Merkels Inzidenz: Vernebelndes und Erhellendes aus Kanzlerinnenmund

Neben einer atemberaubenden neuen Variante der Inzidenzberechnung offenbart Angela Merkel ganz nebenbei ihre Beweggründe zur Einführung des Bundeslockdown: Die Verwaltungsgerichte und der Gleichbehandlungsgrundsatz waren einfach zu ärgerlich.

IMAGO / photothek
Angela Merkel

Manchmal fragt man sich, ob die Regierenden sich über den Sinn ihrer Worte ganz im Klaren sind. Bei der obersten Regierenden Merkel scheint das verwirrende Sprechen zur Methode zu gehören: Wer nicht wirklich verstanden wird, kann schließlich auch nicht klar kritisiert werden.

Ein Beispiel dafür gab Merkel etwa in der Pressekonferenz nach dem Impfgipfel. O-Ton: „Wir werden immer mehr Geimpfte haben, aber immer noch einen relevanten Teil der Bevölkerung, der nicht geimpft ist. Das heißt, wenn wir 50 Prozent doppelt Geimpfte haben, von denen kein Infektionsrisiko mehr ausgeht, und 50 Prozent der Bevölkerung sind nicht geimpft, dann bedeutet im Grunde eine Inzidenz von 100 in der Gesamtbevölkerung, dass für die Nichtgeimpften – nur die ist ja von der Erkrankungswahrscheinlichkeit betroffen, im Grunde eine Inzidenz von 200 besteht. Das heißt, wir haben dann immer noch ein erhebliches Risiko für das Gesundheitssystem…“

— henning rosenbusch (@rosenbusch_) April 27, 2021

Verdoppelung der Inzidenz bei 50 Prozent Impfquote? Will die promovierte Physikerin Merkel damit eine neue Inzidenzberechnungsmethode einführen? Je höher der Prozentsatz der Geimpften, desto gefährlicher die Inzidenz? Also bei 75 Prozent Geimpften dann eine Vervierfachung der Inzidenz?

Solcher Kanzlerinnen-Quatsch – ausführlich hier nachzulesen – ist womöglich eher dadurch motiviert, dass Merkel einfach ein bißchen über die Inzidenz reden will, damit diese Zahl, die zwar wenig über die tatsächliche Gefährdungslage in der Pandemie aussagt, aber nun einmal von ihr zum alles bestimmenden Maß der „Bundesnotbremse“ erkoren wurde, nicht in Vergessenheit gerät. „Inzidenz“ und „erhebliches Risiko“, auf diesen Akkord kam es Merkel vermutlich an.

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Dass die Kanzlerin ihre Zuhörer im 17. Jahr ihrer Regierung immer weniger ernst nimmt, und zu ihnen meist eher wie eine Lehrerin zu ihrer Schulklasse spricht, zeigte sie auch im Video-„Bürgerdialog“ mit Angehörigen des Kulturbetriebs (um sie nicht „Kulturschaffende“ zu nennen). Bei der Antwort auf die Frage einer Buchhändlerin, was man tun könne, damit es „nicht wieder zu einem ständigen Wechsel kommt“, entfleuchten Merkel Sätze, die wohl weniger die Sorge der Händlerin, als vielmehr ihre eigenen betreffen, die sie sich schließlich durch den Inzidenz-Bundeslockdown-Automatismus vom Hals schaffte:

„Was können wir tun, damit das nicht durch Gerichte wieder infrage gestellt wird? Dadurch, dass wir jetzt ein Bundesgesetz gemacht haben, kann es nur durch das Bundesverfassungsgericht noch überprüft werden, das heißt also, man hat nicht die verschiedenen Verwaltungsgerichts-Entscheidungen. […] Und was hat die Sache noch mal erschwert? Dass verschiedene Gerichtsentscheidungen immer nach dem Gleichbehandlungsgrundsatz gehen. Also dann wird gesagt, ok, Buch ja, Computerfestplatte nein, ist das richtig? Da gab’s Gerichtsentscheidungen, die gesagt haben, nein, da muss auch der Computershop aufgemacht werden. Und schwups ist man in einer Bahn, wo dann alle Geschäfte auf sind.“

Die Justiz in den Ländern war ihr also allzu lästig, die die Rechtmäßigkeit von Corona-Maßnahmen im Hinblick auf den Gleichbehandlungsgrundsatz prüfte. Wie praktisch, wenn entsprechende Klagemöglichkeiten für die sich ungleich behandelt Empfindenden einfach durch ein Bundesgesetz abgeschafft werden können. Für weitere Verfassungsbeschwerden hat die Kanzlerin durch dieses Bekenntnis ein schlagendes neues Argument geliefert.

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