Rätsel um Merkel und den „humanitären Korridor“ – Morawiecki will „nur die Rückführung“

Gestern sah es so aus, als sollten die 2.000 Einwanderungswilligen von Kuznica bald nach Deutschland kommen. Dann dementierte Horst Seehofer. Polens Premier Morawiecki hat ganz andere Vorstellungen.

IMAGO / SNA
Migranten auf dem Weg in eine Unterkunft in Bruzgi auf der weißrussischen Seite des Grenzübergangs Bruzgi-Kuznica Bialostocka, 18.11.2021

Der Basar ist eröffnet. Und es wird wohl kommen, wie man es gewohnt ist. Merkels Anrufe in Minsk haben erneut jene verhängnisvolle Serie aus Verhandlungen, Zugeständnissen und vorauseilender Verantwortungsübernahme in Gang gesetzt, die die Migrations- und Grenzpolitik dieser Frau seit Jahren kennzeichnet. Die deutsche, Blumenkränze flechtende Presse ist nun bemüht, einerseits den Eklat mit den Osteuropäern herunterzuspielen und andererseits die Verhandlungen der Kanzlerin mit einem fragwürdigen Machthaber als die beste aller Lösungen hochzujubeln.

Der weißrussische Diktator habe »eingelenkt«, behauptet etwa ntv. Die französische Nachrichtenagentur AFP weiß dagegen, dass vor allem Berlin den weißrussischen Präsidenten zur »Kooperation bei humanitärer Hilfe« drängt. Da dürfte noch Spielraum für Lukaschenko sein. Wie eine Sprecherin des Präsidenten am Donnerstag verkündete, sollen Merkel und Lukaschenko einen »humanitären Korridor« diskutiert haben, in dem die bis vor Kurzem an der Grenze kampierenden (und randalierenden) 2.000 Migranten nach Deutschland gelangen sollen, während Weißrussland die verbleibenden 5.000 Migranten in ihre Heimatländer zurückschicken will.

— Tadeusz Giczan (@TadeuszGiczan) November 18, 2021

Diese Meldung wurde inzwischen von dem nach Warschau geeilten Noch-Innenminister Horst Seehofer dementiert. Angeblich steht Deutschland an der Seite Polens. Wirklich? Kann Horst Seehofer das garantieren, auch wenn Merkel oder von der Leyen wieder das Ruder übernehmen? Zugleich sagte der litauische Außenminister Gabrielius Landsbergis, dass ein ungenanntes EU-Land dafür plädiert habe, dass die weißrussische Fluglinie Belavia von den bis jetzt über sie verhängten Sanktionen befreit werden soll. Er schloss nicht aus, dass Deutschland an diesem Schritt beteiligt sein könnte. Und das ist noch nicht das Ende der Zugeständnisse. 

»Mal wieder ein Telefongespräch«

»Lukaschenko und Merkel hatten mal wieder ein Telefongespräch.« So überschrieb die weißrussische Nachrichtenagentur Belta ihren Bericht zum zweiten Gespräch zwischen den beiden Politikern. »Nach der ausführlichen Erörterung des Flüchtlingsproblems« habe sich bei den Parteien »ein gewisses Verständnis« für das weitere »Handeln bei der Lösung bestehender Probleme ergeben«. Das Problem solle insgesamt auf die Ebene zwischen Weißrussland und der EU gebracht werden, und in diesem Rahmen solle auch der »Wunsch der Flüchtlinge, nach Deutschland zu kommen«, behandelt werden.

An eben dieser Stelle kam auch Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen ins Spiel, die von Lukaschenko die Einbindung internationaler Flüchtlings- und Migrationsorganisationen forderte. Der weißrussische Staatsführer sagte laut Belta: »Wir sind zu einem Konsens gekommen, dass niemand eine Eskalation braucht – weder die Europäische Union noch Weißrussland. Und wir können keine Eskalation zulassen, egal wie sehr jemand sie will, bis hin zu einem heißen Zusammenstoß.«

Lukaschenko bestritt laut Belta, Migranten nach Weißrussland zu locken. Im Gegenteil: Allein in diesem Herbst habe das Land 5.000 Migranten zurückgebracht. Der Präsident fuhr aber fort, dass »wenn wir diese Flüchtlinge [an der weißrussisch-polnischen Grenze] nicht retten«, es sowohl für Weißrussland wie auch für die EU eine Niederlage wäre. Aus diesem Gedanken heraus habe er »einen Gesamtvorschlag zur Lösung der Situation« gemacht, den er allerdings nicht näher erläuterte. »Ich werde jetzt nicht darauf eingehen.« Man habe mit Merkel vereinbart, »dass wir vorerst nicht speziell darüber sprechen«. Gemeint war wohl, dass man nicht vor den Ohren der europäischen Öffentlichkeit darüber spricht. Der ganze Ton der wiedergegebenen Unterhaltung deutet auf die Fortsetzung der Erpressung durch Lukaschenko hin. Alles sieht nach einer höchst geheimen Abmachung zwischen der scheidenden Bundeskanzlerin und dem zwielichtigen Machthaber aus.

