DER SPIEGEL Nr. 13 – Die gefährliche Rückkehr der Religion

Auf dem Titel droht das Kreuz: Geht derzeit vom Christentum Bedrohung aus? DER SPIEGEL vermeidet die Antwort auf die Frage: Was passiert mit einer säkularen Gesellschaft, wenn sie plötzlich diesem archaischen Ansturm ausgesetzt ist? Damit wird er zum Teil des Problems.

Die Titelzeile zum Oster-SPIEGEL selbst liest sich vielversprechend. Hatte doch gerade in der zurückliegenden Woche Carsten Kengeter, der Chef der Deutschen Börse lauthals verkündet, dass die von ihm angestrebte Fusion mit der Londoner Börse LSE „gottgewollt“ sei. Seit Jahrtausenden legitimierten die Herrschenden sich und ihr Handeln, indem sie sich auf göttlichen Beistand oder die Vorsehung beriefen, sich wahlweise zu Gottkönigen respektive Gottkaisern oder – in neuerer Zeit – zu Oberhäuptern ihrer Kirche erklärten. Ist ja auch sehr praktisch: Man macht sich immun gegen Widerstände, demokratische Bestrebungen werden geradezu überflüssig, Rationalität ausgehebelt. Auf dem Titel schlägt uns ein Kreuz entgegen. Ist das Christentum derzeit die Religion, die uns Probleme macht? Oder hat der Titel überverkauft, was der Text nicht hält, nicht halten kann?

Journalistisches Mittelalter

Zu lesen gibt es dann journalistisches Mittelalter: etwa genauso unaufgeklärt, wie die im Text beschriebenen fundamentalistischen Gruppierungen. Ein Potpourri der plakativsten Art. Nichts darf fehlen und nichts passt so richtig zusammen: ein zunehmend areligiöses Europa, in dem der Schokoladenosterhase weit mehr Sympathien genieße als die christliche Botschaft von Tod und Auferstehung; ein Donald Trump, der die Evangelikalen der USA entzücke und damit die konservativen Strömungen weiter nähre; die Pfingstkirchen in Südamerika und Afrika, die wahlweise die Mächtigen vor sich her treiben oder von diesen instrumentalisiert würden; die Nähe von Putin zum Oberhaupt der russisch-orthodoxen Kirche – oder umgekehrt -, die ultraorthodoxen Juden und schließlich die eine tumbe und archaische Horde selbsternannter islamischer Gotteskrieger. Und damit die These auch passt, wird den fundamentalistischen Christen in Afrika unter Berufung auf Eberhard Kamphausen von der Missionsakademie der Universität Hamburger eine „geistliche Kriegsführung“ beschieden. Das ist ein missbrauchter Glaube an die Seriosität des SPIEGEL.

Den Tiefpunkt erreicht der Titel, dessen These bar jeder Einschätzung von außen bleibt, in der Formulierung:

„Natürlich putschen nicht nur durchgeknallte Christen ihre Anhänger auf. Muslimische Extremisten nutzen dafür angebliche Worte Mohammeds oder religiöse Legenden.“

Die tiefe und echte Religiosität, die die allermeisten Anhänger der evangelikalen Bewegungen praktizieren, hat mit dem beschriebenen Fanatismus nichts gemein. Sie in einem Atemzug mit verblendeten Terroristen zu nennen, zeugt weder von Differenzierungsfähigkeit noch von dem Willen, religiöse Beweggründe verstehen zu wollen. Nicht alles, was irritiert, ist Fanatismus. Insofern steckt hinter der Zeile „Gottes unheimliche Macht“ schon wieder eine echte Ostergeschichte. Auch wenn die Autoren das nicht intendiert haben dürften.

So bleiben auch wichtige Fragen unbeantwortet: Warum stammen viele der Dschihadisten aus säkularen Familien – die ihre Kinder nicht mehr verstehen? Warum sind viele Konvertiten unter den fanatisierten Muslimen in Europa, die gegen Europa oder in Syrien in den Krieg und Terror ziehen? Was passiert mit einer säkularen Gesellschaft, wenn sie plötzlich diesem archaischen Ansturm ausgesetzt ist? Es ist ja gerade die Hilflosigkeit im Umgang, die so beunruhigend ist – und der SPIEGEL ist Teil davon: Er verortet plakativ Verantwortung bei Christen, obwohl die Bomben von Muslimen gezündet werden.

Warum ausgerechnet Belgien zum mitteleuropäischen Terrornest geworden ist, zeichnet die Redaktion in „Nagelbomben an Gate B“ nach. Da hätte ein guter Titel geholfen, die Prozesse besser zu verstehen.

Politisierte Rechtspolitik

Was erwartet den Leser über den Titel hinaus? SPD-Chef Sigmar Gabriel schaut in diesem Heft noch trauriger aus als auf anderen SPIEGEL-Bildern. Frauke Petry bekommt gleicht fünf Bilder auf dreieinhalb Seiten, outet sich mit dem Bekenntnis: „Ich bin nicht gegen Einwanderung“ und beruft sich auf Milton Friedman. Linke-Fraktionschefin Sahra Wagenknecht setzt laut Wolf Wiedmann-Schmidts Beitrag „Wundern über Sahra“ auf noch mehr Populismus, verachtet die EU und ist jetzt auf dem Weg ins rechte Nirgendwo. Franz Müntefering sieht viele ältere Menschen, die allein seien, was denen nicht gut tue. Frage: Meint er „allein“ oder „einsam“? Jedenfalls ist der SPD-Recke auf dem Altenteil völlig entspannt und quietschfidel, zu lesen in Britta Stuff und Horand Knaup im Beitrag „Nö, wieso?“ Nicht allein sein mag auch Peter Maffay und jung bleiben will er auch: Nach der vierten Scheidung kommt die nächste Verbindung; Neu-Freundin Hendrikje ist 38 Jahre jünger als er. Und für alle Maffay-Fans gibt es Bilder und ein Idol-Puzzle zum Ausschneiden.

Hilfreich der weitgehend nüchterne Beitrag von Melanie Amann, die sich mit den Plänen des Justizministers auseinandersetzt, die rechtliche Behandlung von Mord neu zu regeln. Richtig ist, dass das Recht von nationalsozialistischen Fragmenten bereinigt werden soll. Amann arbeitet heraus, wo es notwendig erscheint, „Lebenslänglich“ als zwingende Strafvorschrift abzuschaffen und wie sich Maas gleichzeitig verheddert, wenn er ganz modisch-zeitgeistig dem sozialdemokratischen Stammtisch nachzueifern versucht: Ehrenmorde sind wohl dann nicht mehr ganz so schlimm, andere Motive dagegen werden mit größerer Härte bestraft. Recht wird entpolitisiert und gleichzeitig neu politisch aufgeladen – das kann nicht gutgehen mit einem Minister, dessen Anzüge qualitativ deutlich über dem Niveau seiner Fachkenntnis liegen. Da wäre mehr kritische Analyse hilfreich gewesen.

Zum Schluss: „Von den Kühen lernen“. Aus aktuellem Anlass widmet der SPIEGEL eine Seite dem Thema Zeitumstellung. Autor Hilmar Schmundt erinnert an Geschichtliches – die Zeitumstellung wird in diesem Jahr sage und schreibe 100 Jahre alt –, bezieht sich auf das Bauchgefühl mit dem Unbehagen über die jährlich zweimalige Umstellung des Biorhythmusses, führt diese und jene Untersuchungen an, um auf der Zielgeraden anzumerken, dass es praktisch keine Studien gebe, die Vor- oder Nachteile belegten. Kann man eine Nicht-Story gepflegter erzählen?

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