Tichys Einblick
Mandatsrelevante Wahlpannen

Exklusiv: Wahl in Berlin muss in mindestens einem Wahlkreis wiederholt werden

Wahlen müssen nur wiederholt werden, wenn gravierende Fehler auftauchen, die das Ergebnis der Sitzverteilung berühren könnten. TE führt den Nachweis, dass dies in einem Wahlkreis zur Berliner Abgeordnetenhauswahl gegeben ist. Weitere Stimmbezirke werden noch untersucht.

IMAGO / Emmanuele Contini
Im Berliner Bezirk Charlottenburg-Wilmersdorf ist bei der Wahl zu Bundestag und Abgeordnetenhaus 2021 so ziemlich alles schief gegangen, was schief gehen konnte. Die Fehler sind so schwerwiegend, dass sie das Ergebnis der Wahl hätten verändern können, also mandatsrelevant sind. Damit ist die Wahl mindestens dort irregulär. Weitere Wahlkreise wertet das Recherche-Team von TE noch aus.
Knapp gewonnen in Charlottenburg-Wilmersdorf 6

Denn das Direktmandat im Wahlkreis Charlottenburg-Wilmersdorf 6 für das Berliner Abgeordnetenhaus entschied sich denkbar knapp: Der Grünen-Kandidat lag hier lediglich 19 Stimmen vor seinem SPD-Konkurrenten.

Fehler sind bei der Wahl in dieser Größenordnung definitiv aufgetreten. Die 27 Wahllokale des Bezirks waren zusammengerechnet über acht Stunden lang wegen Wahlzettelmangels geschlossen, viele davon länger als anderthalb Stunden zur Stoßzeit zwischen 14 und 16 Uhr. Rechnet man die Wählerzahlen an diesem Tag hoch, könnten dadurch mindestens 1000 Wähler beim Wahlgang behindert worden sein. Manche davon mögen zwar noch einmal wiedergekommen sein, wie viele das aber überhaupt konnten, ist völlig offen.

Mehrere Wahllokale berichten zudem von Schlangen, in denen Wähler weit über eine Stunde anstehen mussten. 20 der 27 Wahllokale schlossen verspätet, vier Wahllokale waren bis mindestens circa 19 Uhr geöffnet, statt regulär bis 18 Uhr. Auch vor all diesen Wahllokalen gab es also zumindest eine Schlange mit Anstehzeiten von mehr als einer Stunde bis zum Schluss. Das ist eine massive Behinderung des Wahlgangs: Der Gesetzgeber geht nämlich davon aus, dass die Kenntnis über den Ausgang der Wahl das Wahlverhalten beeinflusst. Nach 18 Uhr aber liegen die relativ zuverlässigen Prognosen vor, zumindest Sieger und Verlierer stehen fest. Vor Ende der Wahl ist es daher sogar untersagt, sogenannte Nach-Wahl-Befragungen zu veröffentlichen – dabei werden Wähler nach Verlassen des Wahllokals interviewt. Diese Daten gehen dann in die Punkt-18.00-Uhr-Berichterstattung von Medien ein – noch vor der Hochrechnung. Die 18-Uhr-Zeitgrenze ist also entscheidend.

Angesichts dieser Menge an Verfehlungen ist offensichtlich, dass bei einer korrekten Wahl eine Differenz von nur 19 Stimmen eindeutig noch hätte ausgeglichen werden können. Das Ergebnis der Wahl ist also durch die Wahlpannen potenziell verfälscht worden.

Die Wahl im Detail

Das kann man auch exakt zeigen: Im Wahllokal 04609 im besagten Wahlkreis steht im Protokoll, dass falsche Stimmzettel für die Erststimme ausgegeben wurden. „Die Ausgabe des Stimmzettels aus dem anderen Wahllokal führte zu zehn ungültigen Erststimmen bei der Abgeordnetenhauswahl“, heißt es im TE vorliegenden Protokoll. Im Wahllokal 04604 wird wiederum eindeutig festgehalten, dass bis circa 08:20 Uhr den Wählern keine Erststimmen-Wahlzettel zur Abgeordnetenhauswahl ausgegeben wurden. Bis dahin hatten 22 Personen bereits gewählt, heißt es im Protokoll. Sie wurden im Wahlregister abgestrichen, konnten die Stimme aber nicht abgeben.