Merkels verfehlte Taktik wirkt sich aus

EU-Kommissionschefin Ursula von der Leyen (CDU) hat nun die Lieferung von Nahrung und anderen Gütern im Wert von 700.000 Euro an Weißrussland angekündigt. Die EU übernimmt also wieder einmal Kost und Logis für unbotmäßige Migranten in einem unbotmäßigen EU-Nachbarland (nach dem Muster des verlängerten EU-Türkei-Deals). Wenn das kein Beweis von Schwäche ist. Und um das Dutzend rund zu machen, setzt von der Leyen hinzu: »Wir sind bereit, mehr zu tun.« Offenbar versucht man, den weißrussischen Präsidenten mit EU-Geld zu überhäufen, in der Hoffnung, dass er dann klein beigibt. Man versucht sich freizukaufen und engt dadurch doch langfristig den eigenen Freiheitsraum ein.

Es ist Merkels verfehlte Taktik, die sich hier auswirkt. In den Verhandlungen mit Lukaschenko forderten sie und von der Leyen vor allem eins: Weißrussland solle Hilfsleistungen von EU, UNHCR und der Internationalen Organisation für Migration zulassen. Doch was haben diese Institutionen, angefangen bei der Europäischen Union, mit den humanitären Problemen in Weißrussland zu tun? Natürlich nichts.

Die geschäftsführende Kanzlerin hat nicht nur diplomatische Regeln der EU gebrochen und unter Missachtung der EU-Partner mit Moskau und Minsk gesprochen. Im selben Atemzug maßte sie sich an, für die gesamte EU sprechen zu können, und halste dem Staatenbund nach eigenem Gutdünken ein Problem und eine Lösung auf, die eventuell beide nicht auf das Einverständnis der EU-Partner treffen. Denn wer sagt denn, dass die EU-Partner Verantwortung für die von Lukaschenko durchgelassenen Migranten hätten? Nur Merkel und eine einsame Schule des Europarechts. Die projektierten Verhandlungen mit Lukaschenko verletzen aber auch ohne die Übernahme auch nur eines Migranten das Selbstbestimmungsrecht der Völker in der EU und zumal von einem Volk: den Deutschen, die Merkels diesbezügliche Politik in Wahlen immer wieder abgestraft haben. Der Migrationsmagnet Deutschland soll nicht abgeschaltet werden.

Die ungelenken und doch so charaktertreuen Bewegungen der Kanzlerin auf dem europäischen Parkett haben die EU-Nachbarn an der östlichen Außengrenze empört und ihre Interessen verletzt. Im Bild-Interview machte der polnische Premier Mateusz Morawiecki deutlich, was die Polen von der EU und Weißrussland erwarten: von den einen Solidarität beim Grenzschutz, vom anderen eine rasche Rückführung der Migranten in ihre Herkunftsländer.

Am Ende kamen die lange erwarteten Busse an die polnisch-weißrussische Grenze. Aber sie kamen nicht von Westen, aus der Wohlstandsrepublik Deutschland. Vielmehr wurden sie aus Minsk geschickt, um zumindest einen Teil der Migranten aus dem unmittelbaren Grenzbereich abzuziehen und sie in leerstehende Lagerhallen zu verbringen, wo sie nun vor Kälte und Nässe geschützt und in Sicherheit sind. Der polnische Innenminister Maciej Wasik sagte gegenüber dem Fernsehsender TV Republika: „Es sieht danach aus, dass Lukaschenko diese Schlacht um die Grenze verloren hat.“

Doch die Freude an diesem letztlich polnischen Triumph währte nicht lange. Denn im selben Moment hatte Angela Merkel ihre freischwebende Diplomatie über die Köpfe der europäischen Partner hinweg begonnen, und zwar in Absprache mit einem einzigen anderen Staatschef, Emmanuel Macron. Es gibt ein Wort für diese Institution, man nennt sie nun schon einige Jahre das deutsch-französische Protektorat über die EU.

Im östlichen Mitteleuropa wird deutlich, dass man diese Herrschaft nicht mehr ohne Widerspruch ertragen will. So stellte der polnische Staatspräsident Andrzej Duda nun klar: „Mein Land wird keine Vereinbarungen anerkennen, die über unsere Köpfe hinweg geschlossen werden.“ Polen sei ein „souveränes Land, das das Recht hat, selbst über sich zu entscheiden“, und dieses Recht werde man „unter allen Umständen ausüben“.

