Die „Agenda 2010“ war geplant, Merkels Flüchtlingspolitik nicht

Mit der Grenzöffnung für alle Flüchtlinge hat Merkel einen radikalen Kurswechsel vorgenommen. Oft wird das mit Schröder und seiner "Agenda 2010" verglichen. Doch Schröder regierte mit einer Vorstellung, wie sich Deutschland verändern sollte.

Am 4. September hat Angela Merkel die deutschen Grenzen faktisch für Jedermann geöffnet. Zwei Wochen später hat sie Kritik an dieser Entscheidung so zurückgewiesen: „Wenn wir jetzt anfangen, uns noch entschuldigen zu müssen dafür, dass wir in Notsituationen ein freundliches Gesicht zeigen, dann ist das nicht mein Land.“ Seitdem wird die Kanzlerin mit Gerhard Schröder verglichen, der mit seiner „Agenda 2010“ im März 2003 getan habe, was seiner Meinung nach getan werden musste, und damit seine Kanzlerschaft aufs Spiel gesetzt hat.

Richtig ist: Merkel wie Schröder haben einen abrupten Kurswechsel vorgenommen, ihre Parteien vor vollendete Tatsachen gestellt, dabei ihre die eigene innerparteiliche Position geschwächt und überdies heftige öffentliche Proteste ausgelöst.

Noch eine Parallele: Schröder hat durch seine Abkehr vom Vollkasko-Sozialstaat die politischen Kräfte am linken Rand gestärkt. Zusammen mit der SPD-Abspaltung WASG gelang der ostdeutschen PDS die lange angestrebte Westausdehnung samt ihrer Etablierung im Parteiengefüge.

Merkel droht keine Abspaltung von der CDU. Selbst die CSU wird eingedenk schlechter Erfahrungen nicht noch einmal eine Aufkündigung der Fraktionsgemeinschaft samt Ausdehnung über die bayerischen Grenzen hinaus erwägen. Doch ist die Stärkung der rechtspopulistischen AfD unübersehbar. Ohne ihre ausgetretene Professoren-Riege bedient die AfD noch unverhohlener vorhandene Ressentiments gegen Zuwanderer, die uns angeblich „unser Deutschland wegnehmen“ wollen. Das wird auch die CDU Stimmen kosten.

Doch hier enden die Parallelen zwischen „Agenda“-Schröder und „Grenzöffnung“-Merkel. Denn es gibt mehrere entscheidende Unterschiede:

Schröder agierte, Merkel reagiert.

Schröder hatte klar erkannt, dass der deutsche Vollkasko-Staat am Ende war. Er antwortete darauf mit einschneidenden Reformen, wofür die fünf Wirtschaftsweisen in ihrem Jahresgutachten eine Blaupause geliefert hatten.

Ganz anders Merkel. Sie war mit der unerträglichen Lage der Flüchtlinge in Ungarn konfrontiert, entschied sich für eine humanitäre Antwort und machte Deutschland als Wunschziel für Millionen Menschen noch attraktiver. Es war eine ad-hoc-Entscheidung, nicht Bestandteil eines Plans.

Schröder brachte das Land voran, bei Merkel ist das ungewiss.

Man muss Gerhard Schröder wegen seiner Arbeitsmarktreformen nicht gleich heilig sprechen. Zum Teil hat er von 2004 an lediglich Fehler aus seiner ersten Regierungszeit korrigiert. Denn die von ihm als „unsozial“ zurückgenommenen Reformen seines Vorgängers Kohl führt er später wieder ein – in verschärfter Form.

Gleichwohl: Schröder hat die Grundlagen für das „German Jobwunder“ gelegt und Deutschland als „krankem Mann Europas“ wieder auf die Sprünge geholfen.

Welche Folgen Merkels Flüchtlingspolitik noch haben wird, kann niemand wissen. Doch bestehen erhebliche Zweifel, ob der Zustrom so vieler Menschen aus fremden Kulturen und ohne qualifizierte Ausbildung Deutschland wirklich guttun kann. Selbst die Wirtschaftsverbände sind inzwischen von ihrer Vorstellung abgerückt, unter den Flüchtlingen befänden sich fast nur hochqualifizierte Fachkräfte. Wenn selbst Arbeitsministerin Andrea Nahles einräumt, allenfalls jeder Zehnte könne sofort ausgebildet oder gar eingestellt werden, spricht das Bände. Ohnehin muss man sich fragen, warum Österreicher, Franzosen, Niederländer oder Engländer einfach darauf verzichten, sich die mit dem Zustrom angeblich verbundene „Bereicherung“ selbst zunutze zu machen.

Schröder stand innerparteilich unter stärkerem Druck

Die Abkehr von einer dem linken SPD-Flügel wie den Gewerkschaften genehmen Sozialpolitik führte in der Partei damals fast zu einer offenen Rebellion. Schröder rettete die Kanzlerschaft, indem er den Parteivorsitz an Franz Müntefering abtrat. Auch musste die SPD wegen der „Agenda“ drastische Stimmenverluste hinnehmen: minus 14 Prozentpunkte im Saarland, minus 9 in Bayern. Der Tiefpunkt: Die Abwahl von Rot-Grün in Nordrhein-Westfalen. Schröder musste die Reißleine ziehen: Nur durch Neuwahlen konnte er die Partei zusammenhalten.

Merkel ist da in einer besseren Position. Sie erlebt zwar für CDU-Verhältnisse ungewohnt offenen und scharfen Widerspruch in Partei und Fraktion. Doch steht das Führungspersonal ebenso loyal zu ihr wie die großen, mitgliederstarken westdeutschen Landesverbände. Zudem wird sie der Wahlkalender begünstigen. Wahlerfolge der AfD in Baden-Württemberg und Rheinland-Pfalz bedeuteten das Ende von Grün-Rot bzw. Rot-Grün. In Sachsen-Anhalt würde eine starke AfD Rot-Rot-Grün vereiteln und Rot-Schwarz festigen.

Nicht alles was hinkt, ist ein Vergleich

Noch ein gravierender Unterschied: Schröders Arbeitsmarktreformen beeinflusste nur für einen relativ kleinen Teil der Bevölkerung das Leben. Für alle, die nicht von staatlichen Transferleistungen leben und nicht von Dauerarbeitslosigkeit betroffen oder bedroht waren, also die ganz große Mehrheit, änderte sich durch die „Agenda“ direkt nichts.

Die Folgen des anhaltenden massiven Zustroms von Asylbewerbern, Kriegsflüchtlingen und Armutsmigranten werden dagegen für die Mehrheit der Einheimischen zu spüren sein. Sollten in den nächsten Jahren tatsächlich 10 Millionen Fremde zu uns kommen, wird sich Deutschland dramatisch verändern und vor unkalkulierbaren Herausforderungen stehen: kulturell, integrationspolitisch und finanziell.

Fazit: Merkel riskiert ebenso wie Schröder sehr viel. Schröders Risiko war ein machtpolitisches, Merkel hingegen könnte uns ein anderes Land hinterlassen. Es lebe der kleine Unterschied.

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