Insgesamt wurden durch die Fehler also mindestens 32 Wähler an der regulären Stimmabgabe gehindert. Damit sind die Fehler bei der Wahl definitiv mandatsrelevant. Es gäbe noch mehr Fälle, die man so zweifelsfrei quantifizieren könnte, aber im Großteil der Wahllokale in diesem Bezirk wurde nicht mal das Protokoll ordnungsgemäß geführt. Fehlende Anlagen oder schlichtweg nicht ausgefüllte Felder sorgen so dafür, dass man oft gar keine genauen Daten zur Verfügung hat.

Wäre die Wahl ordnungsgemäß abgelaufen, hätte ein anderer Kandidat diesen Wahlkreis gewinnen können – daran gibt es jetzt keinen Zweifel mehr. TE zeigte die Recherchen dem Berliner Politiker Marcel Luthe, der ebenfalls eine Beschwerde gegen das Wahlergebnis führt. Dieser erklärte dazu: „Deutlicher geht es doch gar nicht: wenn 22 Menschen gar keinen und 10 den falschen Stimmzettel bekommen haben, die Wahl aber um nur 19 Stimmen ‚entschieden‘ wurde, ist das verkündete Ergebnis keines. Und in ähnlicher Deutlichkeit finden wir das berlinweit.“ Luthe war am Wahlabend um kurz nach 18:00 Uhr selbst in einem Wahllokal dieses Wahlkreises und sagt, er habe gesehen, wie Menschen noch zur Wahl zugelassen wurden, die nach 18:00 Uhr angekommen sind. Jeder einzelne von ihnen habe eine weitere irreguläre Stimme eingeworfen.

Mandatsrelevanz ist gegeben

Damit müsste die Wahl zumindest in diesem Wahlbezirk wiederholt werden – oder hätte es jedenfalls müssen, wenn die zuständigen Stellen ihren Job zur richtigen Zeit gemacht hätten. Dass der zuständige Wahlausschuss angesichts dieser Mängel das Ergebnis für gültig befand, ist vermutlich unhaltbar. Heute können Gerichte aber gegenüber Recherchen der Presse formale Gründe finden, um inhaltlich zweifelsfreie Hinweise abzubügeln. Die genaue Rechtslage erklärt Verfassungsrechtler Ulrich Vosgerau unten.

Bis Montagnacht wird in Berlin die Landeswahlleitung ihre Antworten an den Verfassungsgerichtshof liefern müssen. Am Dienstag beschäftigt sich der Bundestag mit der Frage einer Wahlwiederholung. Ob es substanzielle Antworten geben wird, bleibt offen. Die Recherchen von TE lassen jedenfalls keinen Zweifel zu, dass diese Wahl nicht rechtmäßig war.


Die rechtliche Lage zu einer Wahlwiederholung fasst der Verfassungsjurist Ulrich Vosgerau für TE so zusammen: 

„In Berlin ist der Verfassungsgerichtshof unmittelbar für das Wahlprüfungsverfahren zuständig (Art. 84 Abs. 2 Nr. 6 BerlVerf i.V.m. § 14 Nr. 2 und §§ 40 ff. VerfGHG). Dies ist auf den ersten Blick günstig für die Einspruchsführer; denn fast überall sonst gilt – übrigens auch auf Bundesebene – dass ein Einspruch gegen die Gültigkeit der Wahl zunächst an das gewählte Parlament selber zu richten ist, wo er von einem spezialisierten Wahlprüfungsausschuss untersucht wird; erst gegen dessen Ergebnis wäre dann die Wahlprüfungsbeschwerde (auf Bundesebene zum Bundesverfassungsgericht) statthaft.

Dieses Verfahren ist so traditionell wie sinnlos. Denn erstens ist es immer fruchtlos – die Abgeordneten eines frisch gewählten Parlaments pflegen sich nie selber zu bescheinigen, dass dieses Parlament schnellstens neu gewählt werden muss. Außerdem wird das parlamentarische Wahlprüfungsverfahren regelmäßig zur Verschleppung missbraucht: da die Abgeordneten wissen, dass jede Ablehnung eines Einspruchs mit dem Risiko verbunden ist, dass das zuständige Verfassungsgericht die Wahlen doch noch für ungültig erklärt, wird das Einspruchsverfahren so in die Länge gezogen, dass die vorgezogene Neuwahl die ursprüngliche Legislaturperiode kaum noch verkürzt. In Nordrhein-Westfalen war die Rechtslage sogar früher so, dass es gar keinen Rechtsweg gegen die parlamentarische Selbstfreisprechung gab; dem hat aber das Bundesverfassungsgericht dann ein Ende gemacht, da eine Entscheidung in eigener Sache ohne Rechtsweg den rechtsstaatlichen Anforderungen des Grundgesetzes an die Länder nicht genügte. Daher ist es gut, dass es in Berlin anders ist.

