Dieser SPIEGEL muss sofort ins Haus

Das ist endlich einmal wieder ein Titel typisch Spiegel: „Die Verführung“. Er geht dahin, wo es weh tut, deckt auf, wie sich Persönlichkeiten in Deutschland und Österreich in den Dunstkreis des Kasachischen Diktators Nasarbajew locken und von diesem instrumentalisieren ließen. Dabei werden ‚,Denkmäler“ wie Köhler, Schily und Schröder lädiert. Und diejenigen, die immer wieder darüber lamentieren, dass uns „die da oben“ verkaufen, erhalten reichlich Munition.

Die Titelstory ist ein Meisterwerk von Sven Becker, Jürgen Dahlkamp, Gunther Latsch, Walter Mayr und Jörg Schmitt. So, wie der alte Augstein es gefordert hat, nehmen die Spiegel-Redakteure den Leser mit zu konspirativen Treffen, präsentieren Belege und benennen die, die ihre Hand offen hielten – wobei nicht alle genannten Politiker sich als Söldner bei Nasarbajew verdingten. Ein wenig vermisse ich dabei den Blick über den Gartenzaun: Es gibt offenkundig eine kaufkräftige Nachfrage nach Lobbyarbeit. Und von Adam Smith wissen wir, dass kaufkräftige Nachfrage stets auf Anbieter trifft, die eine Problemlösung anbieten. Ist durchschlagskräftiger Lobbyismus in einer offenen Demokratie überhaupt zu verhindern? Wie ist es in Diktaturen und Monarchien? Die römischen Kaiser und ihre Kammerherren waren für Gunstbeweise auch recht empfänglich. Müssten Spitzenpolitiker einfach höher honoriert werden oder sollten sie durchweg nur aus vermögenden Familien stammen, um nicht käuflich zu sein? Allerdings: In den USA fiel die Familie Bush in diesem Sinne auch nicht positiv auf.

…und das sind unsere Sonntags-Noten von 1 bis 6:

1  Sofort abonnieren 2  Sofort zum Kiosk und kaufen 3  reicht auch nächste Woche noch 4  ignorieren 5  Abo kündigen/kommt mir nicht ins Haus 6  Braucht man nicht

Der Spiegel bietet in dieser Woche breiten, unterhaltsamen, stilistisch und journalistisch guten bis sehr guten Lesestoff. Mitunter lernt man zudem Interessantes: etwa, dass es für Landwirte Spezialzeitschriften und Wettbewerbe für Kuhfrisuren gibt und dass in Ostpolen Züchter afrikanische Schnecken heranziehen, deren Leber jetzt Gourmets in Paris und Madrid als Delikatesse aufgeschwatzt werden soll.

Der neue Wirtschafts-Vordenker stellt sich vor

Der Leitartikel „An der roten Linie“ kommt von Michael Sauga, der als neuer Chef des Berliner Spiegelbüros wohl künftig der wirtschaftspolitische Vordenker des Nachrichtenmagazins sein wird. Der Glaube daran, dass bei einem Währungsverfall Griechenland künftig hohe Exportüberschüsse erwirtschaften könnte – Käse und Obst, Pillen und Cremes sind die wichtigsten Exportprodukte – fehlt mir. Für Verwirrung mag sorgen, dass in der gleichen Ausgabe Saugas Kollegen Peter Müller, René Pfister und Christian Reiermann einen möglichen Dissens zwischen Schäuble und Merkel in der Griechenlandfrage beschreiben. Das Gegeneinander von wirtschaftspolitischer und parteiinterner Perspektive sollte die Redaktion intern ausfechten und nicht auf den Leser abwälzen. Ein Muss für jahrzehntelange Spiegelleser: RAF-Experte Michael Sontheimer hat nach 40 Jahren publizistischer Begleitung die Ermittlungen in den letzten offenen Fragen des RAF-Terrorismus für abgeschlossen erklärt. Wenn einer der größten Kenner dieser Materie das feststellt, ist es so. Nach Einstellung der Verfahren gegen sechs ehemalige RAF-Mitglieder an Generalbundesanwalt Siegfried Buback hat er hat noch einmal mit Bundesanwalt Walter Hemberger, Michael Buback, dem Sohn des Ermordeten, und dem einstigen RAF-Mitglied Peter-Jürgen Book gesprochen. Dessen Fazit: Die RAF war ein „heilloses“ Unternehmen.

Was ist Arbeit wert und Sarah Wagenknecht?

Lange hat die Gewerkschaft Ver.di nach dem Schlüsselthema gesucht, der den Mitgliederschwund aufhalten sollte. Seit der Jahrtausendwende hat die Dienstleistungsgewerkschaft rund 30 Prozent Mitgliederschwund zu verzeichnen. „Was ist Arbeit wert?“ Diese Frage, steht nicht nur in den Arbeitskämpfen der Erzieher/innen im Mittelpunkt. Jetzt nährt sich daraus auch der Poststreik, allerdings mit vollkommen anderen Vorzeichen als bei den Erziehern. Wer in die Struktur und das Denken des ehemaligen Bundesunternehmens und die Grenzen und Möglichkeiten einer Zwei-Millionen-Mitglieder-Gewerkschaft eindringen will, sollte den faktenreichen Beitrag „Das schafft fast keiner“ von Frank Dohmen, Kristiana Ludwig und Armin Mahler lesen. Highlights sind für mich die Artikel „In Richtung Demokratie“ von Özlem Gezer und „Die Salman-Doktrin“ von Bernhard Zand: Was sich in Saudi-Arabien ankündigt und in der Türkei, ist für Europa essenziell. Jan Fleischhauer weist im schwarzen Kanal darauf hin, dass er der Spezialist für die Geschichte des Kommunismus und Stalinismus ist. Warum machte dann sein Kollege im letzten Heft das Interview mit der Immer-noch-Stalinistin Sahra Wagenknecht allein?  Sehr anrührend ist der „Nachruf auf niemand“. Guido Mingels setzt Pabitra Biswas, einem Müllsammler aus Delhi, stellvertretend für die 2.500 Hitzetoten in Indien ein essayistisches Denkmal.  

Mein Fazit: Note 1 – Nichts wie los, sofort abonnieren.

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