So könnte der Weg zur Wahl-Wiederholung in Berlin aussehen

Nach dem angerichteten Chaos dürfen die Bürger in der Hauptstadt wahrscheinlich noch einmal an die Urne. Vier Fragen und Antworten zu dem Skandal und seiner Aufarbeitung

IMAGO / Emmanuele Contini

1. Berlins Innensenator Andreas Geisel (SPD) erweckt den Eindruck, er hätte eine Art Schlusswort in der Wahlchaos-Affäre gesprochen: laut „Tagesspiegel“ geht er „nach jetzigem Stand nicht davon aus, dass die Wahl in großem Umfang wiederholt werden muss“. Die Bundestagswahl und die Zweitstimmenabgabe zum Berliner Abgeordnetenhaus sei seiner Ansicht nach von einer möglichen Wahlwiederholung nicht betroffen: Nur „bei der Erststimme der Abgeordnetenhauswahl gibt es einige Wahlkreise – 1, 2 oder 3 -, bei denen es zu Überprüfungen und Nachwahlen kommen kann.“ Ist die Einschätzung des Politikers realistisch?

Nein. Erstens entscheidet der Innensenator nicht über die Gültigkeit der Wahlen. Das Überprüfungsverfahren steht außerdem noch ganz am Anfang. Am 14. Oktober wird das amtliche Endergebnis der Wahl zu den Bezirksverordnetenversammlungen und zum Abgeordnetenhaus von Berlin bekanntgegeben. Erst von diesem Zeitpunkt an kann die Wahl vor dem Landesverfassungsgericht angefochten werden. Am 15. Oktober soll eine Sondersitzung des Innenausschusses im Abgeordnetenhaus zu den schwerwiegenden Pannen und Unregelmäßigkeiten bei der Wahl stattfinden. Darüber hinaus hatte der Berliner Abgeordnete Marcel Luthe (Freie Wähler) eine Reihe von Fragen zu dem Wahldesaster an den Senat gestellt. Von den Antworten auf seine Fragen und den Stellungnahmen in der Innenausschusssitzung, so Luthe zu TE, werde er abhängig machen, ob er die Wahl anfechte, weil sich aus beidem noch weitere Begründungen ergeben können. „Es spricht derzeit viel dafür, dass eine Wahlwiederholung nötig wird“, so Luthe zu TE. „Die Anwälte für einen Antrag auf Wahlwiederholung und möglicherweise Wahlanfechtung habe ich schon mandatiert. Es steht alles bereit, um dann schnell entsprechende Schritte einzuleiten.“
Auch Martin Sonneborn von „Die Partei“ kündigte einen Antrag auf Wahlüberprüfung an.

Über Wiederholung der Wahl für die Berliner Parlamente entscheidet der Berliner Verfassungsgerichtshof, über Einsprüche gegen die Abstimmung zum Bundestag der Wahlprüfungsausschuss des Bundestags und dann gegebenenfalls noch das Bundesverfassungsgericht. In Bezug auf die Bundestagswahl können nicht nur Berliner Einspruch erheben, sondern alle Wahlberechtigten in Deutschland.
Eine Wahlwiederholung nur für die Berliner Landtagswahl-Erststimmenabgabe, wie sie Geisel erwähnte, ist kaum möglich: Das wäre ein neues Wahlverfahren, für das es bis jetzt keine gesetzliche Grundlage gibt.

2. Welches sind die Hauptangriffspunkte für die Anfechtung der Wahlen?

Zum einen räumen Wahlvorstände ein, dass in einer unbekannten Zahl von Fällen Minderjährige ihre Stimme auch für das Abgeordnetenhaus und den Bundestag abgeben konnten – sie hätten demnach rechtswidrig gewählt. Grund dafür ist eine Berliner Besonderheit: Die Bezirksverordnetenversammlung darf schon von 16jährigen und von EU-Ausländern mitgewählt werden. In etlichen Wahllokalen bekamen Jugendliche aber nicht nur den Wahlschein für das Gemeindeparlament ausgehändigt, sondern auch die anderen. Ausweise wurden nicht kontrolliert.
Eine ebenfalls unbekannte Zahl von Berlinern wurde deutlich nach 18 Uhr nach Hause geschickt mit der Begründung, es gebe keine Wahlzettel mehr. Andere gingen während der regulären Wahlzeit nach stundenlangem Anstehen wieder, weil in Stimmlokalen Wahlzettel ausgegangen waren, und mancherorts auch zu wenige Wahlkabinen zur Verfügung standen – wodurch sich die Wahlwilligen stauten. Sollte es zu einer gerichtlichen Überprüfung kommen, wird auch zu klären sein, welche Wartezeit für einen Wahlwilligen noch zumutbar ist, und ab wann vor allem für Bürger, die am gleichen Tag noch berufliche Verpflichtungen hatten oder gesundheitlichen Einschränkungen unterliegen, eine überlange Wartezeit als Verhinderung der Stimmabgabe gilt.