Misslich ist an der Berliner Rechtslage hingegen aus Sicht des Bürgers, dass das Wahlprüfungsverfahren hier rein objektiv ausgestaltet ist, es dient der Sicherstellung eines objektiv richtigen Wahlergebnisses, nicht aber dem Schutz subjektiver Rechte des Bürgers. Praktische Folge dessen ist, dass der wahlberechtigte Bürger nur in seltenen Ausnahmefällen überhaupt einspruchsberechtigt ist, normalerweise sind nur Kandidaten oder Parteien die Einspruchsführer. Der einfache Wahlberechtigte kann eine mögliche Verfälschung seiner Stimme und seines Stimmgewichts auch durch objektive Wahlfehler jedoch im Wege der Verfassungsbeschwerde auf Landesebene geltend machen (Art. 84 Abs. 2 Nr. 5 BerlVerf i.V.m. §§ 14 Nr. 6 und §§ 49 ff. VerfGHG).

Folge der Geltendmachung von Wahlfehlern ist äußerstenfalls die Feststellung der Ungültigkeit der Wahl. Dann muss die Wahl wiederholt werden. Auch bei Feststellung gravierender Wahlfehler wäre das derzeitige Berliner Abgeordnetenhaus nicht ‚ohne‘ demokratische Legitimation, denn 90 Prozent der Berliner haben ja vermutlich mehr oder minder ‚richtig‘ gewählt. Das Bundesverfassungsgericht hat schon früh festgestellt, dass über die Frage nach der ‚demokratischen Legitimation‘ nicht im Sinne von ‚null oder eins‘ entschieden werden kann, sondern dass es ein (höheres oder niedrigeres) ‚Legitimationsniveau‘ gibt. Ist das Legitimationsniveau – wie offenbar nun in Fall der letzten Wahlen zum Abgeordnetenhaus – aufgrund gravierender und mandatsrelevanter Wahlfehler nicht hinreichend, so muss unverzüglich eine Wahlwiederholung angesetzt werden. Eine vorübergehende Rückkehr des alten, also des vorherigen Abgeordnetenhauses kommt hingegen nicht in Betracht. Denn auch wenn die demokratische Legitimation des jetzigen Abgeordnetenhauses zweifelhaft und defizitär sein mag: das letzte Abgeordnetenhaus hat gar keine demokratische Legitimation mehr, weil die frühere Wahlperiode abgelaufen ist. Demokratie ist Herrschaft auf Zeit.

Dies alles wirft die Frage auf, ob und wie die jetzigen Enthüllungen durch Tichys Einblick zu einer Wahlwiederholung führen oder beitragen werden. Das Problem ist, dass ein Wahleinspruch binnen eines Monats nach Bekanntgabe des Wahlergebnisses einzulegen und zu begründen ist (und eine Verfassungsbeschwerde des Bürgers in zwei Monaten). D.h., der Verfassungsgerichtshof könnte sich auf den Standpunkt stellen, dass er nur diejenigen Gründe prüft, die in den bereits erhobenen Einsprüchen dargelegt worden sind; TEs Enthüllungen wären dann rechtlich irrelevant und außerdem verspätet. Diese formelle Herangehensweise steht aber in einem merklichen Spannungsverhältnis zu dem ebenfalls beim Verfassungsgerichthof geltenden Untersuchungsgrundsatz. Der Untersuchungsgrundsatz ist das Amtsermittlungsprinzip vor Gericht; der Verfassungsgerichtshof ist nicht auf den Vortrag der Parteien beschränkt, sondern er ermittelt eigenständig die Wahrheit.“

Daher sollten die Einspruchsführer in laufenden Verfahren dem Verfassungsgerichtshof die auf „TE“ verbreiteten Erkenntnisse unterbreiten und verlangen, dass das Gericht diese – trotz der Präklusionsregel, nach der alle Einsprüche binnen Monatsfrist fertig begründet sein müssen – in seine Untersuchungen miteinbezieht.


An dieser Recherche haben mitgewirkt: Jerome May, Laura Werz, Jonas Kürsch, Pauline Schwarz, Elisa David, Selma Green, Larissa Fußer, Jonas Aston, Elena Klagges. TE wird die Daten der Berliner Wahllokale auch anderen Redaktionen zur Verfügung stellen.