Kai Wegners Wahl zum Berliner Bürgermeister verlief chaotisch

Kai Wegner (CDU) brauchte drei Wahlgänge, bevor das Berliner Abgeordnetenhaus ihn zum neuen Regierenden Bürgermeister gewählt hat. Schon startet eine Debatte, ob die AfD ihn gestützt hat - und was das bedeutet. Von José Marinho

IMAGO / Metodi Popow

In Romanen von Steven King sind die Schau-Orte oft auf alten Indianerfriedhöfen gebaut. Mit fatalen Folgen. Geister feiern Silvesterpartys in hoch gelegenen Luxushotels, Katzen erheben sich aus ihren Gräbern und wenden sich gegen ihre Halter – auf jeden Fall liegt ein Fluch auf den Orten. Die Wahl des neuen Regierenden Bürgermeisters von Berlin, Kai Wegner (CDU), könnte ebenfalls von einem Fluch belegt sein – spekuliert zumindest der RBB zehn Minuten nach seiner Wahl. Denn er könnte mit Stimmen der AfD ins Amt gekommen sein. Nur: So genau weiß man das nicht. Die Wahl war nämlich geheim. Außerdem lässt das Wahlergebnis keinen Schluss darüber zu, wer wie gewählt hat.

Beziehungsweise die Wahlergebnisse. Denn davon gab es drei im Berliner Abgeordnetenhaus. 80 Stimmen brauchte Wegner, über 86 Stimmen verfügt seine Koalition aus CDU und SPD. Im dritten Wahlgang erhielt der neue Regierende exakt diese 86 Stimmen. Doch ob das tatsächlich bedeutet, dass dies die Stimmen aus seiner Koalition waren, bleibt offen, solange die Wahl des Abgeordnetenhauses geheim bleibt.

Im ersten Wahlgang hatte Wegner nur 71 Stimmen erhalten – im Zweiten Wahlgang 79 Ja-Stimmen. Ob nun einfach nur acht Abgeordnete ihre Meinung geändert haben oder ob es eine komplette Verschiebung gegeben hat – selbst das ist offen. Denn dass es in der SPD Vorbehalte gegen ein Zusammengehen mit der CDU gibt, war bekannt. Ein Mitgliederentscheid ging reichlich knapp aus.
Doch nach dem zweiten Wahlgang beklagte sich die Architektin dieser Koalition über das Verhalten: Sie sehe ein, dass manche in der ersten Runde noch einen Denkzettel verteilen wollten, sagte die scheidende Regierende Bürgermeisterin und künftige Wirtschaftssenatorin, Franziska Giffey (SPD). Doch nun gehe es um die Zukunft der Stadt. Da sei eine solche Trotzhaltung nicht mehr akzeptabel.

Nur: Es ist durchaus denkbar, dass sich zwischen erstem und zweitem Wahlgang manch ein Christdemokrat Gedanken gemacht hat: Ist diese SPD wirklich der Koalitionspartner, auf den man bauen will? Schickt die Partei nicht einen Bürgermeister ins Amt, der dann im Parlament eigentlich gar keine Mehrheit hat? Zumindest keine zuverlässige. Vielleicht stand die SPD im zweiten Wahlgang, aber die CDU nicht. Auch das: Spekulation.

Fakt ist: Wegner ist gewählt. Schon vorher bekannt war, dass er es schwer haben wird, beide Koalitionspartner unter einen Hut zu bringen. Das hat sich nun noch einmal gezeigt. Der Fluch, der über dieser Wahl liegen soll, ist aber ein Gespenst. Kein harmloses, unterhaltsames eines großartigen Autors. Sondern das Gespenst einer politischen Unkultur, die zum wichtigsten Ziel erklärt hat: Egal, was auch passiert, sei nicht schlimm, nur dürfe Rechts nicht davon profitieren.
Zwei Wahlen jüngerer Zeit sind dafür bekannt, dass sie nicht funktioniert haben, weil sie durch mehrere Wahlgänge mussten. 2005 bekam Heide Simonis (SPD) keine Mehrheit zustande, weil ihr ein Abgeordneter hartnäckig die Gefolgschaft verweigerte. Bis heute hält sich ebenso hartnäckig das Gerücht, dass Ralf Stegner (SPD) der „Heidemörder“ war.
Thomas Kemmerich (FDP) wurde kurz vor Ausbruch der Pandemie in Thüringen mit Stimmen der AfD zum Ministerpräsidenten gewählt. Kanzlerin Angela Merkel (CDU) forderte persönlich, dass diese Wahl rückgängig gemacht werden müsse. Ein Verfassungsbruch, wie ihr später das Verfassungsgericht attestierte. Mit ausreichend zeitlicher Verzögerung, um nicht allzu aufmüpfig zu sein. Doch in Erwartung späterer Posten im Bund knickte die FDP ein, Kemmerich trat zurück und die CDU unterstützte fortan einer Minderheitsregierung der Linken in Thüringen.

