Freie Rede? Mehr Ordnungsrufe und Rügen in den Parlamenten

In den Parlamenten wird die Opposition kaltgestellt. Die AfD, zweitstärkste Kraft im Bund, stellt weder Präsidenten noch Vize, wird mit neuen Ordnungsgeldern, Mikrofonabschaltungen und Geschäftsordnungs-Tricks mundtot gestellt. Während CDU, SPD und Grüne Demokratie haben, bleibt vom freien Wort nur die Rüge übrig.

picture alliance / Flashpic | Jens Krick

Wenn man von den sog. Kommunalparlamenten absieht, gibt es in Deutschland 17 Parlamente: Ein Bundestag und 16 Landesparlamente. Diese 17 Parlamente werden an der Spitze 12mal von Frauen (70 Prozent), fünfmal von Männern repräsentiert. Die Grünen und die CSU stellen jeweils eine Parlamentspräsidentin (BaWü, Bayern), die CDU acht und die SPD sieben Präsidentenposten. Die AfD hat keinen dieser Posten, in Thüringen nicht einmal einen Vize-Posten, wiewohl sie dort die mit Abstand größte Parlamentsfraktion (AfD: 32; CDU: 23 Abgeordnete) ist. Von den insgesamt 52 Vize-Präsidentenposten in Bund und Ländern entfallen auf CDU/CSU 15 Posten, auf die SPD 13, auf die Grünen neun, auf die FDP drei, auf die „Linke“ fünf, auf das BSW drei, ferner auf die Freien Wähler und den SSW je ein Posten. Die AfD stellt in Brandenburg und Sachsen je einen Vize-Posten. Repräsentative Demokratie eben?!

Der Ton ist heftiger geworden

Derweil geht es im Bundestag nicht zu wie in einem Novizenkloster. Beispiel 14./15. Mai 2025: Als „Linken“-Chefin Ines Schwerdtner AfD-Mitglieder »Faschisten« nannte, beließ es Bundestagsvizepräsidentin Andrea Lindholz (CSU) bei einer Ermahnung. Dann rief die „Linke“ Heidi Reichinnek dazwischen, es seien nun mal Rechtsextreme. Lindholz erteilte eine Rüge. Wenig später nannte ein Linkenabgeordneter den AfD-Mann Stephan Brandner einen »Faschisten«. Auch das wurde gerügt. Dann bezeichnete ein AfD-Abgeordneter die Linken als »diktatorisch«. Sitzungsleiterin Klöckner (CDU) erteilte die nächste Rüge. Schließlich verwendete die AfD den Begriff »Remigration«. Das Präsidium erteilte Rüge Nummer vier. Tags darauf bezeichnete der AfD-Abgeordnete Fabian Jacobi die anderen Fraktionen als »Kartellparteien«. Es gab einen Ordnungsruf. Als er sich über »Amtsmissbrauch« echauffierte, folgte der zweite. Und so weiter und so fort: Wortmeldungen der AfD erinnern einen Linken an ein »Affenhaus«? Wieder eine Rüge! Der »Linksextremismus mit seinen Schlägertruppen« habe laut AfD-Chefin Weidel Sympathisanten im Bundestag? Folge: eine Rüge!

Was gibt Statistik her? Zählte die Bundestagsverwaltung in der Legislatur vor 2017 in vier Jahren nur zwei Ordnungsrufe, waren es zwischen 2017 und 2021 bereits 47, von 2021 bis 2025 sogar 135. Der Großteil davon ging jeweils an die AfD, gefolgt von der Linken. In bis dato 32 Plenarsitzungen von März bis Mitte Oktober 2025 gab es bislang 23 Ordnungsrufe. 20mal erhielten AfD-Leute in der laufenden Wahlperiode bereits Ordnungsrufe, nur dreimal traf es die Linke. Neunmal wurden AfD-Abgeordnete im aktuellen Bundestag gerügt, siebenmal die Linken. Insgesamt hat die AfD-Fraktion seit Oktober 2017 nach SPIEGEL-Zählung 171 Ordnungsmaßnahmen kassiert, die Linke kommt auf 33. Allerdings hat die AfD (152) deutlich mehr Abgeordnete als die „Linke“ (64).

Ähnlich hohe Zahlen gab es im Bundestag historisch nur zweimal, einmal in den Nachkriegsjahren und dann ab 1983 mit dem Einzug der Grünen in den Bundestag.

