NetzDG: Redefreiheit

Eine freie Gesellschaft muss alle Beschränkungen der Redefreiheit mit allergrößter Sorgfalt bedenken. Eine antidemokratische Rede zu unterbinden, wirkt im Akt der Verhinderung erheblich antidemokratischer, als es die ursprüngliche Agitation je vermocht hätte.

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Fake-News, Post- und Alternativfaktisches sind keine neuartigen Entgleisungen der heutigen Zeit, sondern viel mehr im Menschen und seinen Gesellschaften verwurzelt. So lange begrenzte Wahrnehmungsfähigkeiten unweigerlich unzählige Perspektiven erzeugen und so lange Erklärungen unseres Daseins offen sind, so lange wird auch jede menschliche Verlautbarung unweigerlich ein Wirrwarr von Hypothesen, Theorien und Fakten sein – ganz unabhängig davon, wie sehr einer zudem das vermeintlich Faktische oder Hypothetische gegebenenfalls noch betonen möchte.

„Wahrheit ist nicht die Tochter des Ansehens, sondern der Zeit“, lautet der Vorsatzspruch der ersten Ausgabe des Journal der Erfindungen, Theorien und Widersprüche in der Natur- und Arzneiwissenschaft von 1793. Und weiter heißt es dort in der Einleitung:

„Es ist ein glükliches Bedürfniß des menschlichen Verstandes, bei einzelnen Erfindungen, Beobachtungen und Erfahrungen nicht stehen zu bleiben, sondern sie unter einander zu vergleichen, zu ordnen, den Ursachen nachzuspüren, und allgemeine Gesezze zu bilden. Er schafft sich, von einigen Thatsachen unterstützt, sogleich ein System, und wo Beobachtung und Erfahrung nicht ausreicht, Zusammenhang in dasselbe zu bringen, da geräth er auf Spekulationen, und eine Theorie, eine Hypothese, muss den Mangel ersezzen. Jenes so glükliche Bedürfniß, ohne welches sich niemals eine Sammlung von Kenntnissen zur Wissenschaft gebildet hätte, hielt aber auch oftmals die Fortschritte der Wissenschaften, und zwar besonders der bloßen Erfahrungswissenschaften sehr auf: man schuf zu früh Systeme, ohne hinlänglich beobachtet und erfahren zu haben, und diese mußten die Nachkommen oft wieder verlassen oder beständig daran bessern; –  man sezte Spekulationen an die Stelle der Erfahrungssäzze, diese drangen sich mit der Zeit auf, und verdrängten jene; –  man verließ oft den Weg der reinen Beobachtung und Erfahrung, vergaß, daß man es mit einer blos auf diese gegründeten Wissenschaft zu thun hatte, und überließ sich leeren theoretischen Spekulationen; –  man beobachtet und erfuhr endlich nicht mehr unbefangen, sondern so, wie es ein zu früh angenommenes System, eine vorgefaßte Lieblingsmeinung heischte.“

Hypothese und Theorie werden da von Beobachtungen und Erfahrungen unterschieden. Wenn man sich entsprechend den Überlegungen von Karl Popper einem Wissen über die wirkliche Wirklichkeit auch nur annähern kann – ohne jemals eine unumstößliche Sicherheit erlangen zu können – lassen sich doch über Beobachtungen und Erfahrungen wahrscheinliche Gewissheiten erlangen. Und umso mehr Beobachtungen und Erfahrungen, die sich durch andere Beobachtungen und Erfahrungen verifizieren lassen, während man Trugschlüsse ausdrücklich zu vermeiden sucht, umso höher ist die Wahrscheinlichkeit einer Gewissheit. Das schließt den grundlegenden Irrtum nicht vollkommen aus (unsere gesamte Wahrnehmung könnte ja zum Beispiel reine Täuschung sein), wir kommen aber auf diesem Weg wenigstens zu lebenspraktisch konsistenten Wahrheiten.

Das gilt für alle Wissenschaft im ureigenen Sinn des Wortes. So also auch für die philosophische, gesellschaftliche, politische Auseinandersetzung, die den interaktiven medialen Diskurs prägt. Das Wahrheitsmaß der öffentlichen Angelegenheiten ist das skeptische Hinterfragen von theoretischen Behauptungen und Mutmaßungen mit möglichst wenig mehrdeutigen, nachvollziehbaren Erfahrungen und Beobachtungen. „Einsicht in einen politischen Sachverhalt heißt nichts anderes, als die größtmögliche Übersicht über die möglichen Standorte und Standpunkte, aus denen der Sachverhalt gesehen und von denen her er beurteilt werden kann, zu gewinnen und präsent zu haben“, hat uns Hannah Arendt hinterlassen.