Außerdem wurden mehrere hundert Stimmzettel für den falschen Stimmbezirk ausgegeben. Wurden sie ausgefüllt, gelten sie als ungültige Stimmen. Die Bürger wurden also ebenfalls um ihr Stimmrecht gebracht.

Wieviel illegale Stimmen in den Urnen landeten, und wie viele Bürger an der Stimmabgabe gehindert wurden, lässt sich kaum noch feststellen. Deshalb geht auch das Argument der „Mandatsrelevanz“ ins Leere: Es lässt sich in beiden Fällen nicht durch Nachzählung überprüfen, in welchem Maß die Unregelmäßigkeiten die Vergabe von Mandaten verzerrt haben könnte.

3. Gab es neben den offensichtlichen Schlampereien auch Fahrlässigkeiten von staatlicher Seite, die das Wahlergebnis womöglich verzerrt haben?

Ja, mehrere. Die Berliner Wahlbehörde versäumte es, unterschiedliche Briefwahlumschläge und verschiedene Urnen für die Stimmen zur Bezirksverordnetenversammlung und zu den anderen Parlamenten auszugeben beziehungsweise aufzustellen. Nach mehreren Schilderungen bekamen Minderjährige, die Briefwahlunterlagen für das Bezirksparlament angefordert hatten, auch hier Unterlagen für die anderen Wahlen, an denen sie nicht teilnehmen durften. Da die Briefwahlunterlagen nicht zu unterscheiden waren und alle in den gleichen Urnen landeten, lassen sich im Nachhinein auch fälschlich ausgegebene Briefwahlunterlagen nicht mehr identifizieren.

Außerdem hatten einige Wahlhelfer, da Stimmzettel fehlten, einfach Ersatzstimmzettel per Kopierer gefertigt. Das war vielleicht gut gemeint, öffnete aber ein Tor für Manipulationen. Möglicherweise illegal angerfertigte Kopien lassen sich nicht mehr feststellen.

Auch der Weg der offiziellen Stimmzettel ist offenbar nicht vollständig dokumentiert worden. Reporter der BZ fanden nach der Wahl durchgerissene Original-Stimmzettel hinter einem Wahllokal im Müll. Angesichts des angerichteten Chaos ist es nicht ausgeschlossen, dass Blanko-Stimmunterlagen illegal beiseitegeschafft, ausgefüllt und unter die regulären Stimmzettel gemischt wurden. In etlichen Lokalen waren die Stimmen am Wahlabend nicht ausgezählt und dokumentiert, sondern nur geschätzt worden – was illegale Machenschaften erleichtert haben könnte.

4. Kann der neue Berliner Landtag überhaupt wie geplant zusammentreten?

Wenn es zu Anfechtungen kommt, womöglich nicht. Die konstituierende Sitzung des Abgeordnetenhauses ist für den 4. November 2021 vorgesehen. Sollte das Landesverfassungsgericht hinreichende Gründe für eine Anfechtung sehen, müsste es auch unterbinden, dass ein möglicherweise nicht ordnungsgemäßes Parlament zusammentritt. „Das Gericht müsste dann verhindern, dass ein weiterer Schaden eintritt“, so Luthe. „Denn die Mandate des alten Parlaments verlieren automatisch ihre Gültigkeit, sobald das neue zusammentritt. Das bisherige Abgeordnetenhaus ist aber im Gegensatz zu dem neuen nicht auf zweifelhafte Weise zustande gekommen.“

Sollte diese Entscheidung so fallen, würde sich die Regierungsbildung in Berlin erheblich verzögern. Denn das Abgeordnetenhaus muss die neue Regierende Bürgermeisterin wählen.

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Kommentare ( 42 )

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Dr_Dolittle
2 Jahre her

Wer schreibt eigentlich den Navarro Report für die Wahl in Deutschland?

Kristina
2 Jahre her

In Berlin leben so viele, die staatlich alimentiert werden. Nicht nur diejenigen, die H4 beziehen, sondern auch politische Aktivisten und in staatlichen Projekten tätige Künstler. Gerade letztere sind so „woke“, da ist das tägliche Chaos egal, weil man eh keinen Druck hat wie jemand, der auf funktionierende Behörden angewiesen ist. Hauptsache die Clubs, Theater, Bars usw. sind offen, damit man sich präsentieren und amüsieren kann. Diese Leute stehen auf RGR. Ich habe mittlerweile nur noch wenig Mitleid mit den Berlinern. Wer es bunt möchte, muss dann eben auch in Kauf nehmen, dass – wie heute – der Urlaubsflug entschädigungslos wegfällt,… Mehr

Carlotta
2 Jahre her

Als die Wahl in Thüringen nicht den Vorstellungen entsprach, klinkte sich die Bundeskanzlerin – zu der Zeit im fernen Südafrika weilend – ein mit den Worten, das Ergebnis sei ‚rückgängig zu machen‘.
Die Wahl in Berlin lief dermaßen aus dem Ruder, so dass es doch angemessen wäre, wenn die Bundeskanzlerin mindestens vor Kamera und Mikrofon träte, um ihre Überzeugung – die mit dem Gesetz übereinstimmen dürfte, nämlich für rechtmäßigen Wahlablauf zu sorgen – kund zu tun. Ich gehe hierbei davon aus, dass sie auch daran interessiert ist, welchen Eindruck Deutschland und insbesondere das Land Berlin im Ausland hinterläßt.