Und nun die neue Härte: Mit den Stimmen von CDU/CSU und SPD hat der Bundestag am Abend des 16. Oktober eine weitreichende Änderung des Abgeordnetengesetzes beschlossen. Das Ordnungsgeld steigt von 1.000 auf 2.000 Euro, im Wiederholungsfall von 2.000 auf 4.000 Euro. Was sanktioniert wird, entscheiden Bundestagspräsidentin Julia Klöckner (CDU) oder einer ihrer Vertreter von SPD, Grünen, Linken und CSU ad hoc oder das Bundestagspräsidium. (Dem die zweitgrößte Fraktion, die AfD, nicht angehört.) Jetzt gilt: Wenn der Sitzungsleiter einen Abgeordneten binnen drei Sitzungswochen dreimal zur Ordnung ruft, wird nun ebenfalls ein Ordnungsgeld fällig. Drei Ordnungsrufe innerhalb einer Sitzung führen zum sofortigen Verweis aus dem Plenarsaal. Der parlamentarische Geschäftsführer der AfD-Fraktion, Stephan Brandner, nannte die Beschlüsse einen „Frontalangriff gegen die Opposition“. AfD-Co-Chefin postete am 17. Oktober 2025 auf X „Wir sind einer skandalös, tendenziösen Sitzungsleitung aus dem Präsidium unterworfen. Ich werde permanent von den Fraktionen der CDU und SPD aus der 1. Reihe angebrüllt, von den Linken aus den hinteren Reihen als Faschistin oder Nazi beleidigt – ohne dass je interveniert würde.“

Klöckner entgegnete: „Es geht hierbei nicht um eine politische Richtung, sondern um das Wie unseres parlamentarischen Arbeitens.“ Es handle sich bei den Beschlüssen um „die größte Reform unserer Geschäftsordnung seit 1980“. Apropos: Stephan Brandner: Seit 2017 hat der AfD-Mann 29 Ordnungsrufe und sieben Rügen erhalten. Zum Beispiel weil er Kanzler Merz »Pinocchio-Fritze« und die Regierungsparteien »Syndikatsparteien« genannt hatte.

Bayern strenge Parlamentspräsidentin Ilse Aigner (CSU)

Am 24. Juli 2025 war es im Bayerischen Landtag zu einem „Eklat“ gekommen. Entgegen der Gepflogenheit, dass der Oppositionsführer vor der Sommerpause – einigermaßen harmonisch – das Schlusswort hat, griff AfD-Fraktionschefin Katrin Ebner-Steiner die Koalition an. Abgeordnete verließen den Saal, Landtagspräsidentin Ilse Aigner (CSU) mahnte die Rednerin, sich an „Tradition und Gepflogenheiten“ zu halten. Schließlich drehte Aigner Ebner-Steiner das Mikrofon ab. Wochen später, am 15. Oktober, ändert der 19köpfige Ältestenrat des Landtags (darunter drei AfD-Abgeordnete) mit mehrheitlichem Beschluss die traditionellen Regeln: Die Schlussworte vor der Sommerpause sind jetzt Präsidentin Ilse Aigner vorbehalten. Vertreter von Staatsregierung und Opposition dürfen nicht mehr sprechen, also auch nicht Ministerpräsident Markus Söder (CSU).

Aber es ging vorher schon strenger zu: Die für Störungen im Landtag erteilten Rügen waren im Juni 2024 abgeschafft worden. Stattdessen gibt es nun ein dreistufiges Verfahren, bei dem zunächst ein Ordnungsruf erteilt wird. Bei besonders gravierenden Fällen oder wiederholtem „Pöbeln“ droht in einer zweiten Stufe ein Ordnungsgeld von bis zu 2.000 Euro – beziehungsweise bei Wiederholung von bis zu 4.000 Euro – und als letztes Mittel der Ausschluss von Sitzungen. Die Entscheidung über das Verhängen eines Ordnungsgeldes trifft das Landtags-Präsidium, dem die AfD nicht angehört. Die Landtags-AfD wehrt sich vor Gericht dagegen. Die AfD hat vor dem Bayerischen Verfassungsgerichtshof Klage gegen die entsprechende Änderung des Abgeordnetengesetzes eingereicht. Hintergrund: Der AfD-Abgeordnete Oskar Lipp hatte ein Ordnungsgeld von 1.000 Euro verhängt bekommen, weil er in einer Plenarsitzung den NS-Begriff „Endsieg“ benutzt hatte. Landtagspräsidentin Aigner (CSU) bezeichnete dies als eine erhebliche Verletzung der Ordnung und Würde des Landtags.