Das ist nun fraglos einfacher gesagt, als getan. Das Abwägen von Für und Wider ist selten ein leichtes Unterfangen. Es ist ja schon schwer, die eigenen Standpunkte mit ordentlichen Annahmen und plausiblen Begründungszusammenhängen zu belegen. Dasselbe auch noch für mögliche Gegenargumente zu bedenken, um sich wirklich eine Vorstellung zu verschaffen, ist die hohe Kunst im Gebrauch des gesunden Menschenverstandes.

Derartige Auseinandersetzungen sind nichtsdestoweniger der Kern des gesellschaftlichen Miteinanders. Und üben lässt es sich nur, indem man entsprechend handelt. Das friedliche, freiheitliche, demokratische Gemeinwesen gründet auf der politischen Kommunikation ihrer Teilhaber. Die Freiheit der Rede ist damit der Ausgangspunkt aller Freiheiten. Sprechverbote sind andererseits die fundamentalistischen Werkzeuge der Gewaltherrschaft.

Eine freie, offene, selbstbestimmte Gesellschaft muss also alle Beschränkungen der Redefreiheit mit allergrößter Sorgfalt bedenken. Man treibt hier leicht den Teufel mit dem Beelzebub aus. Eine antidemokratische Rede zu unterbinden, wirkt im Akt der Verhinderung erheblich antidemokratischer, als es die ursprüngliche Agitation je vermocht hätte.

Natürlich endet jedes Freiheitsrecht, wenn in einem souveränen, gleichberechtigen Gemeinwesen die Freiheitsausübung des einen die Freiheit des anderen beschränkt. Das kann eigentlich bei der Redefreiheit nur dann greifen, wenn das Reden geeignet ist, andere mundtot zu machen. Bei erschütternden Beleidigungen und üblen Verhetzungen ist das in der Tat vorstellbar. Es bedarf allerdings wohl gewaltiger und vermutlich breit konzertierter Bemühungen, dass man Mitbürger zur Widerspruchslosigkeit treibt. Und sogar dann wird man sich aller Wahrscheinlichkeit dadurch selbst ins Abseits des Diskurses stellen und sich damit der politischen Wirkung berauben. Wenn die Redefreiheit garantiert ist, weist sie ganz erhebliche Selbstheilungskräfte gegen die Versuchungen des Missbrauchs auf.

Daraus ergeben sich zwei Schlussfolgerungen:

  1. Unser herrschendes strafrechtliches Verständnis von Beleidigung als Ehrverletzung beziehungsweise soziale oder moralische Respektlosigkeit greift tendenziell schon sehr weit in die Redefreiheit ein und geht als Gesprächskulturregulierung deutlich über die Redefreiheitssicherung hinaus; eine Verbesserung der pluralistischen politischen Kommunikation durch weitere Regulierung kann also nicht erwartet werden.
  2. Angesichts der überragenden konstitutionellen Bedeutung der Redefreiheit für die offene Gesellschaft muss jeder Eingriff den höchsten demokratischen Prinzipien der Gewaltenteilung unterliegen; jedes explizite oder auch nur implizite Delegieren auf Unternehmen, Vereine oder sogenannte Vertreter der Zivilgesellschaft wäre eine Offenbarungseid des Staates, die grundlegende Freiheitssicherung des Gemeinwesens nicht mehr bewältigen zu können.

Das geplante Netzwerkdurchsetzungsgesetz des Bundesjustizministers Heiko Maas ist daher in Gänze unangemessen. Wenn man in der Regierung die Einschätzung des Ministers von einer Zunahme an ehrverletzenden Beleidigungen, „strafbaren Falschnachrichten“ (was auch immer das sein soll) und sogenannter Hasskriminalität teilt, dann ist nicht die Legislative, sondern die Exekutive gefordert und die zuständigen Strafverfolgungsbehörden müssen entsprechend ertüchtigt werden. Im Parlament muss um die entsprechenden Mittel dafür nachgesucht werden. Vorher sollte man aber vielleicht erst einmal etwas genauer hinschauen, ob überhaupt die Tatbestände zunehmen oder ob sie heute nicht einfach sichtbarer sind. Was ja nicht heißt, dass sie uns deswegen mehr schaden müssen. Wie gesagt, die Selbstheilungskräfte eines anständigen öffentlichen Diskurses sind nicht zu unterschätzen.

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Kommentare ( 21 )

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Siegfried Motzer
6 Jahre her

Es ist die Angst vor Kritik. Die Angst vor den Populisten. Die auf alles eine Antwort geben. Auch zu den Themen, über die die Politik eben nicht reden will. Und deshalb will die Politik diese Aussagen verbieten. Ist einfacher, als erklären zu müssen! Und dann vielleicht nicht gut dazustehen!