Das Kemmerich-Szenario beschworen nun auch Grüne und Linke im Berliner Abgeordnetenhaus. Anderthalb Stunden Beratung gab es nach dem zweiten Wahlgang. Direkt danach setzten Grüne und Linke eine weitere Pause für den Ältestenrat durch. Nachdem der getagt hatte, wollten sie den dritten Wahlgang gänzlich verschieben. Da machten aber CDU und SPD nicht mehr mit. Mit 86 Ja-Stimmen wählten sie Wegner zum Bürgermeister. Da es aber auch drei Enthaltungen gab, ist es wahrscheinlich, dass der neue Regierende auch Stimmen von anderen Fraktionen erhielt. Zumal die AfD eine Pressemitteilung herausgegeben hat, dass sie Wegner im dritten Wahlgang unterstützen wolle.

Liegt nun wirklich der Fluch der Rechten über dem Berliner Abgeordnetenhaus? Eher nicht. Offensichtlich liegt der über dem Thüringer Landtag: Just an dem Tag, an dem Wegner letztlich doch Bürgermeister wurde, meldete die Welt: „AfD baut Vorsprung vor Linkspartei in Thüringen aus“. Die Beschwörung, mit den Stimmen der AfD dürfe in Deutschland nicht gewählt werden, hilft am Ende wohl offensichtlich doch eben dieser AfD.

Letztlich ist es – verblüffender Weise – die Politik, die stimmen muss. Ihre Ergebnisse. Da wird es für Wegner nun leichter. Bei inhaltlichen Abstimmungen müssen die Abgeordneten ausdrücklich namentlich abstimmen. Ein Verstecken hinter einer geheimen Wahl gibt es in Sachfragen nicht. Wenn CDU und SPD diese so verbocken, wie davor SPD, Grüne und Linke, dann bleibt es in Berlin gruselig. Denn wer in der Hauptstadt schon einmal einen Pass beantragt hat, ein Auto zulassen oder gar ein Gewerbe anmelden wollte, der kam sich wie in einem Roman von Steven King vor – an der Stelle, wo vorher ein Indianerfriedhof war.

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Kommentare ( 52 )

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Mikmi
11 Monate her

Kommt ein neuer Chef in die Firma, stellt die Frage: Für mich oder gegen mich? Der Kevin kennt das wohl nicht, hat ja auch nie gearbeitet, nur öffentlich gegen diese Koalition in Berlin zu wettern, dass ist nicht zu Ende gedacht.

jopa
11 Monate her

Wenn die Schwefelpartei ihn gewählt hat, muß diese Wahl sofort rückgängig gemacht werden! Wo ist Olaf? Im Gegensatz zu Mutti damals noch keine Wort von ihm! Das geht doch nicht! Billigt er etwa diese Wahl? Dann müssen die Grünen umgehend die Koaltion verlassen, mit einem solchen Schwefelparteisympathisanten kann man doch nicht an einem Tisch sitzen.:-))

alter weisser Mann
11 Monate her

„Die AfD wollte einfach chaotisieren“
plärrt Wegner, um nicht zugeben zu müssen, wer hier die Chaoten sind, die nichtmal zum Start ihre Koalitionsmehrheit hinbringen. Ganz schwache Nummer.

hansgunther
11 Monate her

Was für ein armseliger „HansWurst der CDU“…kaum aufs Schild gehoben übergibt er sich. Gewürge, gekotze ….AFD. Selbst wenn sie ihn auf das Schild gehoben haben, seis nur mit einer Stimme!? Die Kohle wird er wohl annehmen, keine moralischen Zweifel! Innehalten und nachdenken, war wohl gestern.
Die Chaotentruppe ist wohl hinreichend beschrieben, deutscher Einheitsbrei der Blockpartei, die Schwarzen ganz vorn, die Roten im Gleichschritt in den Untergang die restliche Farbenlehre – eben Leere!