Statt Tausenden könnten bald Millionen an den EU-Grenzen stehen

Im Interview mit Bild ließ auch der polnische Premier Mateusz Morawiecki nun deutliche Kritik an Merkels Anruf in Minsk erkennen: In der aktuellen Krise könne es keine Entscheidungen „über unsere Köpfe hinweg“ geben. Das ist eine deutliche Kritik an Merkels einsamem Lukaschenko-Telefonat, die das Entsetzen der Polen, Litauer und Letten spiegelt. Daneben würde Morawiecki einen Verhandlungsfortschritt in einer Richtung begrüßen: „Wenn es in dem Telefonat darum ging, wie die Migranten aus Belarus zurück in ihre Heimatländer gebracht werden, dann ist jede Initiative in dieser Richtung im Sinne Polens.“

Der Premier ließ keinen Zweifel daran, dass er die „Flüchtlingspolitik“ der Kanzlerin für gescheitert hält. Merkel habe auf diesem Politikfeld „absolut versagt“: „Ich denke, dass die Politik von vor fünf bis sechs Jahren keine angemessene Politik war. Sie hat die Souveränität vieler europäischer Staaten gefährdet und schuf einen künstlichen Multikulturalismus. Das war eine gefährliche Politik für Europa und für die Welt.“

Die Verteidigung der polnischen Grenzen hält Morawiecki für alternativlos. Andernfalls würden bald nicht Tausende, sondern Hunderttausende oder Millionen ihren Einlass in die EU fordern. „Wenn wir unsere Grenzen in Europa nicht entschieden schützen und verteidigen, werden Hunderte Millionen aus Afrika oder dem Mittleren Osten versuchen, nach Europa und insbesondere nach Deutschland zu kommen. Ich glaube, dass die Menschen in Deutschland darüber nicht glücklich wären, weil sie ihren Lebens-Standard halten wollen. Sie wollen ihre Kultur behalten.“ Man müsse folglich „alles tun, um unsere Grenzen am Mittelmeer und im Osten zu schützen vor Zuwanderung“. Und natürlich brauche man dazu „jede Form von Schutz und Überwachung, um Angriffe abzuwehren, sei es eine Mauer, einen Zaun oder elektronische Anlagen, die jedes Eindringen sofort melden“.

Auch die Auslösung des NATO-Bündnisfalls schloss Morawiecki nicht aus. Für ihn könnten sich auch die EU-Staaten noch entschiedener zeigen, etwa durch eine »entschlossene Erklärung« der Nachbarn von Weißrussland, also Polens, Litauens und Lettlands. Und zwar berichtet Morawiecki von Beistandsbekundungen Merkels und ihres möglichen Nachfolgers Olaf Scholz. Doch die wichtigste Botschaft an Merkels Nachfolger wäre aus seiner Sicht noch immer: „Wir verteidigen hier in Polen die EU-Grenze!“

Wenn die Satire so realistisch ist wie die Realität 

Inzwischen ist auch eine satirische (!) Verballhornung des Gesprächs zwischen Merkel und Putin an die Öffentlichkeit gelangt. In dem Gespräch verlangt Putin von Merkel, selbst mit Lukaschenko zu sprechen und „die Polen“ zur Ordnung zu rufen. Man möge die Gegner Weißrusslands an die militärischen Beistandspflichten Russlands erinnern. Darauf erwidert die fiktive Angela Merkel: „Wladimir, drohst du mir mit dem Dritten Weltkrieg?“ Nein, das tue er nicht, aber die Polen seien seit 1989 genügend ermutigt worden. 

Die fiktive Merkel dieses Dialogs stimmt ihm zu: „Wladimir, ich habe die Polen mehr satt als du. Und ich habe deinen Interessen eine größere Beachtung geschenkt als irgendjemand sonst. Das weißt du. Und bald werde ich nicht mehr da sein. Sprich mit Lukaschenko und beende diese Sache. Im Namen unserer Zusammenarbeit.“ Putin schlägt ein: „Angela, ich werde dich vermissen. Ich kann nichts versprechen, aber ich hasse es, dich unzufrieden zu sehen.“ Den Abschluss dieser Satire bilden Herzlichkeiten der Marke „gut gemacht“ und „tschüssi“, die als russische Einsprengsel wiedergegeben sind. Kommentatoren waren sich einig, dass der Dialog bis zu diesem Punkt durchaus glaubwürdig war. Dass Merkel und Putin ebenso auf Russisch wie auf Deutsch miteinander sprechen können, ist bekannt.

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