Peter Berger
6 Jahre her

Heikos neue Kampfschrift hat inzwischen auf amazon 91 Niedrigstbewertungen eingefahren, teilweise mit vierstelligen Zustimmungsraten.
In Heikos maasloser Welt bedeutet das vermutlich: Der braune Pöbel randaliert! Die Gefahr von rechts ist erheblich größer als bislang angenommen! Sofort wieder 100 Millionen zur Bekämpfung des Packs bereitstellen!
https://www.amazon.de/product-reviews/3492058418/

NoName
6 Jahre her

Ich stimme Ihnen zu Herr Maas,

(Das hätte ich nicht gedacht, den Satz mal zu schreiben. 😉 )

Eine antidemokratische Rede impliziert allerdings, dass wir in einer Demokratie leben.

Das wage ich doch sehr zu bezweifeln, was nicht zuletzt an Ihrem Namensvetter liegt.

NoName
6 Jahre her

Den mit den 5 Sternen hab ich auch gelesen. Köstlich.

Illusionslos
6 Jahre her

Es ist ja nicht nur das NetzDG, auch Rede- und Meinungsfreiheit werden behindert. Noch ein Beispiel : Zum Literaturfest in Meißen will Stadtrat Jörg Schlechte CDU ( Nomen est omen ) verhindern, dass im Ratssaal ein Buch gelesen werden darf, in dem es sich kritisch mit rechten Tendenzen, Pegida und AfD usw. auseinandersetzt. Lt.Focus Schlechte dazu :“ Dieser Dreck wird mit Sicherheit nicht in unserem Rathaus gelesen.“ Wer von vorne herein über Zustände in unserem Land Diskussionen oder Lesungen verbieten will, hat in einem demokratischen Land auf seinem Posten nichts zu suchen. Erst dürfen Bücher nicht gelesen werden, wann werden… Mehr

Reiner Doderer
6 Jahre her

Ein Titel würde auch gut passen: „Ohne Parte wäre ich sicher nichts!“
Doch dieser würde sicher zu viel zu vielen passen und wurde deshalb auch verworfen. 🙂

Reiner Doderer
6 Jahre her

Man hat bei Amazon schon nach den netten Vorgaben des Ministerlein gehandelt und alle neuen Rezessionen ausgeschaltet. Ist die Kritik niederschmetternd und man erträgt sie nicht, dann wird die unterbunden. Früher traten einmal Minister zurück, wenn sie zu viel Mist machten, doch dies ist natürlich nicht bei Spezialdemokraten zu erwarten. Anstatt Minderwerdigkeitkomplexe behandeln zu lassen, wird alles „nicht Gewollte und und nicht voll des Lobes“ einfach als Hass gesehen und abgeschafft! Maas der Spezialminister für die sozialistische Einheitsmeinung. Wie weit er es wohl in einer NS-Diktatur gebracht hätte? Er ist leider viel zu spät geboren, denn dort hätte er sich… Mehr

fein_geist
6 Jahre her

Exakt, und damit die vielen „bösen Rechten“, -also alle die nicht die linksradikale Gesinnung von klein Heiko teilen- und das dürften außerhalb der Antifa und dem kommunistischen Bund ca.99,999999999% der noch klar denkenden Menschen sein, nicht weiterhin dieses …Pamphlet mit der noch zu guten 1-Stern-Bewertung überziehen können, hat Amazon bereits reagiert. Es kann nur noch der bewerten der auf Amazon gekauft hat. Interessant finde ich diesen Vorgang dahingehend, als dass Amazon sonst nie so vorgeht. Ich kenne das aus dem dortigen Filmbereich. Hier haben sich über Jahre die Kunden immer erfolglos darüber beschwert, das irgendwelche Spaßvögel bereits Rezensionen über die… Mehr

Wien1683
6 Jahre her

Einfach grandios der 5-Sterne Kommentar, der gehört eigentlich hierher (oder stößt das an rechtliche Grenzen?).
Inzwischen soll Amazon die Kommentarfunktion (nur für dieses Buch?) stark eingeschränkt haben.

berk
6 Jahre her

Herr Maas bringt mit 50 das NetzDG auf den Weg Mielke übernahm mit 50 das Ministerium für Staatsicherheit 32 Jahre später: Mielke sprach in Überzeugung „ich liebe doch alle“ „Alle Menschen“ „Na ich liebe doch, ich setz mich doch dafür ein“ Was 32 Jahre später Herr Maas ereilen wird, werden wir am Verlauf der Geschichte erleben können. Die Frage ist aber: Müssen wir es erst so weit kommen lassen und uns die wiederkehrende Frage gefallen lassen: „Wie konnte das passieren? Warum habt ihr nichts dagegen unternommen!“ China will die totale Bürgerüberwachung SCS mit einem Punktesystem. Das Social Credit System soll… Mehr