Türkei: Erdogans Griff nach der Weltmacht

Dass Merkels Nahostpolitik ein Desaster ist, bleibt dabei nur das geringste Thema. Wichtiger ist die Feststellung, dass der alte Kontinent nur ein Nebenschauplatz ist. Wer schwach ist, und sich von anderen abhängig macht, droht, zum Gefangenen zu werden.

Gokhan Balci/Anadolu Agency via Getty Images

Während Deutschland immer noch auf Thüringen und Hanau starrte, und in Italien bereits ganze Ortschaften wegen Corona verriegelt wurden, regte sich in der Türkei etwas, das größtenteils im allgemeinen Massenstrom der Medien unterging. Es handelt sich um dieses kleine Video.

Oft wird Erdogan unterstellt, er wolle das Osmanische Reich wiederbeleben. Diese Unterstellungen haben sich erledigt. Er sagt es offen. Die Türkei sei in ihren heutigen Grenzen zu klein, sie sei in Wirklichkeit größer: dort, wo Türken leben, da sei auch die Türkei.

Das anvisierte Reich ist eine kleinere Version als das historische Territorium, das die Hohe Pforte beherrschte. Doch die Grenzen machen hellhörig. So erwähnt Erdogan nicht nur Teile Syriens und des Iraks, oder sogar die Krim. Er nennt deutlich „Üsküp“. Dabei handelt es sich um die nordmazedonische Hauptstadt Skopje. Das heutige Nordmazedonien war der letzte europäische Teil des Osmanischen Reiches, der erst kurz am Vorabend des Ersten Weltkriegs abgetreten wurde, und zwischen den neuen Balkanstaaten hochumkämpft war.

Eine solche offene Revisionsforderung würde normalerweise hellhörig stimmen. Es ist dabei nicht das erste Mal, dass die AKP Karten einer „neuen Türkei“ verbreitet, bei denen Territorien im Nahen Osten wie in Europa beansprucht werden. Bereits heute betrachten die Nachfahren der Osmanen die nördlichen Teile Syriens und des Iraks als Einflusssphären. Das nonchalante Eingreifen des türkischen Militärs in Nordsyrien wurde vom Westen achselzuckend zur Kenntnis genommen. Syrien wird offenbar als anarchisches Spielfeld verstanden, wo jeder mitmischen darf. Das Narrativ lautet offensichtlich: gegen Assad ist alles erlaubt.

Eine solche Sichtweise übersieht jedoch, dass das oftmals herbeizitierte Völkerrecht, mit dem man sich zu jedem Anlass schmückt, so elastisch wie Gummi geworden ist. Zudem wirkt es wenig glaubwürdig, eine Zukunft Syriens herbeizufabulieren, wenn die einzige vor Ort legitime Ordnungsmacht – man mag sie mögen oder nicht – die syrische Regierung ist, die hier auf eigenem Territorium kämpft. Die Rückeroberung des eigenen Staates, auf die sie legitimen Anspruch hat, wird als „Angriff“ auf Idlib dargestellt. Wenn der Staat Syrien aber keinen Anspruch mehr auf Idlib haben sollte, so stellt sich die Frage: wer dann?

Die Türkei hat in dieser Weise einen Puffer geschaffen, der international vielleicht nicht anerkannt, dafür aber toleriert wird. Nun muss eine Invasionsstreitmacht wie die türkische allerdings auch damit umgehen, dass sie nicht endlos unabhängig in fremdem Land stehen kann, dazu ohne Kriegserklärung. Wer sich in die Gefahr begibt, kommt darin um – so banal das klingt. Dass der Schlag gegen türkische Truppen blutig, womöglich fahrlässig war, sei dahingestellt. Aber weder hat jemand die Türken in diese Zone eingeladen, noch handeln sie im Zuge eines UN-Mandats. Die Russen haben ihren Vorstoß damit erklärt, dass die türkischen Truppen Terroristen in ihren Reihen hätten bzw. diese unterstützten.

