Verstörende Dokumentation über „Seenotrettung“ im Mittelmeer vor Libyen

Es ist sicher kein Auftrag an europäische NGO, vor der nordafrikanischen Küste auf Schlauchboote zu warten und damit das Geschäft der Schlepper zu vollenden.

Screenprint: Arte/"Endstation Libyen"

Die spanische Regisseurin Paula Palacios ist eine mutige Frau. Sie geht dorthin, wo es weh tut. Wo die Risiken selbst Schaden zu nehmen hoch sind und wo Situationen zu erwarten sind, welche das Vorstellbare schnell übersteigen können.

Arte zeigte ihre aktuelle Dokumentation „Endstation Libyen“ zu später Stunde und warnte die Zuschauer vor: Kinder, Jugendliche und empfindsame Menschen sollten nicht hinschauen. Nun muss man nicht empfindsam sein, um sich mehr als einmal zu grausen. Beispielsweise dann, wenn Palacios mit einer Afrikanerin spricht, die in einem Lager in Libyen gequält wurde, weil sie den Schleppern die Überfahrt nicht bezahlen konnte und auch ihre Verwandten irgendwo auf dem afrikanischen Kontinent nicht genug Dollar nach Libyen schicken konnten, um sie frei zu kaufen. Arme und Beine sind entstellt, die Haut großflächig schwer geschädigt. Sie berichtet von Elektroschocks und davon, dass sie an den Händen aufgehängt und geschlagen wurde.

Ja, es ist furchtbar, aber verstörend ist auch eine der zentralen Botschaften der Dokumentation: Das Grauen in den Lagern steht in direktem Zusammenhang mit der Anwesenheit von Schiffen europäischer Nichtregierungsorganisationen (NGO). Ohne sie gäbe es kein Geschäftsmodell für die Schlepper, ohne die Hoffnung auf diesen Schiffen übersetzen zu können, würden sich viel weniger Migranten auf den Weg machen, also auch viel weniger Dollars in den Taschen der Schleuser landen. Was bis hinein in den Osterappell von über 200 deutschen Bundestagsabgeordneten bestritten wird, hier wird es wahr: Diese privaten Organisationen tragen ein gerüttelt Maß an Verantwortung am Grauen und Elend.

Zu Beginn des Films ist der italienische Innenminister Matteo Salvini in einem Video zu sehen, wie er die NGO-Schiffsbesatzungen kriminalisiert und ihnen vorwirft, ebenfalls an den Migranten zu verdienen, die über das Meer nach Europa wollen. Salvini zeigt sich in diesem kurzen Film maximal von seiner unsympathischen Seite. Es ist widerlich von der Gestik bis über die Sprache, wenn er Migranten als Fleischlieferungen („Carne“) bezeichnet, bis hin zum hämischen Gesamteindruck des kurzen Vortrags. Nichtsdestotrotz liegt er, das wird diese knapp eine Stunde dauernde Dokumentation zeigen, damit nicht gänzlich falsch. Auch wenn sie es selbst nicht so gewollt haben muss, Paula Palacios Film sendet eine klare Botschaft an die NGO: Lasst es sein. Es muss eine andere Lösung geben. So lange ihr da seid, werden es mehr. Werden mehr sterben.

Erschütternd die Szenen, wenn sich die NGO-Schiffe mit der libyschen Küstenwache ein Katz- und Mausspiel liefern, wenn um die Aufnahme der Menschen in den Schlauchbooten gerungen wird. Sind Schiffe von Küstenwache und NGO vor Ort, dann verstehen die Leute in den maroden Schlauchbooten sehr schnell, wer sie wohin bringen kann und springen verzweifelt ins Meer, um vor der Küstenwache beispielsweise zur Aquarius zu gelangen. Die Küstenwache allerdings steht in Verbindung mit einer italienisch betreuten Seenotleitzentrale in Tripolis, so erzählt es der Film. Paula Palacios ist an Bord des Schiffes der libyschen Küstenwache. Sie spricht mit den guten dutzend Seeleuten und ist live dabei, wie in dunkler Nacht ein Boot erreicht wird, dass sich in Seenot befindet. Da keine NGO-Schiffe in der Nähe sind, läuft alles bedrückt zwar, aber friedlich ab, die Menschen können gerettet werden.