Klaus Kabel
11 Monate her

Die Wahl des Bürgermeisters von Berlin könnte ein Blick in die Zukunft sein. Wie in Schweden (Schwedendemokraten) wäre eine Regierungsbildung ohne die Stimmen der AfD nicht möglich. Dass die Grünen vor Wut schäumen, ist eine Genugtuung. Auch wenn Wegner sein Versprechen bricht, die Grüne Politik nicht weiter zuführen, ist das größere Übel, Jarrasch, verhindert worden. Thüringen hat das Demokratieverständnis Merkels gezeigt. Sie ist weg. Ob noch andere diese Chuzpe haben, nun die Wahl in Berlin als ungültig zu erklären, glaube ich im Moment nicht. Blicken wir gespannt auf die nächsten Wahlen.

Paul987
11 Monate her

Gestern schon hat ja der frisch gewählte OB die Schuld an seinem Wahldesaster der AfD in die Schuhe geschoben. „Die AfD wollte einfach chaotisieren, es sind Demokratiefeinde!“, so der CDU-OB. Da sieht man mal die schon ziemlich verleumderische Frechheit unserer selbsternannten Goldstandart-Demokraten. Er ist als OB-Kandidat so schwach aufgestellt, dass er nicht mal seine Koalition im ersten Wahlgang dazu bringt ihn mit absoluter Mehrheit zu wählen, aber die AfD ist schuld…hahaha. Und das der Landesverband Berlin der AfD angeblich „Demokratiefeind“ ist, wurde den SPD/Grünen/Linken/CDU-Demokraten doch schon vor ca. zwei Jahren vom Verwaltungsgericht Berlin rechts und links um ihre demokratischen Löffel… Mehr

Last edited 11 Monate her by Paul987
Reini
11 Monate her

Als Merkel regierte funktionierte noch die Demokratie, da wurde ein nicht genehmes Wahlergebnis einfach mittels beherztem Eingreifen korrigiert.
Heute nimmt man es unwidersprochen hin, dass ein Bürgermeistersessel von einer Person eingenommen wird, dem es ohne die Hilfe des politischen Gegners wohl nicht gelungen wäre.
Wenn solch Sittenlosigkeit und falsches Demokratieverständnis auf Bundesebene einreißen ist zu befürchten, dass die unvergleichliche Erfolgsstory der Ampel über kurz oder lang ein Ende findet.

Konservativer2
11 Monate her
Antworten an  Reini

Genau, gerade jetzt, wo so viele sehnsüchtig erwartete, zukunftsweisende, Frieden und Wohlstand sichernde Projekte nach jahrzehntelanger Stagnation endlich auf den Weg gebracht wurden – furchtbar!

Siggi
11 Monate her

Eins dürfte nach seinen Äusserungen zur AfD klar sein. Seine Politik wird näher an der der Grünen sein, denn an der Notwendigen. „Ich habe die grösste AfD-Hasserin Deutschlands ins Amt geholt“. Damit hat er sich komplett disqualifiziert. lso keien Demokratie in Berlin. Der übliche Sumpf wird fortgesetzt. Und am ersten Mai wird Berlin zum Schlachtfeld. Er wird dort m.E. das erste Mal richtig versagen.

Mausi
11 Monate her

Eigentlich kann „man“ nur hoffen, dass die Stimmen der AfD vernünftigen Vorschlägen helfen, wenn die SPD sich sperrt. Aber im Grunde ist Berlin langfristig kaputt. Daran wird eine Regierung mit CDU-Beteiligung auch nichts ändern. Was will ein CDU Bürgermeister, wenn die Bildung in Berlin am Boden liegt? Wenn Beamte und Angestellte des ÖD links gestrickt sind? Er kann noch nicht mal die Klimakleber in ihre Schranken weisen, indem er die Demo mit wirksamen Auflagen versieht. Kein Berliner Gericht wird diese Auflagen durchgehen lassen. Und zu AM: „Ein Verfassungsbruch, wie ihr später das Verfassungsgericht attestierte.“ Aber mit einem deutschen Kreuz belohnt… Mehr

Last edited 11 Monate her by Mausi
Konservativer2
11 Monate her

Genosse Scholz wurde mit den Stimmen der Grünen zum Bundeskanzler. Frage an alle „Demokraten“ in Berlin und anderswo: was ist daran besser? Regt sich auch keiner drüber auf.