Schwabenwilli
2 Jahre her

Gehen wir mal hypothetisch davon aus dass diese Wahl nicht wiederholt wird, was würde passieren? Nichts! Es würde vielleicht einige Klagen geben die von irgendwelchen Gerichten abgeschmettert werden und irgendwann ist Gras über die Sache gewachsen. Allerdings ist auch das ein weiterer Sprung in der Schlüssel der Demokratie. Früher oder später wird das einfach alles zerfallen und keinen juckt es mehr.

robotic
2 Jahre her

Es gab sicher auch eine Menge Leute, die doppelt gewählt haben. Ich habe neben den Briefwahl Unterlagen kurze Zeit später auch noch einen Wahlschein bekommen (Bezirk Pankow). Brav wie ich bin, habe ich aber nur per Briefwahl abgestimmt.

olympos
2 Jahre her
Antworten an  robotic

Die Wahl ist gefaelscht, keine Frage. Da es rausgekommen ist war nicht geplant. In meinem Dorf in Griechenland war ich mal als Wahlhelfer ausgelost. Jeder musste seinen Ausweis vorzeigen und wer gewaehlt hat, wird von der Namensliste gestrichen. Gezaehlt wird mit allen Wahlhelfern praesent. USA Verhaeltnisse auch in Deutschland mit Deckung der Presse

Petrus55
2 Jahre her

Glaubt irgendjemand ernsthaft, dass bei einer Wiederholung der Wahl ein signifikant anderes Ergebnis herauskommen würde?

Die Berliner sind seit Jahrzehnten daran gewöhnt, von Anderen finanziert zu werden, was in der Zeit vor der Wende durchaus richtig und sinnvoll war.

Aber inzwischen leben in Berlin überwiegend Menschen, die es gewohnt sind, dass man auch ohne zu arbeiten einen auskömmliches Leben führen kann.

Und es lebt in Berlin auch eine Vielzahl von Leuten, die vom Staat angestellt oder beamtet sind und ebenfalls keiner wertschöpfenden Arbeit nachgehen.

Last edited 2 Jahre her by Petrus55
TinaTobel
2 Jahre her

Wenn es zu einer Wiederholung der Wahl in Berlin kommt, ist eine Sache extrem wichtig: Es müssen sich mehr Bürger, denen der korrekte Ablauf einer Wahl mehr am Herzen liegt als ein bestimmtes Ergebnis, als Wahlhelfer und -beobachter engagieren.

Last edited 2 Jahre her by TinaTobel
Gisela Fimiani
2 Jahre her

Nur ein weiteres Beispiel in der langen Reihe der verhängnisvollen Verhöhnung, Entwertung und Verachtung aller Grundprinzipien unserer freiheitlichen, rechtsstaatlichen, demokratischen Gesellschaftsordnung. Deren expansive Zerstörung ist in vollem Gange und dient dazu, aus den zu menschlichen Gattungswesen degradierten (ehemaligen) Bürgern, den „neuen“ Menschen zu erschaffen – dem ein menschenverachtendes Menschenbild zu Grunde liegt. Die Fundamente schwanken. Wieviele Erschütterungen halten sie noch aus? Ob der vielen Bäume gerät der Wald – unser Land – aus dem Blick.

Last edited 2 Jahre her by Gisela Fimiani
dubium
2 Jahre her

Ich gehe mal davon aus, dass jeder Stimmbezirk/Wahllokal so viele Stimmzettel bekommt, wie Wähler in den entsprechenden Wahllisten sind. Ein geringer Prozentsatz (1%-2%), stelle ich mir vor, wird vorgehalten wenn jemand seinen Wahlzettel versehentlich ungültig gemacht hat. Ich (bin wohl zu naiv) erwarte, dass dann die ungültigen Stimmzettel vor der Stimmabgabe vernichtet werden, der Leiter des Wahllokals einen neuen Stimmzettel ausgibt und das anonym notiert. Dass die PA geprüft werden, steht natürlich nicht zur Diskussion. Wenn aber zu wenig Stimmzettel vorhanden waren, kann das doch nur bedeuten, dass nicht Stimmberechtigte (Minderjährige, Ausländer) diese beansprucht haben. Man kann den jungen Menschen… Mehr

Vox critica
2 Jahre her

Wenn man sich politisch an Venezuela orientiert, wird man früher oder später zur ????Republik.