Paula Palacios geht aber auch in Libyen an Land und schaut genau hin, wo diese verzweifelten Leute herkommen. Im Landesinneren besucht sie Lager an Knotenpunkten, dort, wo noch Hoffnungsvolle aus den angrenzenden afrikanischen Ländern zusammengekommen sind, um auf ihre Überfahrt zu warten.

Sie filmt an Orten, wo noch oder wieder die grüne Fahne Gaddafis über den Dächern weht. Und sie spricht mit den Organisatoren, mit den Schleppern und Schleusern, die ihr erstaunlich offen und ausführlich bereit sind, die Auskunft zu geben beispielsweise darüber, wie elementar wichtig die Schiffe der NGO für ihr Geschäftsmodell sind. Und wie geschäftsschädigend der Rückzug der meisten dieser Schiffe mittlerweile geworden ist. So werden die wenigen, die noch ankommen, noch härter ausgepresst, damit die Schleuser ihr Geld zusammenbekommen, gibt einer freimütig zu. Es ist widerlich.

Mittlerweile hätte sich auch immer öfter die Routen geändert, über die die Migranten nach Europa wollen: Das Ziel ist jetzt aus dem Inneren des Kontinents nach Marokko, um von dort aus nach Europa überzusetzen. Einige der NGO-Schiffe haben sich bereits in spanischen Häfen eingerichtet. Von Libyen aus setzen jetzt häufiger feste Boote über anstatt der maroden Schlauchboote, feste Boote, die weiter hinaus kommen, die die erweiterte Rettungszone überwinden, die ausgewiesen wurde für Arbeit der libyschen Küstenwache in ihren veralteten Schiffen.

Übrigens ein weiterer Skandal in diesem so verworrenen Gemengelage, dass die EU zwar diese Überreste von Gadaffis einstiger Grenzsicherung in italienischen Werften renoviert hat, aber bis heute nicht in der Lage ist, ein Reihe neuer und besser für die Aufnahme von Menschen auf höher See ausgerüstete Schiffe auszuliefern. So sieht man in Palacios eindrucksvoller Dokumentation, wie die Menschen stundenlang an Deck ohne Schutz Wind und Wetter ausgesetzt sind, ein Baby ist dabei, dass von der verzweifelten Mutter irgendwie vor der nächtlichen Kälte geschützt wird. Verzweifelt selbstverständlich auch deshalb, weil das ersehnte Europa wieder in weite Ferne gerückt ist, weil die Zahlungen an die Schlepper verloren sind. Zahlungen, teilweise durch Folter abgepresst, wie die Filmemacherin aus erste Hand erfahren hat.

Die Botschaft dieser schaurigen Dokumentation richtet sich an die Nichtregierungsorganisationen ebenso wie an die EU und die UN: Zum einen sind die Schiffe der NGOs ohne Wenn und Aber ein Pullfaktor, sie sind sogar unersetzbarer Teil des Geschäftsmodells der kriminellen und folternden Schlepper. Und zum anderen ist die Staatengemeinschaft aufgerufen, in Libyen aktiv zu werden, Sicherheit herzustellen, um dieses Grauen endlich zu beenden.

Das Libyen Gadaffis ist zerstört und dann sich selbst überlassen worden. Wie kann es sein, das beispielsweise die USA in der Venezuela-Krise auch aus humanitären Gründen damit droht, militärisch einzugreifen, es aber bezüglich der Situation in Libyen von keiner Seite Ambitionen gibt, dieses Elend zu beseitigen, das man teilweise ja selbst angerichtet hat?

Ein internationaler Militäreinsatz hatte das Regime in Libyen 2011 vertrieben. Aber die Strategie, erst zu zerstören und sich dann zurückziehen, hat maximales Chaos hinterlassen, als die Koalition, als Briten, Amerikaner und Franzosen zum Zwecke der Unterstützung der Aufständischen gegen Gadaffi Libyen bombardierten und dann verschwanden.

Paula Palacios hat sich nun acht Jahre später direkt an Ort und Stelle umgeschaut und berichtet, was ist. Und es ist schrecklich. Aber es ist sicher kein Auftrag an europäische Nichtregierungsorganisationen, vor der nordafrikanischen Küste auf Schlauchboote zu warten und damit das Geschäft der Schlepper zu vollenden.