Von solchen Narrativen hören wir wenig. Hierzulande wird fast ausschließlich nur die Sichtweise der türkischen Regierung repliziert. Das gilt beispielsweise für die Tagesschau, die in diesem Artikel nur auf türkische Quellen rekurriert. Noch deutlicher fällt die Propaganda bei der BILD-Zeitung und ihrem Korrespondenten Julian Röpcke aus, der als „Dschihadi-Julian“ eine gewisse Prominenz erlangt hat.

Richtig gelesen, Erdogan führt diesen Krieg „für Europa“. Dass islamische Söldner, die in Erdogans Diensten stehen, im Grenzgebiet assyrische Dörfer säubern und Christen öffentlich hinrichten, wird dabei ausgelassen. Sie könnten das Narrativ durchbrechen, dass die Türkei im Sinne westlicher Werte und Demokratie gegen den Tyrannen Assad handelt. Im Schachspiel der globalen Mächte um den Nahen Osten gibt es aber keine fairen Händler. Die Türkei hat versucht, im Schwächemoment Syriens in ein Vakuum zu stoßen und zur nahöstlichen Großmacht aufzusteigen, insbesondere in Konkurrenz zum Iran, der mit seinen schiitischen Verbündeten so einflussreich geworden ist, dass er türkischen Ambitionen deutlich im Wege steht.

Die Rechnung ist allerdings nicht aufgegangen. Erdogan hat nach der Weltmacht gegriffen – und sich eine blutige Nase geholt. Die russische Unterstützung Syriens dürfte dafür den Ausschlag gegeben haben. Die türkischen Erfolge halten sich in überschaubaren Grenzen, die Rückeroberung Idlibs könnte zum Menetekel des syrischen Abenteuers werden. Zwar haben beide Mächte immer wieder Pausen, Verhandlungen und Telefonate gepflegt.

Aber der Gegensatz zwischen den Erben des Zarenreiches und dem neu-osmanischen Imperium ist keine Episode. Er ist aufgrund geographischer Konstanten historisch unüberbrückbar. Die Russen sind nicht nur die Kinder der Zaren, sie sind auch Kinder der Orthodoxie und damit Kinder von Byzanz. Manche Kalten Krieger mögen Russland immer noch als entkernte Sowjetunion sehen. Tatsächlich ist es längst eine neobyzantinische Auflage. Die Auseinandersetzung ist eine tausendjährige. Solange Konstantinopel in der Hand der Türken ist, wird es keinen dauerhaften Frieden geben, weil Russland der Zugang zum Mittelmeer fehlt und zu seinen orthodoxen Schützlingen im Nahen Osten. Man sollte diese Kontinuität nicht unterschätzen. Noch gestern sagte ein türkischer Moderator, die Türken hätten sechzehnmal gegen die Russen gekämpft – und sie würden es wieder tun.

— ilhan tanir (@WashingtonPoint) February 27, 2020

Die Zählung erscheint willkürlich, denn die Geschichte zählt zehn russische Türkenkriege – dazu kommen der Krimkrieg und der Erste Weltkrieg. Es ändert aber wenig an der Ausgangssituation. Sie ist zugleich eine, in der die Türkei in große Bedrängnis gerät. Der Ausweg soll ein Appell an die NATO sein – im Zweifel durch Erpressung. 72 Stunden will die Türkei die Grenzen öffnen. Die ersten Migranten sind bereits auf den Weg. Der Westen soll die Wahl haben, welches Übel er bevorzugt. Europa macht dabei neuerlich die Erfahrung eigener Ohnmacht. Dass Merkels Nahostpolitik ein einziges Desaster ist, bleibt dabei nur das geringste Thema. Viel wichtiger bleibt die Feststellung, dass der alte Kontinent nur ein Nebenschauplatz eines ganz anderen Konfliktes ist, und als Zuschauer die Konsequenzen spüren darf, wenn es nicht spurt, wie es einer der Kombattanten will. Wer schwach ist, und sich von anderen abhängig macht, droht, zum Gefangenen zu werden.


Die Beitrag ist zuerst hier erschienen.

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