Fragen zum Schluss

Soll Deutschlands Polit-Desaster wirklich nur mit rundgelutschten Worten diskutiert werden? Wäre das nicht noch mehr Vertuschung gegenüber dem Wahlvolk? Letzteres wünscht sich Klartext. Vor allem wollen die derzeit potenziell rund 13 Millionen AfD-Wähler, dass die in den Sonntagsfragen führende AfD nicht nur zu Wort kommt, sondern auch nicht nahezu überall bei der Besetzung von Parlamentsposten von einer eigenwilligen informellen Koalition aus CDU/CSU/SPD/Grünen/Ex-SED abgeblockt wird. Mit repräsentativer Demokratie hat das nichts zu tun. Da mögen sich die selbsternannten Lordsiegelbewahrer „unserer“ (also der von ihnen ausgelegten und gekaperten) Demokratie noch so echauffieren.

Unterstützung
oder

Kommentare ( 63 )

Liebe Leser!

Wir sind dankbar für Ihre Kommentare und schätzen Ihre aktive Beteiligung sehr. Ihre Zuschriften können auch als eigene Beiträge auf der Site erscheinen oder in unserer Monatszeitschrift „Tichys Einblick“.
Bitte entwerten Sie Ihre Argumente nicht durch Unterstellungen, Verunglimpfungen oder inakzeptable Worte und Links. Solche Texte schalten wir nicht frei. Ihre Kommentare werden moderiert, da die juristische Verantwortung bei TE liegt. Bitte verstehen Sie, dass die Moderation zwischen Mitternacht und morgens Pause macht und es, je nach Aufkommen, zu zeitlichen Verzögerungen kommen kann. Vielen Dank für Ihr Verständnis. Hinweis

63 Comments
neuste
älteste beste Bewertung
Inline Feedbacks
Alle Kommentare ansehen
horrex
1 Monat her

Vor vielen Jahren schon, etwa 2007, stellte ich – selbstverständlich von Linken widersprochen – fest, dass mancherlei Begriffe, damit ein Teil der Sprache von „Links“ gekapert wurde. Im Extremfall gar die Bedeutung von Begriffen, wie beispielsweise des Begriffs „liberal“ gar – ihr krassen Gegenteil verkehrt wurde.
Wer die Bedeutung solch einer Sprach-Manipulation, damit dieser Manipulation des Denkens, also den „Hintergrund“ nicht versteht hat – so scheint es mir – hat ein sehr wichtiges Büchlein, „1984“, 1949 erschienen, weder gelesen noch verstanden was dieses Büchlein – leider – vorweg nahm. –

Fatmah
1 Monat her

Alles was man der AFD vorwirft, sehe ich im infantilsten Bundestag aller Zeiten täglich von den Demokratierettern ausgelebt.

H. Priess
1 Monat her

Ein Kaspertheater wie aus dem Buche. Worte werden verboten oder wer sie ausspricht bekommt die Keule von Klöckner und Komplizen zu spühren. Wenn man mal die Reden der AfD anschaut und die Pöbeleien der Linksgrünrotschwarzen hört kommt man nicht umhin festzustellen, daß das genau abgesprochen ist. Reine Provokation und auch gut für die Anti AfD Propaganda denn man kann dann sagen: Schaut euch die Strafen gegen die AfD an die sind viel viel mehr als alle anderen Parteien, weil sie nur am rumpöbeln und beleidigen sind und sich an keine parlamentarische Regeln halten. Wer fragt schon nach warum und wofür?… Mehr

Nibelung
1 Monat her

Das sich ein frei gewählter Abgeordneter so eine Behandlung überhaupt gefallen läßt ist der eigentliche Ausdruck von Duckmäusertum, denn er ist nicht von seinen politischen Kollegen gewählt worden, sondern von seinen Wählern, die von ihm etwas erwarten und deshalb kann man die Ausführungen der AFD generell nur begrüßen, denn die haben den Mumm in den Knochen, indem sie genau das machen, was man von ihnen als Oppositionspartei erwartet hat. Sonst könnten sie es gleich bleiben lassen und die Oberlehrerhafte ehemalige Weinkönigin mit dem Touch zur völligen Ergebenheit ist kein Maßstab und kann nur abschreckend sein und das Parlament ist der… Mehr

andreas
1 Monat her

Aigner und Klöckner wären sogar als Kindergärtnerinnen überfordert weil das Gerechtigkeitsgefühl von vierjährigen schon weiter entwickelt ist als bei diesen beiden …