Dieser Wahnsinn muss ersetzt werden von internationalen Anstrengungen, ob nun auf Basis diplomatischen oder militärischen Engagements in der Region. Es muss nur eines: es muss endlich passieren.

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Kommentare ( 74 )

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74 Comments
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Michael Sander
4 Jahre her

Ja, es ist grauenvoll, das menschliche Elend auf diese Weise mitzuerleben. Und dennoch bleibt uns nichts anderes, als die Pull-Faktoren zu stoppen, indem man den NGO Schiffen und damit den Schleppern das Handwerk legt. Wir bekommen ja nicht mal ansatzweise die eigenen Probleme gelöst – welch eine Hybris zu glauben, wir könnten in Libyen oder ganz Afrika für Ordnung sorgen. Alles was der verlogene humanitäre Imperativ der Europäer bisher gebracht hat, ist, dass wir uns die Probleme Afrikas ins eigene Land importiert haben.

Josef K.
4 Jahre her

Frage 3 kann ich beantworten. „– Wieso gab es diese Massenwanderungen zum Mittelmeer nicht vor Jahrzehnten, als es in vielen Ländern Afrikas deutlich mehr Elend gab?“ Seit die Diktatoren in Nordafrika durch den Arabischen Frühling beseitigt wurden. Muammar al-Gaddafi hatte davor gewarnt, dass Flüchtlinge kommen würden. Aber nachdem er die eigene Bevölkerung bombardiert hatte, preschten die Engländer, Franzosen und die USA vor, wollten was Gutes tun und haben Gaffafi aus dem Amt gebombt. Danach setzte sich die Schleusermaffia in Nordafrika fest. Das hätte aber Frankreich und England nicht weiter bewegt. Wer aufmerksam ist, der weiß, dass weder die Spanier unter… Mehr

Wolfgang Schuckmann
4 Jahre her
Antworten an  Josef K.

Merkel ist eine Katastrophe für Deutschland u. Europa, mehr nicht!

hoho
4 Jahre her

Gutmenschentum ist nichts vorzuwerfen. Nun allen diesen Menschen die Schlepper NGOs unterstützt muss irgendwann klar werden was sie da tun. Ich meine zB Statistiken der Ertrunkenen die wirklich erschreckend sind – wenn man hilft und den Leuten schlechter geht da muss jemand eine Frage stellen ob die gewählte Art der Hilf Sinn macht, oder etwa nicht? Militäralter Männer die da zu uns strömen sind auch keine Flüchtlinge oder doch? Da gibt es auch diese andere Rechnung – wenn man Leuten vor Ort helfen möchte ist das effektiver als eine Wohnung in Köln, Duisburg oder Berlin zu finden und so Leute… Mehr

Kaenguru
4 Jahre her

Besteht für den mündigen Bürger eine Informationspflicht? Bewältigt er diese Rechenaufgabe? Ist der Bürger in der Lage einem einheitlich medialem Störfeuer, dem Ablenkungsmanöver, dem ständigen „auf die falsche Fährte führen“ mit Realitätsinn zu begegnen? Zugegeben, eine etwas kniffelige Aufgabe. Er müsste sich mit extremer Chuzpe und ziemlich frech am Fernsehen vorbei Fragen Stellen, wie: – Seit wann haben wir denn diese Zustände im Mittelmeer? – Gibt es in Afrika Smartphones? – Wieso gab es diese Massenwanderungen zum Mittelmeer nicht vor Jahrzehnten, als es in vielen Ländern Afrikas deutlich mehr Elend gab? – haben Kanzlerinnen Selfies Einfluss auf Wanderungsbewgungen, selbst für… Mehr

Britsch
4 Jahre her
Antworten an  Kaenguru

Vielleicht sollte man sich auch einmal dafür interessiern ab wann bzw. von wann bis wann in Afrika und dem Nahen Osten die Werbefilme Deutscher Staatlichen Stellen verbreitet wurden, als Asylbegehrer nach Deutschland zu kommen.
Entschuldigung, Werbefilme ist dafür ja nicht die erlaubt korrekte Bezeichnung, das waren ja Informationsfilme wie zuvorkommend man in Deutschland empfangen wird, was einem zusteht und zu welchen Behörden man muß um zu bekommen, was man will.

