine GroKo bilden. Das war schon 2014 in Thüringen der Fall und wiederholte sich 2016 in Baden-Württemberg, Sachsen-Anhalt und jetzt in Berlin. Die beiden „Großen“ sind zu klein, um es gemeinsam zu schaffen.

Unsere Parteienlandschaft hat tektonische Verschiebungen erlebt, wie wir sie uns noch vor wenigen Jahren kaum hätten vorstellen können. So gibt nur noch ein einziges Land, in dem eine Partei die absolute Mehrheit hat: das CSU-regierte Bayern.

Nach der Berlin-Wahl gibt es nur noch in zehn der 16 Bundesländer Zweier-Koalitionen:

  • 4 Mal Rot-Grün in Nordrhein-Westfalen, Niedersachsen, Hamburg und Bremen;
  • 3 Mal Schwarz-Rot (Sachsen, Saarland) oder Rot-Schwarz (Mecklenburg-Vorpommern);
  • 2 Mal Schwarz-Grün (Hessen) oder Grün-Schwarz (Baden-Württemberg);
  • 1 Mal Rot-Rot in Brandenburg.

In der neuen „bunten Republik“ scheint die Dreier-Koalition dagegen im Trend zu liegen. Es regieren

  • eine „Ampel“ (SPD, FDP, Grüne) in Rheinland-Pfalz
  • eine „Kenia“-Koalition in Sachsen-Anhalt (CDU, SPD, Grüne)
  • Rot-Rot-Grün in Thüringen und demnächst wohl in Berlin;
  • die „Dänen“-Ampel in Schleswig-Holstein (SPD, Grüne, SSW).

Die drastischen Veränderungen auf der politischen Landkarte zeigen sich auch anderen Stellen:

  • Es gibt keine einzige schwarz-gelbe Koalition mehr.
  • Die SPD ist in Sachsen und Thüringen nur die Nummer drei nach CDU und Linken, in Sachsen-Anhalt und Baden-Württemberg sogar nur viertstärkste Kraft noch hinter der AfD.
  • Die CDU ist in Mecklenburg-Vorpommern schwächer als die AfD.
  • Die AfD erreichte in Sachsen-Anhalt und Mecklenburg-Vorpommern jeweils Rang zwei, in Baden-Württemberg Rang 3.

Wer nicht so realitätsblind ist wie CDU-Generalsekretär Peter Tauber und nicht an das schnelle Verschwinden der AfD („wie die Piraten“) glaubt, der tut gut daran, sich auf ein Sechs-Parteien-System einzustellen. Auf Bundesebene sähe das so aus: die Union mit um die 30 Prozent, die SPD mit gut 20 Prozent sowie vier weitere Parteien, die jeweils für Ergebnisse zwischen 5 und 15 Prozent gut sind. Das wiederum macht die klassischen Koalitionsmodelle, Schwarz-Gelb und Rot-Grün unwahrscheinlich. Deshalb werden wir uns an bisher ungewohnte Konstellationen gewöhnen müssen: Ampel, Jamaika, Kenia.

Hierbei geht es nicht nur um Farbenspiele. Mehr Parteien in den Parlamenten bedeuten einerseits, dass mehr Meinungen vertreten sind. Andererseits erzwingen sie geradezu Dreier-Koalitionen. Ohne Kompromisse sind aber Koalitionen nicht möglich. In Dreier-Koalitionen werden jedoch zwangsläufig noch mehr Positionen der beteiligten Parteien auf dem Koalitionsaltar geopfert als in klassischen Zweier-Beziehungen. Die unausweichliche Folge: Noch mehr Wähler sind enttäuscht, dass „ihre“ Partei so wenig von dem einhält oder einhalten kann, was sie vor der Wahl versprochen hat. Das birgt die Gefahr, dass die Parteienverdrossenheit weiter wächst, was wiederum tendenziell die linken und rechten Ränder stärkt.

Im Sechs-Parteien-Parlament wird noch eine weitere Gewissheit außer Kraft gesetzt: Die Opposition von heute ist nicht mehr die potentielle Regierung von morgen, wie das zu Zeiten von Schwarz-Gelb und Rot-Grün üblich war. Diese Pärchen wurden gewählt, abgewählt, wiedergewählt. Das ist vorbei. Wenn eine Dreier-Koalition ihre Mehrheit verliert, ist durchaus möglich, dass sich zwei Regierungsparteien einen
Neuen dritten Partner suchen. Was nicht gerade dem parlamentarischen Ideal entspricht.

Das hat eine fatale Konsequenz: Der Wähler weiß vor der Wahl so gut wie nie, was er mit seiner Stimmabgabe bewirkt. Wer zum Beispiel CDU wählt, um Rot-Grün zu verhindern, kann hinterher von Schwarz-Rot-Grün regiert werden. Wer der SPD seine Stimme gibt, um die CDU von der Regierung fernzuhalten, muss gegebenenfalls die Bildung einer Deutschland-Koalition aus CDU, SPD und Grünen hinnehmen. Willkommen in der neuen bunten Republik. Ihr parlamentarisches Motto lautet: Anything goes.

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