Britsch
1 Monat her

Praktizierte totalitäre Diktatur quasi durch die Hintertür.
Die CDU ganz vorne mit dabei

Peter Pascht
1 Monat her

Buchempfehlung für die sehr werte und geehrte Frau Glöckner.
Professor Unrat“ – Heinrich Mann
Kleine Rezension
Gymnasialprofessor Raat tyrannisiert seine Schützlinge, wo er nur kann, was ihm seinen Spitznamen einbringt.
Um einen aufmüpfigen Schüler bloßzustellen, folgt er einem Hinweis in ein Vergnügungslokal.
Doch dort verfällt er selbst einer jungen Tänzerin aus zweifelhaften Verhältnissen.
Die Fassade der bildungsfernen bürgerlichen Moral wird rissig, und das Ende des Tyrannen beginnt.
»Professor Unrat« ist neben dem »Untertan« Heinrich Manns schärfster satirischer Angriff auf die infame Gesellschaft und Staat mit ihrer Doppelmoral und ihrem autoritären Gebaren, Bildungswesen und Justiz– ein großer deutscher Roman.

Peter Pascht
1 Monat her

Bundestagsabgeordnete sind wie Richter frei in ihrer Rede nicht an Weisung und Aufträge gebunden. Richter sind aber Recht und Gesetz unterworfen, während Bundestagsabgeordnete nur ihrem Gewissen unterworfen sind. Das heißt Bundestgasabgeordnete sind absolut frei in ihrer Rede, bis auf das Verbot von Invektiven(Bleidigungsworte), Schwein, Esel, Kuh, usw. Also das Verbot von Straftaten durch Worte. Was keine Straftat ist, kann einem Bundestagabgeordneten lt. Grundgesetz nicht verboten werden. Folgendes ist lt. GG also nicht verboten „Sie sind ein Faschist“ – politische Wertung „Sie sind ein Stalinist, Maoist“ – politische Wertung „Migration“, „Remigration“ – politische Wertung, sind der gleiche Wortgebrauch wie „Resettlement“ denn… Mehr

Mausi
1 Monat her
Antworten an  Peter Pascht

Zu dem Ergebnis kommt eine nüchterne Betrachtung. Selbst das BVerfGE wird diese Betrachtung nicht unterstützen. Schließlich betrifft das die inneren Abläufe, vgl. die Geschäftsordnung.
Es ist das Gleiche beim ÖRR. Das Ergebnis wird lauten, alles neutral genug. Zahlen Sie weiter.
Oder auch: Kein Eilantrag verhinderte, dass irgendein Gremium ein Grundrecht, das passive Wahlrecht entziehen kann.

Jerry
1 Monat her

Ich habe die Weidel Rede gesehen. Der Auftritt des absolut unsympathischen Dirk Wiese von der SPD, war wirklich unter aller Kanone. Ich wage zu behaupten, dass sein Verhalten parteiintern abgesprochen war. Das waren keine Zwischenrufe wie man sie sonst kennt, es war eine geplante Störaktion. Nichts anderes. Und er wusste, dass er seitens der Sitzungsleitung nichts zu befürchten hat, deshalb konnte er wunderbar seine Hasstirade gegen die AfD durchziehen. Ein wirklich absolut widerwärtiger Mensch und eine ebenso widerwärtige Partei. Ich käme niemals mehr auf die Idee, der SPD meine Stimme zu geben.

Juergen Waldmann
1 Monat her

Meinungsfreiheit ist kein Freibrif !
Das sagte schon Frau Faeser und Herr Haldenwang in der Ampelregierung !
Um „UnserDemokratie“ zu retten , schwächt und schädigt Frau Präsidentin die DEMOKRATIE der BRD !

jopa
1 Monat her
Antworten an  Juergen Waldmann

Es geht doch um das Überleben „unserer“ Demokratie!!! Demokratie war gestern.