PUH
4 Jahre her

Was soll denn bitte passieren? Dass die Nordafrikaner morgen früh aufwachen aus ihrem Jahrtausendschlaf und sich verwundert und erfreut die Augen reiben in ihren über Nacht hergezauberten weltoffenen, demokratischen Ländern? Dass eine libysche Abordnung am Wochenende Herrn Macron in Paris inständig bittet, als Kolonialmacht wieder für geordnete Verhältnisse zu sorgen? Dass den Menschenhändlern an Pfingsten der Heiland höchstselbst erscheint und ihnen die Nächstenliebe in die Herzen pflanzt? Das sind Shithole-Countries, in denen entweder Diktatur oder Sippenchaos herrscht, beides im Sinne und nach den Maßgaben des Propheten, beides zutiefst korrupt und menschenverachtend. Einzig zuverlässig ist absehbar, dass die Migration weiter anschwellen… Mehr

Pegg Ida
4 Jahre her

Ebenfalls im ARTE-Programm https://www.arte.tv/de/videos/087323-000-A/frankreich-im-schlauchboot-nach-dover/
Und was will ARTE uns demnächst für Ü18 Geschichten auftischen, weshalb sie von Frankreich nach England ‚fliehen‘ ‚mussten‘?

Pegg Ida
4 Jahre her

Ich habe den Film mehrfach angeschaut und halte ihn an vielen Stellen für unglaubwürdig! Die Narben der Frau stammen von Säure oder heißem Wasser und es wird überhaupt nicht verraten, was ihr passiert ist (Unfall? Eifersüchtiger Ehemann?). Statt dessen wird dem Zuschauer suggeriert, es käme von Schlägen oder Elektroschocks (allein wie ihre Beine gezeigt werden, wobi sie sich für mich entlarvt haben)! Ich kann das und anderes nicht beweisen und will den Film gar nicht zerreden, gleichzeitog habe ich keine Lust, mich veräppeln zu lassen!

Kaenguru
4 Jahre her
Antworten an  Pegg Ida

Nein, alles echt. Kein Schwarzer Kanal, kein Framing. 🙂

Die extreme Vielfalt in unseren Medien, die alles von jeder Seite beleuchtet und hinterfragt ist legendär.

Stefferl
4 Jahre her

Man sollte sich auch noch vor Augen führen, warum Libyen überhaupt destabilisiert wurde. Treibende Kraft waren die Franzosen. Die sind nämlich bei der Verteilung des libyschen Öls zu kurz gekommen und sie hatten sich erhofft, dass sie bei einer neuen, durch Europa inthronisierten, Regierung nun zum Zug kommen. Hat allerdings nicht geklappt.

Stefferl
4 Jahre her

Meiner Ansicht nach gibt es mehrere Ursachen für diese Migrationsentwicklung. Eine davon ist mit Sicherheit die, dass wir mit missionarischem Eifer versuchen jeder Gesellschaft ein demokratisches System aufzudrücken, selbst wenn diese Gesellschaft gar nicht dazu in der Lage ist, mit den dazugehörenden Freiheiten umzugehen. Es gibt nunmal Gesellschaften in Nordafrika und dem Nahen Osten, die einen starken Mann an der Spitze brauchen, der das Land mit einer gewissen Repressivität führt, dafür aber stabil hält. Was nutzen einem Menschen vermeintliche Freiheiten, wenn das Land in Kriminalität versinkt? Nachdem der Westen mit imperialistischem Gehabe sämtliche Regime in diesen Gegenden vernichtet hat, sind… Mehr

Britsch
4 Jahre her
Antworten an  Stefferl

Sehr gut die Realität dargestellt

Oblongfitzoblong
4 Jahre her

Was geschieht eigentlich, wenn ich mit einem Schlauchboot, es nicht seetüchtig ist, bei Cuxhaven in See steche und mich dadurch in Seenot bringe? Kann ich dann von dem mich rettenden Schiff verlangen, dass es mich an meinen Wunschort New York bringt?

Britsch
4 Jahre her
Antworten an  Oblongfitzoblong

Da sollten Sie dann vorher aber die NGO s informieren, daß sie das tun / sich in Seenot begeben, daß diese mit Ihren Schffen zur Seenotrettung auch vor Ort sind und Sie auf offener See erwarten.